Читать книгу Tod im ewigen Eis - Hans Säurle - Страница 8
I
ОглавлениеDie Angst schnürte ihm die Kehle zu, sein Hemd war trotz der Kühle schweißnass. Tote Männer und Frauen lagen neben oder auf ihm, ihn hatte man offenbar übersehen oder auch für tot gehalten. ʼOb es das Ende ist?ʼ fragte er sich.
Nach dem ohrenbetäubenden Lärm war es nun still geworden, nur die Schläge seines Herzens dröhnten laut wie Kriegstrommeln in seinen Ohren, übertönten jedes andere Geräusch. Sein Herz pochte so fest, dass er meinte, es müsse seine Brust zersprengen und überall zu hören sein.
Von allen Seiten waren fremde Krieger gekommen. Mit Speeren und Lanzen hatten sie auf seine Leute eingestochen, die Kinder und Alten mit Keulen erschlagen, die Fliehenden wurden von ihren Pfeilen niedergestreckt. Nur kurze Zeit dauerte dieser gemeine Überfall. Jetzt war fast die ganze Dorfgemeinschaft tot, ein paar junge Frauen waren von den fremden Kriegern verschleppt worden, drei kleine Kinder hatten sie aus den Armen ihrer Mütter gerissen und ihre Köpfe an Felsen zerschmettert, anschließend hatten sie den Müttern die Köpfe eingeschlagen.
Langsam öffnete Öcetim die Augen, schaute sich um. Nicht lange konnte er die furchtbaren Bilder aushalten, schnell schloss er wieder die Augen. Er nahm den Gestank von versengtem Haar, verbranntem Fleisch und brennenden Hütten wahr, den Gerüchen konnte er sich nicht entziehen. Eine innere Stimme flüsterte ihm ein, dass nicht er es war, der dieses Grauen erlebte, sondern dass all das einem Anderen zustieß. Öcetim wollte Gewissheit. Unter großer Anstrengung öffnete er erneut seine Augen und musste in ohnmächtiger Klarheit erkennen: Sein Dorf, seine Familie, seine Freunde, sie sind nicht mehr, alle waren tot oder verschleppt.
Endlich wagte es Öcetim, sich zu erheben. Seine Knie schlotterten, die Beine wollten ihm nicht gehorchen, ihm wurde schwindelig und übel; er musste sich an einen Baum anlehnen. Angewidert vom Gestank suchte er unter den Leichen nach seinen Angehörigen, fand seine Mutter, die im Tod noch sein kleines Schwesterchen an ihre Brust drückte, entdeckte seinen Vater, dessen Kopf zerschmettert war und dem der rechte Arm fehlte. Dann stieß er auf seinen älteren Bruder, auch sein Onkel, seine Tanten und seine Freunde lagen erschlagen im blutdurchtränkten Gras. Seine Schwester fand er nicht.
Angeekelt von diesem Gemetzel und unfähig, auch nur eine Träne zu vergießen, schleppte er sich in den Wald. Trotz seiner Angst vor den unheimlichen Geräuschen, dem Rascheln und Ächzen und Knarzen, hielt er sich dort versteckt. Er hörte das Wispern der Blätter und die Stimmen der Toten, wilde Schatten kletterten von den Bäumen herunter. Gesichter seiner Nachbarn und seiner Familie tauchten auf, kurz nur, um gleich wieder zu verschwinden. Mit klappernden Zähnen wachte er auf und wartete auf die aufgehende Sonne. Endlich konnte er weinen.
Nach drei langen Tagen und Nächten waren ihm die Tränen ausgegangen, er wagte sich seinem Dorf Tocolom zu nähern. Noch immer war der Gestank kaum auszuhalten. Die Toten sollten beerdigt werden, dachte er. Aber er konnte das nicht, es waren so viele, und er war nur ein kleiner Junge. Auch seine Schwester war noch immer nicht da, laut rief er ihren Namen, suchte sie. Doch vergeblich, sie blieb verschwunden. Er hatte niemanden mehr. Öcetim wimmerte leise und wusste, dass er jetzt ganz auf sich gestellt, dass er mutterseelenallein war.
Die Sonne brachte nur einen fahlen Schein zustande, es roch verbrannt, selbst der Wind schmeckte süßlich und widerlich. Öcetim wollte sterben, wollte bei seinen Leuten sein, die jetzt in einer anderen Welt lebten. Es wäre so leicht, einfach nur loslassen, fortfliegen, träumte er vor sich hin. Er legte sich zum Sterben auf den Boden und wartete auf den Tod. Er wollte an einen Ort, wo die Geister wohnen, wo es schön sein soll und es immer ausreichend zu essen und zu trinken gibt; so wurde es von den Alten gesagt. Auch soll es dort keinen Streit geben und keinen Krieg. Seltsame Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, suchten nach Gründen für das fürchterliche Geschehen. Hatten denn seine Familie und die ganze Sippe den Göttern nicht immer ausreichend geopfert? Oder hatten sie vielleicht zu wenige oder die falschen Opfer gebracht?
