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4.2.1Messung von Distanz
ОглавлениеIn der Wirtschaftsgeographie kommt dem Distanzbegriff eine herausragende Rolle zu, denn hierin drückt sich das fundamentale Problem der Distanzüberwindung aus. Rohstoffe, Produktionsstätten, Beschäftigte und Märkte befinden sich nur in Ausnahmefällen am gleichen Ort und müssen gemäß den Zielsetzungen des Wirtschaftsprozesses erst einander zugeführt werden. Distanzen erschweren und behindern Interaktionen. Oft nehmen Interaktionen in ihrer Häufigkeit und Intensität mit zunehmender Distanz ab. Das Überwinden von Distanzen verursacht Kosten, die wiederum Entscheidungen z. B. im Rahmen der Standortwahl beeinflussen. Dass Distanzen Kosten verursachen, ist zentraler Anknüpfungspunkt der Raumwirtschaftslehre (von Böventer 1962; 1995) und unterscheidet diese von der klassischen Ökonomie, in der das Raumüberwindungsproblem oftmals nicht thematisiert wird. Es gibt unterschiedliche Kriterien der Messung von Distanz, wobei es stets vom sozioökonomischen Kontext abhängt, welche Dimension der Distanz bedeutsam ist (Blotevogel 1995 a).
(1) Physische Distanz. Die physische Distanz kann z. B. als reale straßenkilometrische Entfernung zwischen zwei Orten in Kilometern gemessen und erfasst werden. Algebraisch lässt sich die Distanz zwischen einem Ort 1 und einem Ort 2 als Luftlinienentfernung bzw. euklidische Distanz (dE) oder als Manhattan-Distanz bzw. City-Block-Distanz (dM) berechnen (z. B. Vogel 1975). Dies setzt voraus, dass die x- und y-Koordinaten der betreffenden Orte bekannt sind.
(2) Ökonomische Distanz. Unter ökonomischer Distanz werden die kostenwirksamen Aspekte der Distanzüberwindung verstanden. Sie werden zumeist als Transportkosten oder als Transportzeit gemessen. Wie hoch die Transportkosten bzw. die Transportzeit in einem konkreten Fall sind, hängt dabei nicht nur von der Entfernung ab, sondern auch von der Morphologie (z. B. der Frage, ob Wüsten oder Berge zu überqueren sind), von der Verkehrsinfrastruktur, der Transportierbarkeit der Güter und der Verkehrstechnologie. Inwieweit diese Kosten entscheidungsrelevant sind, ergibt sich daraus, in welchem Verhältnis sie zu anderen Kosten stehen (z. B. Richardson 1978, Kap. 2).
(3) Soziale Distanz. Das Konzept der sozialen Distanz kennzeichnet die soziale Entfernung zwischen Personengruppen und ist ein Maß sozialer Ungleichheit (Yeates 1990, Kap. 6). Ähnlich wie etwa die Wirtschaftsgeographie ökonomische Aktivitäten aufgrund ihres räumlichen Zusammenhangs regionalisiert, formulieren andere Sozialwissenschaften auch andere Stratifizierungsmodelle zur Abgrenzung sozial entfernter Gruppen. Soziale Distanzen zwischen gesellschaftlichen Schichten drücken sich durch Unterschiede in Bildungshintergründen, in beruflichen Qualifikationen oder in Haushaltseinkommen aus. Im Gegensatz zu diesen vertikalen sozialen Distanzen, die hierarchisch stratifizierte soziale Gelegenheiten beschreiben, treten im Zug einer fortschreitenden Differenzierung der modernen Industriegesellschaft horizontale Ungleichheiten immer stärker in den Vordergrund. Sie werden in unterschiedlichen Werten, Lebenseinstellungen, Gewohnheiten und Geschmäckern offensichtlich (Bourdieu 1987; Berger und Hradil 1990). Diese sozialen Unterschiede drücken sich in Konzepten wie denen der sozialen Milieus oder der Lebensstil-Gruppen aus (Lüdtke 1989; Müller 1992), die sich als Ensembles von Akteuren mit ähnlichen Stellungen, Dispositionen und Praktiken von anderen Milieus unterscheiden (Bourdieu 1995). Soziale Distanz und räumliche Distanz hängen dabei keineswegs systematisch zusammen (Hard 1993). Soziale Distanz begründet jedoch dann interessante Formen raumrelevanten Handelns, wenn beispielsweise eine Person ihre Versorgungseinkäufe lieber an räumlich weiter entfernten Orten ausführt, die eine geringere soziale Distanz zu ihren Lebensgewohnheiten aufweisen, anstatt in räumlich näher gelegenen, jedoch sozial entfernteren Geschäftszentren einzukaufen. An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass eine ausschließlich ökonomische bzw. kostenspezifische Interpretation physischer Distanz ein solches Verhalten unerklärt ließe.
Die oben stehenden Erläuterungen zum Distanzbegriff zeigen, dass Distanz nur in Bezug auf eine Problemstellung und die dafür gewählten Kriterien sinnvoll zu bestimmen ist. Harvey (1990) hat eindrucksvoll gezeigt, dass technologische Entwicklungen im Bereich der Informations-, Kommunikations- und Verkehrstechnologien während des 20. Jahrhunderts zu einer time-space compression, also zu einer Raum-Zeit-Verkürzung geführt haben. Durch neue Technologien scheint die Welt näher zusammengerückt zu sein (→ Kap. 4.5). Konzepte der Distanz und insbesondere Transportkosten spielen indes aufgrund von überlasteten Verkehrsinfrastrukturen nach wie vor eine Rolle. Steigende Mobilitätskosten werden im Zusammenhang mit dem Überschreiten des peak oil (→ Kap. 3.3.1) absehbar wieder eine größere Rolle spielen, was auch Einfluss auf geographische Analysen haben wird.