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4.3Räumliche Disparitäten: ­Verdichtungsräume und ­ländliche Räume

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Die räumliche Diversität gesellschaftlicher Wirklichkeit kann als Legitimation für die geographische Analyse ökonomischer und sozialer Phänomene aufgefasst werden (Sayer 1985; Johnston 1991 a; 1991 b; Massey 1994). Zentraler Ausgangspunkt wirtschaftsgeographischer Studien ist die empirisch gewonnene Erkenntnis, dass unausgeglichene Raumstrukturen bestehen. Räumliche Disparitäten bezeichnen allgemein Abweichungen bestimmter als gesellschaftlich bedeutsam erachteter Merkmale von einer gedachten ausgeglichenen Referenzverteilung (Biehl und Ungar 1995; Stiens 1997). Der Zusatz der gesellschaftlichen Relevanz ist hierbei wichtig, um diejenigen regionalen Unterschiede anzusprechen, die sich auf die als notwendig geschätzte Lebensqualität und die Lebenschancen der Bevölkerung auswirken. Der wirtschaftliche Entwicklungsstand einer Region wird mit zen­tralen Indikatoren, wie z. B. dem Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner, der Arbeitslosenquote, dem Einkommensniveau und der Qualität der Infrastruktur, erfasst. Dennoch sind räumliche Disparitäten nicht notwendigerweise räumlich bedingt. Sie resultieren z. B. daraus, dass wirtschaftliche Produktion nicht überall gleichartig organisiert ist, weil etwa Normen und Gesetze sowie Erfahrungen in verschiedenen Volkswirtschaften unterschiedlich sind und auch auf regionaler Ebene voneinander abweichen. Indus­trielle Ballungen sind in ein bestimmtes regionales Umfeld eingebettet und daraus hervorgegangen. Ihr Entstehungsprozess ist ohne dieses Umfeld oft nicht begreifbar.

Disparitäten können auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen auftreten. Sie können als weltweite Zentrum-Peripherie-Gegensätze erscheinen, in Deutschland als Nord-Süd- oder Ost-West-Unterschiede, als Stadt-Land-Gegensätze oder als Ballungs- und Entleerungsprozesse in unterschiedlichen räumlichen Dimensionen.

Anhand des Gegensatzes von Stadt und Land lässt sich zeigen, dass räumliche Disparitäten das Ergebnis räumlich differenziert wirkender sozialer Prozesse sind. So setzte zur Zeit der Industrialisierung im Zuge einer Landflucht bei wachsender Bevölkerungszahl eine starke Verstädterung ein. Die Sterberate sank (→ Abb. 4.3) aufgrund neuer Erkenntnisse bei der Gesundheitsvorsorge und Krankheitsbekämpfung (Berry et al. 1987, Kap. 3; Bähr et al. 1992, Kap. 5.2). In landwirtschaftlich geprägten Regionen fanden die Menschen in der Folge keine ausreichenden Beschäftigungsmöglichkeiten mehr. Dies galt in Deutschland insbesondere für Regionen mit Anerbenrecht, wie z. B. das Münsterland, während in Regionen mit Realerbteilung, wie z. B. Hessen, zumindest für eine gewisse Übergangszeit die in der Erbfolge verbliebenen Einzelgrundstücke groß genug waren, um eine wachsende Bevölkerung zu ernähren. Im Unterschied dazu gab es in städtischen Gebieten durch die Expansion von Handwerk und Manufakturen eine wachsende Anzahl von Arbeitsplätzen. Hier kam es deshalb zum Zuzug von Menschen aus ländlichen Regionen und aufgrund der wachsenden Bevölkerung entstanden hier die wichtigsten Märkte.


Abb. 4.3 Modell des demographischen Übergangs

Aus der Existenz solcher Disparitäten ergeben sich wichtige Untersuchungsfragen für die Wirtschaftsgeographie: Welche räumlichen und regionalen Disparitäten gibt es und durch welche sozialen und ökonomischen Prozesse werden sie ausgelöst? Um Fragen dieser Art zu beantworten, ist aus wirtschaftsgeographischer Sicht beispielsweise eine Analyse der unterschiedlichen räumlichen Ausprägungen von Unternehmensgründungen und -verlagerungen sinnvoll. Weitergehend könnte man fragen, welche sozialen und ökonomischen Prozesse einen Ausgleich oder eine Verstärkung solcher Disparitäten fördern. Wichtig ist hierbei, die richtige räumliche Maßstabsebene zur Betrachtung der konkreten Prozesse zu wählen, weil ansonsten die interessierenden Disparitäten nicht sichtbar werden. Bei einer Untersuchung sozialer Segregationsprozesse ist beispielsweise die Stadtteilebene als Ausgangspunkt der Untersuchung sinnvoll und nicht das Bundesland.

Resultat räumlich ungleichmäßiger Wirtschaftsprozesse sind räumlich ungleichwertige Lebens- und Arbeitsbedingungen. Diese sind eine Folge von Wechselwirkungen zwischen Kapitalkonzentration, Bevölkerungskonzentration und Lebenschancen. In einer Demokratie wie Deutschland, die auf dem Prinzip der Chancengleichheit beruht, ist es nicht akzeptabel, dass durch räumliche Ungleichheiten unterschiedliche individuelle Entwicklungsmöglichkeiten vordefiniert werden. Deshalb leitet sich in der Bundesrepublik Deutschland aus dem Grundgesetz das Ziel ab, gleichwertige Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu schaffen (Art. 72 und Art. 106, Abs. 3 GG). Dieses Ziel wird im Raumordnungsgesetz (§ 2 ROG) und in weiteren Gesetzen und Bestimmungen erläutert und präzisiert (Stiens 1988; Ernst 1995; 1997). Auch im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Art. 4 und Art. 174) bildet die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse bzw. die Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts eine wichtige Norm der Gesellschaftsordnung.

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