Читать книгу Tod im ewigen Eis - Hans Säurle - Страница 16
IX
ОглавлениеDas Wasser des Sees war warm, die Sonne schien kräftig und die Blüten der Bäume verwandelten das ganze Tal in eine Oase des Lichts und des Friedens. Die Tiere schienen fröhlicher als in den Wochen zuvor durch die Gegend zu springen und auch die schneebedeckten Berge in der Ferne sahen mit ihren weißen Spitzen irgendwie festlich gewandet aus. In den Seen und Tümpeln lebten mehrere Fuß lange Aale, Hechte und Lachse, im Schilfdickicht nisteten Vögel und das Land war bevölkert von zahlreichen Hasen, Rehen und kleinen Wildpferden. Abends mischten sich die Geräusche der Grillen und das Quaken der Kröten und Frösche zu einem Konzert, in das bisweilen die Wölfe mit ihrem Jaulen und Heulen einfielen. Enten, Hasen, Rehe und Schneehühner waren nicht scheu und leicht mit der Speerschleuder zu erlegen.
In dieser schönen Gegend, nicht weit vom See entfernt, entdeckte Hirgelo eine auf einer kleinen Anhöhe liegende Höhle, die einen schönen Blick auf den See bot. Davor lagen einige Pfosten, die als Stützen einer vor die Höhle gebauten Hütte gedient hatten. Früher hatten hier wohl Menschen gelebt, doch die hatten das schöne Tal offenbar schon vor langer Zeit verlassen.
Die früheren Bewohner hatten einiges von ihrer Ausrüstung zurück gelassen. Im hinteren Teil der Höhle fanden die vier Freunde nicht nur trockenes Brennholz, sondern auch einen großen Feuersteinkern, aus dem sie brauchbare doppelkantige Faustkeile und Steinbeile schlagen konnten. Auch scharfe Messer und Speerspitzen fertigten sie an, zudem Pfeile und Bögen. Aus den am Ufer des Sees wachsenden Riedgräsern und Binsen flochten sie bequeme Schlafunterlagen. Sogar angenehm riechende Kräuter wuchsen in der Nähe, die sie unter ihre Schlafunterlagen mischten, nicht nur um ihnen angenehme Träume zu bereiten, sondern auch um lästige Blutsauger wie Stechfliegen und Wanzen fern zu halten.
„Lasst uns im See schwimmen“, rief Hirgelo seinen Kumpanen zu. „Es ist so ein schöner Tag heute.“ Hirgelo hatte sich ausgezogen und war schon ins Wasser gesprungen. „Wunderbar weich und warm ist das Wasser hier.“ Auch Gilger und Öcetim liefen schnellen Schrittes in den See, so dass das Wasser hoch aufspritzte.
Namos schlenderte gemächlich ans Ufer, missgelaunt lief er vom Ufer fort zu einem umgefallen Baumstamm. Dort – in sicherer Entfernung – grollte er insgeheim seinen Kumpels, die anscheinend nur Blödsinn im Kopf hatten. ʼKaum sind wir außer Gefahr, da haben sie schon alle Vorsicht vergessenʼ, schmollte er. Gleichzeitig richtete sich sein Groll auch gegen sich selbst, er wäre gerne auch so ausgelassen wie Hirgelo, Öcetim und Gilger gewesen. Doch seine Art war es nicht, sorgenfrei das Leben zu genießen und sich einfach an dem zu erfreuen, was es gerade um ihn herum gab. Er war irgendwie anders als die Menschen, mit denen er hier in den Bergen fern seiner Heimat zusammen kam, auch im Jagen und Fischen war er weniger erfolgreich als die Anderen. Auch er hätte sich ganz gerne mit seinen Freunden im Wasser gebalgt, sich gegenseitig nassspritzen und untertauchen wollen, doch seine Wesensart hinderte ihn daran.
Sein Blick schweifte über die liebliche Landschaft zu einer Gruppe Fichten. Dort lag ein Geweih, das vermutlich im vergangenen Herbst von einem dreijährigen Hirsch abgeworfen worden war, es hatte kleine rückwärtsgewandte Sprossen. Mit seinem scharfen Flint-Messer machte er sich an die Arbeit. Er trennte die Geweihspitze ab, bohrte ein Loch an ihrem dickeren Ende, zog eine Leine durch es, spießte einen Regenwurm auf seinen neuen Haken und warf die Angel ins Wasser. Wenig später schon hing ein großer fetter Karpfen daran. Mit einem kräftigen Schlag auf den Kopf tötete er den zappelnden Fisch, dann suchte er Brennholz, zündete es mit Hilfe seiner Flintsteine an und grillte den fetten Fisch.
