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4.2.2Konzepte der Nähe

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Ein grundsätzliches Problem bei der Organisation industrieller Arbeits- und Produktionsprozesse besteht darin, die Arbeitskräfte, Rohstoffe, Zwischenprodukte, Maschinen und Anlagen auf betriebsinterner, unternehmensinterner und unternehmensübergreifender Ebene in räumlicher Perspektive so zu verknüpfen, dass eine möglichst effiziente Teilung und Integration der Arbeit erfolgt. Nach diesem Verständnis von Sayer und Walker (1992, Kap. 3) muss eine hinreichende Koordination und Kontrolle des Produktionsablaufs auf den verschiedenen Ebenen der Produktion innerhalb und zwischen Betriebsstätten und Betrieben sichergestellt sein, damit hochwertige Produkte zuverlässig nach Kundenbedürfnissen angefertigt werden können. So gilt es zu entscheiden, welche Vor- und Zwischenprodukte ein Unternehmen selbst herstellt und welche es von Zulieferern zukauft, welche Prozesstechnologien eingesetzt werden und wie die verschiedenen Produktionsschritte verknüpft werden. All diese Fragen beeinflussen letztendlich die Entscheidung, an welchen Standorten auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene die verschiedenen Produktionsabschnitte angesiedelt werden. Eine wichtige Strategie, um die Koordination und Überwachung der Produktionsabläufe zu sichern, besteht darin, zwischen den verschiedenen Produktionsstufen Nähe zu erzeugen. Hierbei kann zwischen verschiedenen Konzepten der Nähe unterschieden werden (Lund­vall 1988; Gertler 1993; Bathelt 1995; 2000).

(1) Räumliche Nähe. Räumliche Nähe im Sinne geometrischer Nähe ist zwar eine theoretisch weder hinreichende noch notwendige Bedingung für das Zustandekommen von Interaktionen. Allerdings dient sie oft als wichtige Voraussetzung, um Menschen und Unternehmen zusammenzubringen, um Wissen zu teilen und Probleme zu lösen (Storper und Walker 1989, Kap. 3). Räumliche Nähe verringert nicht nur Transportkosten und vermindert die Kosten bei der Suche nach Informationen über mögliche Zulieferer. Infolge der Möglichkeit häufiger persönlicher Begegnung von Angesicht zu Angesicht erleichtert sie zugleich interaktive Problemlösungen, unternehmensübergreifende Abstimmungen und das Entstehen von Vertrauensbeziehungen (Harrison 1992). Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die Akteure durch räumliche Nähe in ein relativ homogenes gesellschaftliches Gefüge eingebettet sind. Gerade kleine, neu gegründete Unternehmen sind vergleichsweise stark in ihrem lokalen Umfeld tätig, das ihnen vertraut ist und wo sie potenzielle Geschäftspartner bereits kennen (→ Box 4-1).

