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II

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Etwas Besonderes schien in der großen Siedlung vor sich zu gehen. Viele Menschen bewegten sich auf den Straßen und Plätzen, die meisten waren gut gekleidet, viele hatten Kleider aus gewebten Stoffen, nicht wenige trugen hübsche Halsbänder um ihren Hals mit Steinen in leuchtenden Farben. Viehherden und Getreide waren in diesem Jahr gut gediehen, dafür opferten die Menschen in einem großen Dankfest den Göttern einen Teil der Feldfrüchte, Ziegen und Schafe. Sie verbanden damit die Bitte auf eine gute Ernte und den Erhalt ihrer Viehbestände im kommenden Jahr. Opferplätze wurden aufgebaut, Getreide aus den Speicherkammern herangeschafft und Tiere in Pferche getrieben.

An zentralen Plätzen hatten sich Gruppen von Musikern postiert. Sie bliesen ihre aus Knochen gearbeiteten Flöten und die aus den Stängeln der Engelwurz gefertigten dicken Blasrohre und schlugen ihre Rasseln und Trommeln in einem drängenden wilden Rhythmus. Die Musikergruppen wetteiferten miteinander, und die Menschen spendierten ihnen einen Becher Pastosaako nach dem anderen.

Öcetim legte seine Scheu ab. Nach der langen Zeit der Einsamkeit berauschte sich der junge Mann an dem Lärm, genoss die Ausgelassenheit und das wilde Treiben. Der stampfende Rhythmus ging ihm in die Beine und er bewegte sich im Takt der Musik. Nicht weit von ihm wurde Pastosaako ausgeschenkt und er verspürte große Lust auf dieses süffige Getränk.

Öcetim erinnerte sich, auch in seinem Heimatdorf hatte es dieses Getränk gegeben, das den Geist beschwingte. Pastosaako gab es allerdings nur, wenn die ungefähr daumengroßen gelblichen Wurzeln zu finden waren, aus denen dieser leckere Trank gemacht wurde. Die Wurzeln wurden gekocht, dann von den Frauen gekaut und dabei mit ihrem Speichel vermischt und wieder ausgespuckt. Die dicke Flüssigkeit wurde mindestens drei Tage lang in einem Gefäß aufbewahrt, je länger sie dort lag, desto stärker konnte der Pastosaako den Geist anregen. Öcetim hatte dieses Wohlgefühle erzeugende Getränk geliebt.

Einer Frau hinter dem Tresen fiel der Junge mit dem dichten schulterlangen Haar und den dunkelbraunen Augen auf. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Sie winkte Öcetim zu ihrem Stand und schenkte einen Krug für ihn ein. Doch bevor sie ihn Öcetim reichte, hob sie einen Finger in die Höhe. Öcetim schaute sie verständnislos an. „Einen Rad kostet der Krug“, meinte sie.

„Einen Rad? Was ist denn das?“

„Du bist wohl neu hier? Kann man ja auch sehen…“, amüsierte sie sich über den großen Jungen. „Einen Rad musst du mir geben für einen Becher Pastosaako, normalerweise. Aber weil Du so ein hübscher junger Mann bist, bekommst Du diesen Krug heute ausnahmsweise von mir geschenkt.“

„Die Götter mögen immer gnädig mit Dir sein“, bedankte sich Öcetim und setzte den Krug an seine durstigen Lippen. „Schmeckt gut, nicht wahr?“ lächelte ihn die Frau an.

Öcetim nickte und wischte sich den Schaum vom Mund. „Wunderbar, wie der Saft der Göttinnen“, entgegnete ihr Öcetim, in dem er einen Trinkspruch seines Vaters benutzte. Den hatte er zwar nie verstanden, aber er erinnerte sich, dass die Leute dann immer gelacht hatten.