„Das riecht ja köstlich! Ist der Fisch vom Himmel gefallen oder sollte Namos ihn tatsächlich gefangen haben?“, frotzelte Hirgelo.“ Voll Übermut klopften sie ihm anerkennend auf die Schultern, aßen mit großem Appetit den fetten Karpfen und erfuhren erst dann, dass Namos ihn mit einer aus einer Geweihspitze angefertigten Angel gefangen hatte.
„Gute Idee“, stellte Gilger fest. „Das lässt sich ausbauen, ich brauche ein richtig großes Geweih, dann fange ich die größten Fische im ganzen See.“
„Also sollten wir uns bald auf die Hirschjagd machen“, forderte Öcetim.
Die vier jungen Männer hatten zwar noch nie bei einer Hirschjagd mitgemacht, doch aus den Reden der Jäger nachts an den Lagerfeuern hatten sie eine Vorstellung davon, wie Hirschjagden erfolgreich durchzuführen sind. „Wenn wir die Fährte des Herrschers des Waldes gefunden haben, müssen wir ihr nur folgen“, begann Gilger seine Überlegungen.
Am Horizont war eine Rauchsäule zu sehen, senkrecht kräuselte sie sich zum blauen Himmel hoch. Sie registrierten gleichzeitig, dass sie nicht alleine waren in dieser friedlichen Gegend und blickten sich erschrocken an. Hirgelo fand als Erster seine Sprache wieder: „Feuer aus!“ rief er. „Wir müssen nachsehen, wer sich dort aufhält - bevor sie uns entdecken.“
Im Schutz der Dunkelheit erreichten Gilger und Öcetim eine kleine Anhöhe, wo sie den Geruch von gegrilltem Wildfleisch wahrnahmen. Vorsichtig bewegten sie sich weiter, sich hinter jeder sich bietenden Deckung versteckend, bis sie auf einer Lichtung eine aus dünnen Baumstämmen, Ästen und belaubten Zweigen kunstvoll errichtete Hütte erblickten. Dort war eine große Familie versammelt: zwei Männer, zwei Frauen mittleren Alters, eine weißhaarige alte Frau, zwei Buben, die etwas jünger als sie selbst zu sein schienen, und ein Mädchen mit langen blonden Haaren. An der Hütte lehnten große Speere, Bögen, drei Steinbeile lagen daneben. Die Familie ließ sich ein fettes Wildschwein schmecken, lachte und unterhielt sich angeregt miteinander. „Wie das riecht“, flüsterte Öcetim, „Hoffentlich hören die meinen Magen nicht knurren.“
„Das Mädchen würde mir gefallen“, entgegnete Gilger. „Schau nur die schönen Haare – und hübsche Brüste hat sie auch schon.“
“Sich verstecken, weggehen oder den Kontakt mit der fremden Familie suchen, das ist die Frage“, fasste Namos ihre Möglichkeiten zusammen, nachdem die beiden Späher Bericht erstattet hatten.
„Mir gefällt es hier“, sagte Hirgelo. „Sie wissen nichts von uns, sie haben keine Wachen aufgestellt. Also überfallen wir sie“, schlug er vor.
„Aber das blonde Mädchen töten wir nicht“, warf Gilger ein.
„Vorsicht ist immer besser als unüberlegtes Drauflosschlagen. Lasst uns auf der Hut sein, und jede Nacht eine Wache aufstellen“, versuchte Namos den wilden Übermut seines Freundes zu zügeln.
„Wir sollten mehr über sie wissen, woher sie kommen, ob noch mehr Menschen in der Nähe sind, ob sie auf Wanderschaft sind“, riet Öcetim. So diskutierten die vier Freunde die halbe Nacht, bevor sie sich die restliche Nacht in Schichten aufteilten, um Wache zu halten.
„Ich gehe nochmals zu ihrem Lager, allein“, sagte Öcetim mit Bestimmtheit. „Wir müssen mehr über sie erfahren.“ Schon vor Mittag kam er wieder zurück und berichtete über seine Eindrücke: „Es scheinen friedliche Leute zu sein, sie haben kein festes Haus, es sieht aus, als wären sie noch nicht lange hier.“
„Sich auf Dauer verstecken, das mag ich nicht, Weggehen kommt auch nicht in Frage, also doch Kontakt mit der fremden Familie suchen?“
„Aber dann nur mit einem Gastgeschenk“, warf Gilger ein. „Ein Reh für die Familie“, schlug Hirgelo vor.
„Und ein paar schöne Federn für das Mädchen“, ergänzte Gilger.
Öcetim und Gilger schritten auf die fremde Familie zu, während Hirgelo und Namos mit gespannten Bögen im Hintergrund Waffenschutz gaben. Einer der beiden fremden Jungen bemerkte sie zuerst und schlug Alarm, die beiden Männer griffen sofort zu ihren Speeren, die Frauen nahmen ohne zu zögern die Steinbeile in ihre Hände und die beiden Jungen ergriffen Pfeil und Bogen, die Alte und das Mädchen verschwanden rasch in der Hütte. „Wir kommen als Freunde“ sagte Öcetim und legte das kleine Reh auf den Boden, während er hoffte, dass man das Zittern in seiner Stimme nicht bemerken würde. Gilger, dem das Herz bis zum Hals schlug, bückte sich und steckte dem Reh die Federn in die Ohren, was das kleine Tier sehr niedlich aussehen ließ.