Box 4-1: Bedeutung von face-to-face-Interaktion

Zwar wird in vielen wirtschaftsgeographischen Studien die große Bedeutung räumlicher Nähe betont, allerdings bleibt der eigentliche Vorteil ökonomischen Handelns von Angesicht zu Angesicht (face-to-face) dabei oft verborgen und unverstanden. Vorteile räumlicher Nähe werden teilweise vorausgesetzt, aber nicht empirisch belegt. Aus diesem Grund ist es hilfreich, die sozialpsychologische Literatur heranzuziehen, die schon seit längerer Zeit nahe und entfernte Kommunikations- und Interaktionsprozesse untersucht und dabei soziale und kognitive Faktoren im Zusammenhang mit dem face-to-face-Austausch betont. Diese Studien gestatten einen tieferen Einblick in die Prozesse des „being there“ (Gertler 1995). In ihrer grundlegenden Analyse von Kommunikationsprozessen durch Telekommunikation haben Short et al. (1976) insbesondere die Rolle nonverbaler Signale wie Gesichtsausdruck, Blickrichtung, Körperhaltung und physischer Distanz betont, die bei face-to-face-Kommunikation eine zentrale Rolle spielen und diese einzigartig machen. In der sozialpsychologischen Literatur werden zwei grundlegende Funktionen der face-to-face-Kommunikation unterschieden: Die erste Gruppe von Wirkungen betrifft die Informationsfunktion. Sie drückt sich zunächst in der illustrierenden Wirkung aus. So werden beispielsweise Gesten verwendet, um ein Gesprächsobjekt zu illustrieren. Die durch diese Gesten eingeführte Redundanz erleichtert das Verstehen durch die Zuhörer. Daneben werden parallel symbolische Gesten eingesetzt, die Sprachbotschaften ersetzen, wie beispielsweise das Kopfschütteln, um ein „Nein“ auszudrücken. Letztlich helfen derartige Signale dem Zuhörer, die Position oder Meinung des Sprechers abzuschätzen, etwa wenn die Körperhaltung eine offene oder abwehrende Position zum Thema suggeriert. Dies ist beispielsweise für Unternehmen auf Messen eine große Hilfe, um neue Entwicklungen in intensiven Gesprächen zu bewerten (Bathelt und Schuldt 2008). Die zweite Gruppe von Wirkungen betrifft die Integrationsfunktion der face-to-face-Kommunikation (Birdwhistell 1970). Nonverbale Signale sind diesbezüglich von Bedeutung, um den Partnern im Gespräch gegenseitige Aufmerksamkeit zuzusichern. Dies geschieht während des Gesprächsverlaufs durch Blickkontakt, Zustimmung durch Kopfnicken etc. Zudem erlauben vielfältige Signale wie etwa Fingerzeig oder Blickkontakt einen reibungslosen Gesprächsverlauf zwischen den beteiligten Personen. Eine zentrale Funktion der face-to-face-Kommunikation besteht darin, dass nicht nur die Weitergabe von Informationen und Wissen illustriert und erleichtert wird, sondern zugleich die Sprecher ständig nonverbale Reaktionen ihrer Zuhörer aufnehmen, die einen feedback-Mechanismus in Bezug auf die Gesprächsinhalte bewirken. Die Sprecher erhalten somit eine sofortige Rückmeldung darüber, ob komplexe Zusammenhänge verstanden worden sind, ob die Zuhörer folgen können oder ob sie dem Gesagten nicht zustimmen. In jedem Fall erhalten die Redner die Möglichkeit, ihre Rede unverzüglich anzupassen, indem sie zusätzliche Erläuterungen hinzufügen oder eine Erklärung überspringen, die die Zuhörer langweilt. Dies hilft selbst komplexe Themen zwischen mehreren Parteien effizient zu kommunizieren und ein Feedback einzuholen (Storper 1997 a). Zusammengenommen reduzieren nonverbale Signale in der face-to-face-Kommunikation die Ungewissheit zwischen den Beteiligten und begünstigen eine Atmosphäre, die Vertrauensaufbau ermöglicht (Leamer und Storper 2001), was etwa beim Markteintritt in einen neuen Markt von großer Bedeutung ist. Räumliche Nähe wird somit zu einer Vo­raussetzung, um anhaltende Kooperation durch ständigen Austausch von gegenseitigen Verpflichtungen und Versicherungen zu unterstützen (Olson und Olson 2003) und Kohärenz zu erreichen. Zudem schafft face-to-face-Interaktion die Möglichkeit, die Aktionen von Partnern im engeren Umkreis genau zu überwachen (Crang 1994), und stellt damit zugleich eine Möglichkeit dar, Macht über Arbeitskräfte oder Zulieferer auszuüben (Allen 1997). All diese Vorteile kopräsenter Kommunikation begründen die starke Zunahme von Geschäftsreisen in einer zunehmend globalisierten Wirtschaft (Faulconbridge et al. 2009).