„Schau, das ist ein Rad, er ist mit einem besonderen Zeichen aus Lehmerde gebrannt, speziell für diese Tage des großen Opferfestes. Du kannst eine ganze Hand voll Rad eintauschen gegen ein lebendes Huhn oder gegen drei geschossene Enten, für ein Schaf bekommst Du sogar einen Mond voll Rad“, erklärte sie, indem sie ihm die Finger ihrer beiden Hände insgesamt drei Mal zeigte. Öcetim lächelte ihr freundlich zu, verstanden hatte er sie allerdings nicht. Doch wusste er nun, dass er Rad brauchte, um Pastosaako kaufen zu können. Er trank seinen Krug aus, gab ihn der Verkäuferin mit einem unsicheren Lächeln wieder zurück und ging zu einer der Musikgruppen.

ʼDas ist wirklich berauschend schönʼ, dachte er. ʼAber was mache ich hier, ohne Rad? Ob’s besser wäre, zurück in den Wald zu gehen, um erst mal zu schlafen? Morgen ist auch noch ein Tag, dann wird man ja sehen…ʼ Tief drinnen im Wald suchte sich Öcetim einen Schlafplatz, konnte aber nicht schlafen, er war ganz verwirrt. Noch nie hatte er so viele Menschen gesehen, und so ein riesiges Fest hatte er sich gar nicht vorstellen können.


Am nächsten Morgen ging Öcetim schon früh auf Entenjagd. Anschließend wusch er sich besonders gründlich und zog sich sorgfältig an. Er versteckte seine Speere und einen Großteil seiner Ausrüstung in einer Baumhöhlung, sein scharfes Feuersteinmesser steckte er an seinen Gürtel. So gerüstet ging er erneut in die große Siedlung. Schon vor Mittag war es laut und bunt und der Pastosaako floss in Strömen. Auf den Opferplätzen wurden Tiere geschlachtet, aus deren Innereien weise Leute die Zukunft lasen. Nachdem er seine Enten eingetauscht hatte, ging er wieder zu dem Pastosaakoausschank, wo er tags zuvor schon gewesen war. „Einen Krug Pastosaako bitte“, bestellte er.

„Aber gerne“, lächelte ihn die Verkäuferin an.

„Schwer was los hier“, begann ein Mann mittleren Alters ein Gespräch mit ihm. „Neu hier in der Gegend?“

„Ja, ich komme von weit her. Tolles Fest hier, und so viele Menschen.“

„Ja, hier gibt es alles – und man kann alles haben, was das Herz begehrt. Pastosaako, Kleider, Waffen und sogar so manche hübsche Frau“, erklärte ihm sein Gesprächspartner. „Ich heiße übrigens Celso und komme von der Mine. Darf ich Dich zu einem Pastosaako einladen?“

Öcetim hatte gerade ablehnen wollen, als schon ein Krug Pastosaako vor ihm stand. „Du kennst die Mine nicht?“, fragte der kahlköpfige Celso und bestellte ungefragt zwei weitere Pastosaakos. Mit listig blitzenden Augen fuhr er fort: „Die Mine ist nicht weit von hier, da leben und arbeiten viele Menschen, sie holen wertvolle Erze und Steine aus der Erde.“

„Sind das die Steine, mit denen sich die Leute schmücken? Wozu braucht man denn Erze?“

„Ja, solch schöne Steine sind das, besser aber noch ist das Erz. Dafür geben Dir manche Leute alles was Du willst.“ Öcetim schluckte und schaute Celso verwundert an, denn er konnte sich unter „Mine“ und „Erze“ noch immer nichts Konkretes vorstellen. „Hier, Dein Pastosaako, Öcetim, auf die Mine und das Erz.“

Öcetim fühlte sich geschmeichelt, mit einem so erfahren Mann reden zu können, obwohl er vieles nicht verstand. Weil er noch viel mehr erfahren wollte, und da sich ihm so eine Gelegenheit so bald wahrscheinlich nicht mehr bieten würde, begann er stockend: „Die Mine…, aus der Mine, die nicht weit von hier ist, holen die Menschen Erze. Was aber sind Erze? Und warum bekommt man dafür alles was man will?“

„Weil sich aus dem Erz ein ganz besonderes Material gewinnen lässt, woraus geschickte Leute Beile und Dolche machen können, die viel besser sind als die aus Stein“, antwortete ihm der glatzköpfige Celso. Öcetim hatte so etwas noch nie gehört und konnte sich Messer und Beile aus diesem ganz besonderen Stoff auch nicht vorstellen. Von jeher wurden Messer, Äxte, Beile und alle anderen Werkzeuge und Waffen aus Feuerstein gemacht. Was sollte nun bloß mit diesem anderen Stoff sein?