Die Buben senkten ihre Pfeile, die Frauen nahmen eine etwas entspanntere Haltung an, doch die Männer hielten ihre Speere wurfbereit in ihren Händen. „Waffen runter, ihr da hinten“, rief einer der beiden Hirgelo und Namos zu. Diese lockerten die Spannung in den Sehnen ihrer Bögen, senkten die Pfeilspitzen Richtung Boden und traten vorsichtig aus dem Wald heraus.
„Die Götter mögen mit Euch sein. Wir sind keine Räuber.“ Bei diesen Worten versuchte Gilger ein Lächeln. Der größere der beiden Männer lächelte zurück und beide senkten ebenfalls ihre Speere. „Willkommen in unserer bescheidenen Hütte.“
„Wir haben noch ein wenig Wildschwein, köstlich gebraten und mit süßen Wurzeln und Sellerieknollen gefüllt. Frau, hol das Essen für unsere Gäste“, ergänzte der andere Mann. Die in einen mit kleinen Stickereien verzierten Umhang gekleidete Frau bückte sich nach dem geschmückten Rehkitz, häutete es ab und briet es über dem Feuer.
Der Duft des gebratenen Rehs stieg den vier hungrigen Freunden in die Nase und der Speichel lief ihnen im Mund zusammen. Sie setzten sich um das Feuer, bald schon entspann sich ein angeregtes Gespräch. Die vier jungen Männer erzählten über die Mine, ihre Flucht von dort und über ihre anderen Abenteuer. Die Familie berichtete, dass sie ursprünglich aus einer sumpfigen, ehemals wildreichen Gegend komme. Viele Menschen ihres Stammes hatten dort gelebt, die jagdbaren Tiere aber hatten sich verzogen. Aus Nahrungsmangel war es häufig zu Streit gekommen, eine Familie mit drei kleinen Kindern sei vor Kurzem im Streit um ein Reh totgeschlagen worden. So hätten sie entschieden, diese zerstrittene Gruppe zu verlassen.
Auf ihrer Reise in Richtung der aufgehenden Sonne kamen sie in ein schönes weites Tal, wurden aber von den dort siedelnden Menschen unfreundlich aufgenommen. Dieses Volk – sie nannten sich Rumedullu - lebe straff organisiert in einer großen Gemeinschaft, mit einer kleinen Oberschicht, die sich von den Übrigen aushalten lasse und streng über ihre Vorteile wache.
Als Fremdlinge mussten sie immer wieder den höher gestellten Familien Knechtsdienste leisten. Die Frauen dort hätten fast keine Rechte, die Männer würden über sie nach Belieben verfügen. Ihrer Tochter, De Thuate, sei ihrer blonden Haare wegen von den Männern dort dauernd nachgestellt worden. Sie waren deshalb weiter gezogen. Ein paar Tage folgten sie dem in Richtung Sonnenaufgang fließenden Strom. Doch da die Gegend immer sumpfiger wurde, folgten sie einem großen Nebenfluss, später dann einem kleineren Fluss und erreichten vor drei Tagen dieses schöne Tal, hier wollten sie bleiben.
Beim Essen herrschte eine freundliche und vertrauensvolle Atmosphäre. Momola, so hieß die nicht mehr ganz junge, aber immer noch schöne Frau mit ihren langen schwarzen Haaren, holte einen Krug mit vergorenem Saft aus Wildäpfeln, aus dem alle der Reihe nach tranken. Alle freuten sich, wieder mit anderen Menschen zusammen zu treffen, mit Menschen, die offenbar nicht beabsichtigten, sie zu hintergehen, zu bestehlen oder gar zu töten.
Die jüngere der Frauen brachte eine Trommel und eine kunstvoll geschnitzte Flöte, aus diesen beiden Instrumenten zauberten Momola und De Thuate fröhliche Melodien hervor. Manche waren auch Hirgelo, Öcetim und Gilger bekannt, so dass sie mitsummten. Besonders laut, aber nicht unbedingt schön, sang Hirgelo, der sich dicht neben De Thuate gesetzt hatte. Spät am Abend nahmen sie Abschied von dieser sympathischen Großfamilie, nicht ohne sie zu einem Gegenbesuch in ihrer Höhle eingeladen zu haben.
„Wir werden ihnen Hirschbraten anbieten“, meinte Gilger großspurig. „Auf die Lichtung am kleinen See kommt jeden Morgen ein Rudel; das wird von einem gewaltig großen Bullen angeführt – mindestens ein Zwölfender muss das sein.“