Torre und Rallet (2005) unterscheiden in ihrer Arbeit zwei prinzipielle Formen von Nähe: geographische bzw. räumliche Nähe und organisierte Nähe, wobei letztere kein räumliches Konzept darstellt, sondern Ausdruck einer sozialen Affinität ist, die oftmals nicht automatisch vorliegt, sondern zwischen den betreffenden Akteuren zunächst herzustellen oder herbeizuführen ist (Rallet und Torre 2017). Die Formen organisierter Nähe oder Affinität, die nachfolgend diskutiert werden, ermöglichen es, ökonomische Prozesse über oftmals große Distanzen zu organisieren (Bathelt und Henn 2014).

(2) Kognitive Nähe. Räumliche Nähe führt keineswegs dazu, dass Unternehmen automatisch Partnerschaften eingehen oder Netzwerke bilden. Manchmal versprechen sich die Unternehmen keine Vorteile von einer lokalen Partnerschaft, weil sie nicht glauben, daraus neues Wissen generieren zu können. Tatsächlich verläuft die Erzeugung von Wissen inkrementell und kumulativ, sodass Unternehmen eine spezialisierte Wissensbasis entwickeln, die ihren spezifischen Problemen und Ausrichtungen folgt. Man könnte deshalb schlussfolgern, dass Unternehmen eine Partnerschaft mit einem anderen Unternehmen speziell dann eingehen, wenn dessen Wissensbasis hinreichend viele Unterschiede zu der eigenen aufweist, damit etwas Neues dazugelernt werden kann. Zugleich muss es auch hinreichend viele Gemeinsamkeiten geben, damit Wissen effizient getauscht werden kann (Nooteboom 2000 b; Boschma und Frenken 2006; Castaldi et al. 2015). So ist es keineswegs eine Selbstverständlichkeit, dass Unternehmen das von ihnen benötigte Wissen korrekt identifizieren, interpretieren und anschließend erfolgreich umsetzen können (Cohen und Levinthal 1990). Akteure benötigen kognitive Nähe im Sinn einer ähnlichen, verwandten Wissensbasis, um miteinander kommunizieren zu können. Zugleich scheint aber ein Mindestmaß an kognitiver Distanz sinnvoll, damit die Unternehmen überhaupt voneinander lernen können (Nooteboom 2000 b).

(3) Institutionelle Nähe. Eine äußere Grenze der räumlichen Nähe ist durch die für ökonomische Verflechtungsbeziehungen erforderliche oder förderliche institutionelle Nähe gegeben (Nelson 1988; Berndt 1996). Institutionelle Nähe (manchmal auch ein wenig irreführend als kulturelle Nähe bezeichnet) bezieht sich auf die einheitlichen, insbesondere nationalstaatlich definierten Koordinationsstrukturen und -prinzipien, welche die Art und Stabilität der Beschäftigungs- und Produktionsverhältnisse und der Arbeits-Kapital-Beziehungen betreffen wie z. B. die Zusammenhänge zwischen Bildungssystem, Industriearbeit und technologischem Wandel (Gertler 1992; 1997). Institutionelle Nähe (die man natürlich nicht nur auf nationalstaatlicher Ebene ansetzen kann) ist umso größer, je geringer die zu überwindenden institutionellen Unterschiede sind. Eine zu geringe institutionelle Nähe kann Probleme bei der Adaption neuer Technologien und Organisationsprinzipien verursachen, die in anderen Ländern entwickelt worden sind und dort erfolgreich angewendet werden (Gertler 1995; 1996). Dies mag auch erklären, warum Zulieferbeziehungen innerhalb nationalstaatlicher Grenzen meist stärker als z.B. in industriellen Ballungsräumen – d. h. in räumlicher Nähe – ausgeprägt sind. Anders als in den Studien der 1960er- und 1970er-Jahre, die dies zunächst als scheinbaren Widerspruch bewerteten (Schickhoff 1983, Kap. II und III), zeigt sich hierin die große Bedeutung des Nationalstaats zur Schaffung institutioneller Nähe.

