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3.5Leistungsmessung in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung
ОглавлениеIn der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wird der Wert des Produktionsergebnisses aller Wirtschaftsbereiche einer Volkswirtschaft erfasst (z. B. Bontrup 1998, Kap. 2.9). Die Konzepte der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung können entsprechend auch auf Regionen übertragen werden. Ausgangsgröße ist der Bruttoproduktionswert, d. h. der Wert aller Güter und Dienstleistungen einschließlich der Vorleistungen, die in einer Volkswirtschaft erbracht werden. In dieser Größe sind jedoch erhebliche Doppelzählungen enthalten, weil dieselben Vorleistungen in verschiedenen Verarbeitungsstufen mehrfach mitgezählt werden. Der Bruttoproduktionswert ist daher insgesamt nur begrenzt aussagekräftig. Durch Bereinigung des Bruttoproduktionswerts um die Vorleistungen erfolgt der Übergang zur Bruttowertschöpfung einer Volkswirtschaft, die nun keine Doppelzählungen mehr enthält (→ Abb. 3.9). Nach Hinzurechnung der Einfuhrabgaben gelangt man von der Bruttowertschöpfung zum Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen. Wenn man von dieser Größe weiter die Abschreibungen, d. h. die Wertverluste von Maschinen und Anlagen subtrahiert, gelangt man zum Nettoinlandsprodukt zu Marktpreisen. Durch Bereinigung des Nettoinlandsprodukts zu Marktpreisen um indirekte Steuern und Hinzuzählung von Subventionen erhält man schließlich das Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten.
Abb. 3.9 Konzepte der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (verändert nach Schätzl 1994, S. 14)
In der an Schätzl (1994, Kap. 3.1.1) angelehnten Darstellung werden die Zusammenhänge zwischen diesen Konzepten gut veranschaulicht (→ Abb. 3.9). Hierin zeigt sich auch, dass man generell zwischen einem Inlandskonzept und einem Inländerkonzept unterscheiden kann. Während die bisher dargestellten Kenngrößen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung auf dem Inlandskonzept beruhen, also für das Territorium einer Volkswirtschaft konzipiert sind, ist das Inländerkonzept ein personenbezogenes Konstrukt, das alle Inländer berücksichtigt. Man gelangt vom Inlands- zum Inländerkonzept, indem man die Einkommen der Auspendler addiert und die der Einpendler subtrahiert. Auf diese Weise erfolgt der Übergang vom Bruttoinlandsprodukt zum Bruttonationaleinkommen und vom Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten zum Nettonationaleinkommen zu Faktorkosten, dem Volkseinkommen. Durch Subtraktion der direkten Steuern und Hinzufügung der staatlichen Transferzahlungen ergibt sich daraus das verfügbare Einkommen der Inländer.
Auf regionaler Ebene verwendet man als Indikatoren der Leistungskraft entweder die regionale Bruttowertschöpfung, d. h. den Wert aller in einer Region hergestellten Güter und Dienstleistungen ohne die Vorleistungen, das Regionalprodukt (als regionales Äquivalent zum Bruttoinlandsprodukt) oder die Einkommen der in einer Region wohnenden Bevölkerung. Da es auf regionaler Ebene große Pendlerströme gibt, ist die Unterscheidung von Inlands- und Inländerkonzept bedeutsam. Als regionaler Wohlstandsindikator wird häufig das Pro-Kopf-Einkommen der in einer Region wohnenden Bevölkerung herangezogen.
