Читать книгу Tod im ewigen Eis - Hans Säurle - Страница 6

Prolog

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Bisher hat er ihnen entkommen können, doch sie brauchten nur seinen Spuren zu folgen, mehrfach haben sie ihn fast eingeholt. Drei dick vermummte Gestalten sind es, das hat er klar sehen können, erkennen aber kann er sie nicht.

So lange als möglich hat er versucht, im Wald zu bleiben, um nicht gesehen zu werden. Doch irgendwann musste er die Baumgrenze überschreiten und nun ist er in großer Höhe unterwegs. Auf den freien Flächen beschleunigt er seinen Schritt und trotz der dünneren Luft kommt er gut voran. Aus dem Schneefall ist inzwischen ein Schneesturm geworden, das ist gut, denn Schnee und Wind decken seine Spuren zu. Der eisige Wind treibt ihm die harten Schneekristalle direkt in Augen und Gesicht, er achtet nicht darauf, konzentriert sich auf seinen Weg. Sein Vorteil ist, dass er sich auskennt, er hat diesen Pass schon mehrfach überschritten. Öcetim denkt an die Wanderungen mit den Schafen in diesen eisigen Höhen, hin zu den saftigen Weiden auf der anderen Seite.

Da er seine Verfolger schon lange nicht mehr gesehen hat, wagt er eine Rast einzulegen. Er ist müde und hungrig, seine rechte Seite schmerzt bei jedem Atemzug. In einer mit vom Wind verkrüppelten Sträuchern bewachsenen Senke sucht er Schutz vor dem Schneesturm, legt seinen Bogen und den Glutbehälter ab, setzt sich und verschlingt gierig seinen Proviant. Er ist froh, dass ihm seine Frau so viel eingepackt hat: getrocknetes Steinbock- und Hirschfleisch, Dinkelfladen und sogar Ziegenkäse, den sie so schmackhaft zubereiten kann.

Öcetim streckt sich, schaut über den Rand der Senke. Da er auf der weiten weißen Fläche noch immer niemanden sieht, hofft er, dass seine Verfolger bei diesem scheußlichen Wetter aufgegeben haben. Prüfend wiegt er sein Kupferbeil in der Hand, befühlt die in seinen Lendenschutz eingenähten Goldklümpchen, tief zieht er die kalte Luft in die Lunge und wärmt seine kalten Finger über dem Glutbehälter.

Bei einem Schusswechsel am Tag zuvor war die Entfernung zu groß gewesen. Sie hatten ihn nicht getroffen, aber auch seine Pfeile hatten ihre Ziele verfehlt. Diese Pfeile fehlen ihm, er muss sie dringend ersetzen. Glücklicherweise wächst in Reichweite ein schöner weißer Strauch mit kerzengeraden Trieben. Mit seinem Steindolch schneidet Öcetim gleich ein Dutzend davon ab, entrindet und kerbt sie ein, später würde er die Klingen einsetzen und die Schäfte glätten. Dazu ist jetzt keine Zeit, er muss weiter, den Pass noch heute bezwingen, die Verfolger abschütteln. Er darf sich nicht aufhalten lassen, er hat eine Aufgabe zu erfüllen.

Die kurze Rast und das Essen haben ihm gutgetan. Öcetim macht sich auf, verlässt die schützende Senke, steigt höher, erreicht das Gebiet des Gletschers. Immer wieder blickt er zurück, auf der weißen Fläche kann er schemenhaft nur ein paar Gämsen erblicken.

Die Verfolger haben sich getrennt, einer ist schon vorausgeeilt. Schneller und kräftiger als die beiden Anderen will er unbedingt der Erste sein, die Sache alleine zu Ende führen. Die zwei anderen Verfolger quälen sich im Schneesturm keuchend weiter den Berg hinauf, sich nur selten eine Rast gönnend, auch sie wollen Rache nehmen.

Auf dem Gletscher kommt Öcetim nur langsam voran, vorsichtig setzt er seine Schritte. Immer wieder muss er innehalten. Gerade als er nach einer kurzen Pause seinen Aufstieg fortsetzen will, spürt er einen heftigen Schmerz in der linken Schulter. Ein Pfeil hat ihn getroffen. Öcetim fällt, sein Kopf knallt gegen einen Felsbrocken. Der Schmerz ist brennend, stark, Öcetim fühlt das warme Blut auf seinem Rücken und auf seinem Gesicht, seine Sinne schwinden. Er ahnt, dass er sterben wird, sieht Bilder von seiner Familie, sein ganzes Leben zieht an ihm vorbei. Er hat viel gesehen, viel erlebt und viel erfahren. Doch wie es weiter gehen wird mit ihm, nach seinem Tod, das weiß er nicht. Er riecht Blumen und Wind, bedauert, dass er den Aufgang der Sonne und den ewig sich wandelnden Mond nicht mehr sehen kann.

Sein Mörder geht auf ihn zu. Er ist alleine, steht noch eine Weile neben dem Sterbenden, genießt seinen Triumph und hat gleichzeitig das Gefühl, dass jetzt etwas Unerwartetes geschehen müsste. Doch nichts geschieht, nur der Wind heult. Dann macht er sich an Öcetims sterbendem Körper zu schaffen, durchsucht seine Gewänder. Endlich fühlt er in Öcetims Lendenschurz, wonach er gesucht hatte. Mit klammen Fingern reißt er das feine Leder auf, greift nach den kleinen Steinen, betrachtet und befühlt sie. Vorsichtig steckt er sie ein, als ob sie Schaden nehmen könnten. Mehr interessiert ihn nicht.

So plötzlich wie der Sturm gekommen war, so schnell hat er sich auch wieder gelegt. Schon kreisen die ersten Geier in der Luft. Als die beiden Männer schon ganz nahe an der Felsrinne sind, erkennen sie nur einen dunklen Fleck in einer Mulde. Langsam kommen sie näher, ihre Herzen klopfen schnell, nicht nur wegen der Höhe, es ist die Anspannung, die Angst, dass der Alte plötzlich aufstehen und sie angreifen könnte.

Es kostet sie Überwindung, Öcetim zu berühren. Ein seltsamer Schauer durchläuft die beiden vermummten Gestalten, trotz ihrer dicken Fellmäntel rinnt ihnen kalter Schweiß über den Rücken. Der ältere der beiden dreht den Leichnam auf den Bauch und zieht vorsichtig an dem Pfeil, der in Öcetims Rücken steckt. Niemand soll anhand des Pfeils auf den Mörder schließen können. Doch weil sich das Geschoss in der Schulter des Alten verhakt hat, versucht er es nochmals mit einem kräftigeren Ruck. Der Pfeil bricht ab, die Spitze aus Feuerstein bleibt in der Schulter stecken.

Inzwischen schneit es wieder stärker. Wie ein Leichentuch legt sich der Schnee über den Toten. Nach und nach lässt der Schnee ihn ganz verschwinden, füllt die ganze Felsrinne, keiner wird den gottlosen Alten jemals finden. Doch nicht für immer bleibt die Leiche in Eis und Schnee gefangen…

Nach mehr als fünftausend Jahren kommt die Leiche wieder zum Vorschein…

Tod im ewigen Eis

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