(4) Organisatorische Nähe. Internationalisierungs- und Globalisierungsprozesse von Produktions- und Marktbeziehungen sind den Konzepten der räumlichen und kulturellen Nähe offensichtlich entgegengerichtet. Fehlende räumliche oder institutionelle Nähe kann jedoch unter Umständen durch organisatorische Nähe (nicht zu verwechseln mit organisierter Nähe) ersetzt oder ausgeglichen werden. Dies geschieht, indem Unternehmen im Rahmen von Fusions- und Akquisitionsaktivitäten neue Unternehmen oder Unternehmensteile in anderen Ländern erwerben, um somit Zugang zu deren angestammten Märkten zu erlangen und entsprechendes Marktwissen zu erwerben (Dicken 1994; Schamp 1996; Storper 1997 c). Durch diesen Schritt findet im Prinzip innerhalb von Unternehmen eine Substitution von distanzabhängigen gleichberechtigten Verflechtungsbeziehungen durch distanzunempfindliche hierarchische Anweisungsstrukturen statt. Wachsende räumliche Distanzen in den Produktionsbeziehungen sind dabei die Voraussetzung für zunehmende räumliche und institutionelle Nähe in den Interaktionen mit Abnehmern (Malecki 2009).

(5) Virtuelle Nähe. Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglichen in Echtzeit, also ohne Zeitverzögerung und über große Entfernungen hinweg, eine effektive Wahrnehmung von Koordinations- und Überwachungsaufgaben in der Produktion. Weltweite Vernetzungen im Internet erzeugen sowohl innerhalb eines Unternehmens als auch zwischen selbstständigen Unternehmenseinheiten virtuelle Nähe. Es ist abzusehen, dass diese durch Innovationen bei IT-Dienstleistungen in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen wird und zur Erschließung neuer Potenziale für weltweit integrierte Produktions- und Marktstrukturen führt (Bathelt und Turi 2011; Bathelt und Henn 2014).

Aus den Nähekonzepten ist seit Ende der 1990er-Jahre die sogenannte Proximity School (Rallet und Torre 1999; 2017; Torre und Rallet 2005) hervorgegangen. Davon inspiriert argumentiert Boschma (2005), dass sich Probleme des ökonomischen Tauschs analysieren lassen, indem verschiedene Ebenen der Nähe im Wechselspiel miteinander analysiert werden, wobei zu große Distanz auf einer Ebene durch Nähe auf einer anderen Ebene ersetzt werden kann (Boschma und Frenken 2005). Trotz ihrer Plausibilität birgt diese Argumentationskette jedoch Probleme in sich. So werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten bzw. Affinitäten und Dissonanzen mit Hilfe einer räumlichen Semantik in der Begrifflichkeit von Nähe und Distanz abgebildet. Dabei wird Nähe implizit mit Erfolgen, Distanz mit Problemen und Misserfolgen in Verbindung gebracht. Eine solche Interpretation ist aber erstens empirisch vielfach nicht korrekt (denn viele Unternehmen verzichten oft bewusst auf Interaktionen in ihrem engeren Umfeld und sind stattdessen erfolgreich in ihren weltweiten Transaktionen) und zweitens birgt sie die Gefahr, sich auf eine abstrakte Diskussion von verschiedenen Nähekonzepten einzulassen, ohne die tatsächlichen Probleme und Motivationen der betroffenen Akteure genau zu untersuchen und hier mit einer Lösung anzusetzen (Bathelt 2005 a; Gibson und Bathelt 2014). Durch derartige räumliche Semantiken (Glückler 1999) bzw. ‚sprachliche Verräumlichungen‘ rücken letztlich Konzepte in das Zentrum wirtschaftsgeographischer Analyse, die sozialer, institutioneller oder organisatorischer Art sind, aber so behandelt werden als seien sie räumlich. In jüngeren Studien der Proximity School wird dies durchaus kritisch gesehen (Rallet und Torre 2017).

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