Die Verwendung derartiger Kenngrößen als Messgrößen für die Leistungskraft einer Volkswirtschaft oder einer Region ist allerdings nicht unumstritten (z. B. Schätzl 1994, Kap. 3.1.1; Heilbroner und Thurow 2002). Es gibt zahlreiche Kritikansätze, die allesamt darauf hindeuten, dass derartige Indikatoren nur unvollständig die tatsächliche Leistungskraft erfassen:
(1) Zunächst misst das Bruttoinlandsprodukt Geldwerte und nicht Mengen physischer Einheiten. Daher muss es stets um die Inflation bereinigt werden. Steigen die Preise, steigt auch das Bruttoinlandsprodukt, selbst wenn Output und Produktionsvolumen unverändert bleiben. Bei intertemporalen Vergleichen sollte daher das sogenannte nominale Bruttoinlandsprodukt stets auf das reale, inflationsbereinigte Bruttoinlandsprodukt umgerechnet werden.
(2) Das Bruttoinlandsprodukt leidet ferner unter dem Problem der selektiven Messung qualitativer Veränderungen von Gütern. Technologische Neuerungen führen häufig zur Verbesserung von Gütern und Diensten. Während technologische Qualitätsverbesserungen in das Bruttoinlandsprodukt miteingerechnet werden, bleiben Qualitätssteigerungen bei Dienstleistungen jedoch außer Acht. Da Dienstleistungen jedoch etwa 70 % des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, ist damit ein großes Problem verbunden. Das Bruttoinlandsprodukt kann die reale Qualitätssteigerung von geleisteten Diensten nicht erfassen und führt folglich zu einer Unterbewertung des realen Wirtschaftswachstums.
(3) Die Parameter der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung erfassen zudem nicht alle ökonomisch bedeutsamen Aktivitäten. Es fehlt beispielsweise die Erfassung der Hausarbeit, was dazu führt, dass sich in den Indikatorenwerten die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen niederschlägt. Ferner sind handwerkliche Eigenleistungen nicht erfasst. Dies ist aber z.B. in Gemeinden der Mennoniten und Hutterer oder in Ländern wie Italien, wo gemeinschaftliche Aktivitäten einen hohen Stellenwert besitzen, besonders bedeutsam. Derartige Strukturen könnten zukünftig noch an Bedeutung gewinnen. So geht das Konzept der neuen Arbeit (new work) davon aus, dass Vollzeitarbeit zukünftig nicht mehr der Standard der Erwerbstätigkeit sein wird. Stattdessen schlägt Bergmann (1997) angesichts der anhaltenden Rationalisierungs- und Automatisierungstrends vor, Arbeitszeiten in Unternehmen systematisch zu verkürzen, um Entlassungen zu verhindern. Die so geschaffenen Zeitspannen sollen dabei von den Betroffenen als Befreiung erlebt werden, damit sie in dieser Zeit solche Tätigkeiten verrichten, „die sie wirklich, wirklich tun wollen“. Jüngste Ansätze der sharing economy (Martin 2016) sowie Ansätze vielfältiger (Gibson-Graham 2008) bzw. alternativer ökonomischer Praktiken (Leyshon et al. 2003; Fuller et al. 2016; Sánchez 2017) beleuchten sowohl traditionelle als auch neue Formen kollektiver Arbeitsteilung außerhalb der klassischen Marktlogik, um solidarische, nachhaltige und ausgleichende Formen des Wirtschaftens zu ergründen. Schließlich wird auch die Produktivleistung durch Schwarzarbeit nicht im Bruttoinlandsprodukt erfasst. Die Bedeutung dieser informal economy ist jedoch zunehmend und auch in der Entwicklung der Weltstädte industrialisierter Länder nicht zu unterschätzen (Sassen 1996).
(4) Ein weiterer Kritikpunkt der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bezieht sich darauf, dass Umweltschäden als soziale Kosten nicht aus den Kenngrößen herausgerechnet werden. Sie werden aber in Zukunft beträchtliche einzelwirtschaftliche Kosten nach sich ziehen. Dies bindet Finanzmittel, die dann für andere Zwecke nicht mehr zu Verfügung stehen.