Doch Öcetim starb nicht, die Todesgötter verschmähten ihn. Jetzt fiel ihm wieder ein, dass er noch für die toten Dorfbewohner sorgen sollte, damit sie nicht unbeweint ins Reich der Finsternis geworfen wurden. Ihr Schmuck und ihre Waffen waren von den fremden Kriegern einfach mitgenommen worden. Dabei hätten die Toten in der anderen Welt diese wertvollen Dinge doch gebraucht. Er kannte natürlich das Begräbnisfeld auf der von Birken umstandenen kleinen Anhöhe, erinnerte sich an große Feuer und dass die Wände der Gräber mit roter Farbe angestrichen wurden. Rot, das war die Farbe des Blutes, das er jetzt überall um sich herum sah. Doch wie sollte er die Toten zu dem Begräbnisfeld schaffen, wie die Gruben ausheben und die Wände rot streichen? Und was wäre sonst noch zu tun? An die vorgeschriebenen Rituale konnte er sich nicht mehr erinnern. Das bekümmerte den Jungen zusätzlich.
Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, saß Öcetim lange bewegungslos auf dem Boden. Schließlich empfahl er die vielen Toten tränenüberströmt allen Göttern, die überall in den Bäumen, Büschen, den Steinen, dem Bach und den Felsbrocken hausten und ihm zuschauten. Vor allem bat er die mächtigsten von ihnen, die launischen Götter der Berge, des Wassers und der Luft, dass die Verstorbenen zu ihnen in ihre himmlischen Reiche gelangen dürfen und nicht als Gunchis wie Totenvögel nachts durch die Lüfte fliegen und ihren Angehörigen Krankheit, Tod und Unheil bringen müssen.
Die Gedanken an seine eigene Zukunft quälten ihn. Er würde weiter leben, doch wo und wie? Müsste er nochmals zurück in sein niedergebranntes Dorf, um Messer, Speere, Beile und andere Waffen zu suchen? Seine Augen wollen das Unglück nicht wieder sehen und seine Nase wollte den Gestank nicht nochmals riechen müssen. Weil er aber diese Dinge brauchte, lenkte Öcetim schweren Herzens seine Schritte zum Dorf und suchte in allen Häusern. Doch die fremden Krieger hatten Messer und Beile, Waffen und Felle, gewebte Tücher, einfach alles mitgenommen. Endlich fand er ein altes Hasenfell, ein paar Stricke aus Tiersehnen und einen Feuersteinkern. Alles nahm Öcetim mit, und als er einen Pyritknollen und trockenen Zunder sah, nahm er auch dies mit, um Feuer entfachen zu können.
Angewidert vom Gestank und dennoch froh über die gefundenen Werkzeuge rannte Öcetim in den Wald, marschierte immer weiter. Seine Füße brannten, seine Haut war aufgerissen von den dornigen Sträuchern, nur fort von hier, weit weg von diesem grausigen Ort.
Er durchwanderte sanft gewellte Landschaften und durchquerte ein Sumpfgebiet, wo er von Mückenschwärmen fast gefressen wurde, bis er endlich ein Gebiet erreichte, wo es genügend Beeren, Buchen und Eichen gab, von deren Früchten er sich ernähren konnte. Auch hatte er viele Rehe und Hirsche gesehen, doch um die zu jagen, brauchte er unbedingt Waffen: Messer, Pfeil und Bogen und Speere.
Das aber war ein Problem, noch nie hatte er Waffen selbst hergestellt, er musste es jetzt einfach versuchen. Mit einem Schlagstein schlug er wie mit einem Hammer aus dem Feuersteinkern ein größeres Stück und ein paar kleine Splitter. Mehrfach versuchte er eine weitere Klinge aus dem Feuersteinkern heraus zu schlagen - so lange, bis er den schönen Feuersteinkern völlig zerschlagen hatte. Immerhin hatte er nun aber ein Messer und drei Speerspitzen.