„Schau Dir diese zwei hübschen Dinger an, wie die mit ihren Ärschlein wackeln.“ Der Glatzkopf deutete auf zwei hübsche junge Frauen, die gerade am Ausschank vorbei schlenderten. Mit diesen Worten lenkte er Öcetims Aufmerksamkeit auf andere Dinge. „Das ist es, wofür es sich zu arbeiten lohnt.“ Öcetim verstand ihn nicht recht und schaute Celso verdutzt an. „Auf Junge, noch ein Pastosaako!“ Celso bestellte nochmals zwei weitere Krüge. „Auf die Frauen“, prostete er Öcetim zu.

„Wie schon gesagt, für Erz bekommt man alles was man will“, nahm Celso den Gesprächsfaden wieder auf. „Alles!“ und damit deutete er erneut auf die beiden jungen Frauen.

„Wie kommt man zur Mine und was arbeiten die Menschen dort?“ wollte Öcetim von ihm wissen.

„Es sind nur drei Tagesmärsche bis dahin. Und die Arbeit: naja, sie ist nicht leicht, man muss kräftig sein und ausdauernd arbeiten können. Aber es gibt immer genügend zu essen und Du kannst etwas verdienen, Rad zum Beispiel.“

„Kräftig bin ich und ausdauernd arbeiten kann ich auch“.

Das war genau das, worauf Celso hinaus wollte.

„Wenn Du willst, kannst Du mit mir kommen. Übermorgen schon werde ich mit ein paar anderen Jungen in Deinem Alter dorthin aufbrechen. Wir sehen uns…“

Im Vertrauen auf eine gesicherte Zukunft, auf eine Gemeinschaft mit anderen Menschen, auf einen Platz, wo er arbeiten und leben und vielleicht auch seine Stelle im Leben finden könnte, sagte ihm Öcetim zu. Nachts in seinem Waldlager aber gingen ihm wirre Gedanken durch den Kopf. Im Traum stapfte er durch kniehohen Schlamm, dann war er in einer dunklen Höhle eingesperrt, später kämpfte er sich durch Eis und Schnee, immer wieder fallend und beinahe im tiefen Schnee versinkend, während hungrige Wölfe ihn gierig umrundeten.

Am nächsten Morgen brummte sein Schädel. An seinen Traum konnte er sich nur noch schemenhaft erinnern, doch er schien ihm ein Zeichen zu sein, besser nicht mit Celso zu den Minen zu gehen. Öcetim grübelte, wälzte die verrücktesten Ideen in seinem Kopf, konnte sich aber nicht entscheiden. Auch wenn er sich immer wieder einzureden versuchte, dass ein Besuch in der Mine ja nicht schaden könne, er diese ja zu jeder beliebigen Zeit wieder verlassen könne. Irgendein böser Geist des Zweifels nagte an ihm.

Auf seinem Weg in die Siedlung tauchte Celso plötzlich vor ihm auf. „Du schaust nicht zufrieden aus. Was bekümmert Dich, mein Freund?“ Celso schaute ihm neugierig in die Augen. „Kann ich Dir irgendwie helfen?“

ʼDen wahren Grund kann ich ihm nicht nennen,ʼ dachte Öcetim und antwortete: „Es ist ein tolles Fest, alles was man begehrt ist hier zu haben. Pastosaako, gutes Essen – und Frauen.“ Öcetim bemühte sich wie ein erfahrener Mann zu wirken, großspurig tönte er. „Nur gibt es nichts umsonst, alle wollen die komischen Rad haben.“

Celso nickte bestätigend, drängte ihm mehrere Krüge Pastosaako auf und schließlich gelang es ihm, Öcetim das Versprechen abzunehmen, sich mit ihm am nächsten Morgen zu den Minen aufzumachen.

Tod im ewigen Eis

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