(5) Ein Anstieg des Bruttoinlandsprodukts gibt letztlich keinen direkten Aufschluss über den Anstieg der Lebensqualität einer Gesellschaft. Der Anstieg kann gleichermaßen aus Erhöhungen der Militärausgaben oder aus einem Anstieg der Bildungsausgaben herrühren. Steigen z. B. die Ausgaben für Schlösser und Alarmanlagen, so trägt dies zum Wachstum des Bruttoinlandsprodukts bei. Jedoch ist diese Entwicklung eher Ausdruck einer verminderten Lebensqualität aufgrund wachsender Unsicherheit. Auch können einander entgegengerichtete Ausgaben das Bruttoinlandsprodukt steigern, ohne die Lebensqualität zu verbessern. So trägt z. B. die Fabrikproduktion ebenso zum Bruttoinlandsprodukt bei wie die Reinigungsleistungen, die erforderlich sind, um die Verschmutzungen und Umweltschäden wieder auszugleichen. Beide Leistungen mehren das Bruttoinlandsprodukt, tatsächlich ist aber die Lebensqualität nicht unbedingt gestiegen. Die Höhe des Bruttoinlandsprodukts allein kann ferner auch über die Ungleichheit der Verteilung des Wohlstands einer Gesellschaft hinwegtäuschen. So haben Spanien und Mexiko mit etwa 1,5 Billionen US-Dollar etwa das gleiche Bruttoinlandsprodukt, jedoch ist das Einkommen in Mexiko viel stärker auf einen kleinen Bevölkerungsteil konzentriert, sodass die Mehrheit der Bevölkerung nicht an dem Niveau der Wirtschaftsleistung partizipieren kann. Aus diesem Grunde sollten zur Bewertung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsstands einer Gesellschaft neben dem System der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung z. B. auch der Human Development Index (UNDP 2016) oder Statistiken über die Einkommensverteilung und Verteilungsmaße, wie etwa der Gini-Koeffizient, berücksichtigt werden.
(6) Des Weiteren ist ein internationaler Vergleich von Kenngrößen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung problematisch, weil nationale Buchführungen sehr unterschiedlich und Preise oft nicht vergleichbar sind. Die damit zusammenhängenden Probleme werden deutlich, wenn man das Pro-Kopf-Produkt zu einem interregionalen Vergleich über nationalstaatliche Grenzen hinweg verwendet, wie McCarthy (2000) dies beispielsweise für die metropolitanen Regionen in der Europäischen Union durchgeführt hat. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass sich unter den 35 reichsten metropolitanen Regionen 25 deutsche Regionen befinden. Das Problem dieser Vorgehensweise besteht darin, dass unterschiedliche Lebenshaltungskosten, soziale Kosten und institutionelle Strukturen auf nationalstaatlicher Ebene unberücksichtigt bleiben, obgleich sie zur Beurteilung von Leistungskraft und Wohlstandsniveau eine große Rolle spielen.
Da wirtschaftsgeographische Untersuchungen häufig auf speziellen Erhebungen von ökonomischen Akteuren basieren und es dabei nicht immer gelingt, Indikatoren der Leistungskraft wie z. B. Gewinne zu erfragen, begnügt man sich in der Praxis oft mit Ersatzindikatoren wie etwa den Beschäftigtenzahlen, die wesentlich leichter erfassbar sind. Beschäftigtenzahlen sind von zentraler Bedeutung, wenn man wie in diesem Buch Menschen in den Mittelpunkt der Betrachtung und Analyse stellt. Sie bieten allerdings keinen vollwertigen Ersatz für Indikatoren der Leistungskraft. Unternehmen schaffen Beschäftigungsmöglichkeiten und erzeugen Wohlstand. Ihre Untersuchung muss unter diesen beiden Aspekten gesehen werden und darf keineswegs zum Selbstzweck der Wirtschaftsgeographie werden. Durch die Erfassung von Beschäftigtenzahlen lassen sich aus räumlicher Perspektive zumindest erste Anhaltspunkte über die Verteilung von Wohlstand gewinnen.