Vor ihm lag eine mächtige Bergkette, deren Gipfel in der Ferne seltsam weiß schimmerten, die Sonne strahlte auf die mächtigen Berge, alles wirkte schön und sauber dort. Da wird es keine Krieger geben, dort sollte die Welt friedlich sein, hoffte der Junge. Im Bergwald wuchsen große Kastanienbäume, deren Früchte vorzüglich schmeckten. Öcetim fühlte sich wohl in dieser waldreichen Gegend. Zufällig entdeckte er einen Felsvorsprung, dessen Überhang ein schönes Dach bildete. ʼMit ein paar Ästen und Zweigen vergrößert könnte das eine schöne Lagerstätte gebenʼ, murmelte er halblaut vor sich hin. ʼVon dort werde ich gleich beim Aufwachen die Berge mit ihren weißen Spitzen sehen.ʼ
Allmählich fühlte sich Öcetim wieder etwas wohler, er freute sich an der Sonne und den angenehm warmen Tagen. Tagsüber hatte er genug zu tun, er musste seine Nahrung suchen und sich vor wilden Tieren schützen. Abends jedoch, wenn er auf seiner Grasmatte lag, war ihm oft zum Heulen zumute. Dann hörte er die Geräusche des Waldes, nirgends jedoch Laute von Menschen. Wie sehr hätte er sich gefreut über ein Grunzen oder Schnarchen. Keine Geräusche von sich paarenden Menschen, kein Singen, keine Beschimpfungen und kein Streit, er hörte nur seinen eigenen Atem. Sein Blick ging zu den funkelnden Sternen hoch oben am Himmel, aber auch die sagten kein Wort, sie funkelten nur ausdrucklos – ohne ihm irgendeinen Hinweis zu geben.
In der Nacht suchten ihn schreckliche Gespenster heim, Er hörte ihr Kampfgeschrei und hatte das Gefühl, die Geräusche hätten sich gegen ihn verschworen. Nichts konnte er dagegen tun, selbst lautes Schreien half nicht dagegen an, und auch die Ohren zuzuhalten nützte nichts. Er hatte niemanden, an den er sich anlehnen konnte, der ihm Geborgenheit und Wärme hätte vermitteln können.
Endlich fiel er in einen unruhigen Schlaf. Doch mitten in der Nacht wachte er auf, konnte nicht mehr schlafen, der volle Mond hatte ihm mitten ins Gesicht geschienen. Öcetim erhob sich und stieg hinunter zu dem im hellen Mondlicht glitzernden Bach, sein geheimnisvolles Plätschern lockte ihn weiterzugehen. Er folgte dem Wasser flussauf, an einer engen Kurve des Bachs hatten sich alte Knochen und Geweihstücke am Ufer angelagert. Noch nie hatte er sich so weit von seinem Lager entfernt. Nach einer weiteren Biegung wurde der Pfad steiniger und steiler, Öcetim wollte seine nächtliche Wanderung schon beenden, als er von ferne das Rauschen eines Wasserfalls hörte. Von einem überkragenden Felsen fiel klares Wasser in einen kleinen See, dort war es noch heller und irgendwie wurde es Öcetim feierlich zumute.
An den Stellen, wo das Mondlicht auf den See traf, schimmerte das Wasser in einem dunklen Rot. ʼSicherlich wohnt in diesem See eine mächtige Gottheit,ʼ dachte Öcetim bei sich. Er beugte sich über die kristallklare Wasserfläche und sah in den See, ihm war als ob sich dort etwas bewegte. Er sah genauer hin, und tatsächlich, unten am Grund war undeutlich die Göttin des Wassers zu erkennen. Ihre langen blonden Haare schwebten im Wasser, langsam schwamm sie nach oben. Immer deutlicher konnte er ihre silbrig glänzende schlanke Gestalt erkennen, zwischen ihren Fingern und Zehen schimmerten Schwimmhäute, doch ansonsten sah sie aus wie eine richtige Frau. Ihre dunklen Brustwarzen und die Haare auf ihrer Scham waren deutlich zu sehen. Ihm war als lächelte sie ihn an.
ʼOb ich es wagen darf in diesen herrlichen See zu steigen, aus dem mir die Göttin zulächelt?ʼ Die Versuchung war übermächtig, und so sprang Öcetim mit einem Satz in das kalte Wasser. Er schwamm zu der rötlichen Stelle des Sees, wo er die wunderschöne Gestalt gesehen hatte. Weil er aber außer Schlingpflanzen und Algen dort nichts Auffälliges bemerkte, stieg Öcetim nach mehreren vergeblichen Tauchgängen wieder aus dem Wasser.
Enttäuscht stellte er sich unter den Wasserfall, ließ das Wasser auf seinen Kopf fallen, auf seine Schultern, seinen Rücken und seinen Bauch. Er dachte an die schöne Frau im See, fühlte die Gegenwart der Göttin und spürte ihre Nähe. Sein Geschlecht richtete sich auf, und schon nach wenigen Handbewegungen brachte er der Göttin ein spezielles Opfer.
Befriedigt sprang er in das kalte Wasser, tauchte bis auf den Grund, doch die Göttin fand er noch immer nicht. Bekümmert watete er aus dem See ans Ufer, schüttelte sich, sah sich um. ʼTrotzdem,ʼ dachte er, ʼdas ist eine gute Gegend, hier will ich bleiben, ich will die schöne Göttin suchen.ʼ Auf dem Rückweg fand Öcetim zu seiner großen Freude Seifenkraut am Bach wachsen. Damit würde er sicherlich besser riechen, vermutete er, wenn er die sich noch zierend im See versteckt haltende Göttin wieder besuchte.
Diese entzog sich zwar weiterhin seinen lüsternen Blicken, meinte es aber ansonsten gut mit ihm, denn er fand in der Umgebung des Sees Vogeleier, Nüsse und Beeren in Hülle und Fülle. Erfolgreich jagte er Fische, Frösche und Mäuse, mehrmals hatte er Hasen erlegt, einmal auch ein junges Reh. Das war wichtig vor allem wegen der Felle und der Sehnen, die Mägen und Blasen der erlegten Tiere konnte er als wasserdichte Vorratsgefäße nutzen.
Doch oft hatte Öcetim kein Jagdglück, entweder hatten ihn die Rehe zu früh gewittert und waren geflüchtet oder seine Speere hatten das Ziel verfehlt. So musste er wohl oder übel mit kleineren Tieren vorlieb nehmen. ʼWas soll ich nur tun?ʼ fragte sich Öcetim. ʼSee und Bäche werden zufrieren und Fische nicht mehr zu fangen sein, viele Tiere werden sich in Höhlen verkriechen und der Schnee wird alles zudecken, da kann auch die Göttin im See nichts dagegen machen. Ob ich doch weiter ziehen soll, um vielleicht freundliche Menschen zu finden?ʼ
Täglich suchte er nach der Göttin im See und brachte ihr seine speziellen Opfer, doch eine Antwort erhielt er nicht. Öcetim war enttäuscht, schließlich gab er seine Suche auf. Als es kälter wurde und der erste Raureif morgens auf den Gräsern lag, packte er Proviant und seine Sachen zusammen und machte sich auf den Weg. Hoffnungsfroh folgte er dem Bach, der größer und größer wurde und schließlich in einen Fluss mündete. Den konnte er noch durchwaten, den nächsten Fluss musste er schwimmend durchqueren. Nebenbei fing Öcetim Fische, erlegte mit seiner Wurfschleuder Enten und Haubentaucher, fand Preisel - und Blaubeeren, so dass er nur selten auf seinen Proviant zurückgreifen musste.
Aus der Ferne betrachtet stellte der ganz in Leder gekleidete Junge bereits eine stattliche Erscheinung dar. Er war hochgewachsen und breit, größer als die Jungen in seinem Alter. In seine kastanienbraunen Haare waren Muscheln und Federn eingeflochten, sie fielen ihm in sanften Locken bis auf die Schultern, doch bei näherer Betrachtung fielen seine in tiefen Höhlen liegenden dunkelbraunen Augen auf. Sie blickten unruhig umher, auch seine Nasenflügel waren stets in Bewegung als witterten sie überall Gefahr. Über seiner Oberlippe sprossen erste Barthaare und um seinen Mund spielte trotz seiner Jugend bereits ein harter Zug.
Nach vielen Tagen der Wanderung sah er Rauch aufsteigen. Tagelang beobachtete er das Dorf und die Menschen dort, wagte aber nicht, Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Zu tief saß der Schock des Überfalls auf sein Dorf noch in seinem Herzen. Obwohl er sich nach Menschen sehnte, hielt er sich weiterhin versteckt.
Es war ein großes Dorf, viele Felder mit abgeerntetem Getreide und Herden von Schafen, Ziegen und kleinen Rindern lagen um es herum. Leute drängten in die befestigte Siedlung durch das Tor im Palisadenwall. Andere kamen aus der Siedlung heraus, die Menschen dort waren sehr beschäftigt. In seinem alten Dorf hatte es zwar auch viel zu tun gegeben, doch hatten seine Leute viel mehr Muße gehabt, Zeit um nichts zu tun oder einfach nur um beieinander zu sitzen und zu reden. Die herrschende Unruhe kam Öcetim seltsam vor. Da ihm aber nichts Verdächtiges auffiel, nahm er seinen ganzen Mut zusammen und näherte sich vorsichtig dem Dorf.