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2.3.3Forschungsprogrammatische Elemente der relationalen Wirtschafts­geographie

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Wir begreifen Wirtschaftsgeographie als ein Forschungsfeld, das nicht durch den Forschungsgegenstand, sondern durch die Forschungsperspektive spezifisch ist. Nicht die räumliche Wirtschaft (oder Raumwirtschaft), sondern die in räumlicher Perspektive beobachtbare Struktur und Dynamik ökonomischer Beziehungen bilden den Gegenstand der relationalen Konzeption. Wirtschaftsgeographische Forschung zielt auf die Beobachtung und Erklärung zeitlich und räumlich situierten ökonomischen Handelns, um kontextabhängig institutionalisierte und somit in räumlicher Perspektive lokalisierbare, ungleich verteilte ökonomische Beziehungen zu erfassen. Die zweite Transition besteht in einer Neukonzeption der Wirtschaftsgeographie in allen Dimensionen einer forschungsprogrammatischen Grundkonzeption. Nachfolgend werden zunächst die Diskontinuitäten im Vergleich zum raumwirtschaftlichen und die Brücke zu einem sozialtheoretisch informierten Programm dargestellt, bevor wir im nächsten Abschnitt die Grunddimensionen der relationalen Wirtschaftsgeographie umreißen. Die Diskontinuitäten zum raumwirtschaftlichen Ansatz lassen sich auf fünf Ebenen formulieren (→ Tab. 2.1):

Tab. 2.1 Forschungsdesign von Raumwirtschaftslehre und relationaler Wirtschaftsgeographie
Programmatische ­DimensionenRaumwirtschaftslehreRelationale Wirtschaftsgeographie
RaumkonzeptRaum als Objekt und Kausalfaktorräumliche Perspektive
Forschungsgegenstandraummanifestierte Handlungsfolgen (Struktur)ökonomische Beziehungen im Kontext (Praxis, Prozess)
Handlungskonzeptatomistisch: methodologischer ­Individualismusrelational: Netzwerktheorie, embeddedness-Perspektive
Wissenschaftstheoretische GrundperspektiveNeopositivismus, kritischer ­Rationalismuskritischer Realismus, evolutionäre ­Perspektive
ForschungszielRaumgesetze ökonomischen ­VerhaltensPrinzipien sozioökonomischen Austauschs in räumlicher Perspektive

(1) Raumkonzept. Die zweite Transition findet ihren Ausgangspunkt in der sozialtheoretischen Kritik des gegenständlichen Raumkonzepts und der Umkehr des Verursachungsverhältnisses von Raum und Gesellschaft (Werlen 1995 c; 1997; 2000, Kap. 12). Nicht der Raum bedingt das Handeln, sondern durch soziales Handeln verändern sich dessen materielle und institutionelle Rahmenbedingungen. Nicht die Region bestimmt die Entwicklung der Unternehmen, sondern die Unternehmen gestalten die Entwicklung der Regionen (Storper und Walker 1989). Das Verständnis von Raum wird in dieser Sichtweise als sozial unterdeterminiert erachtet und kann daher weder als Explanans noch als Forschungsobjekt in Erscheinung treten. Dem Raum als Gegenstand und Ursache stellen wir ein Verständnis von Raum als Perspektive (→ Box 2-3) entgegen (Glückler 1999, Kap. 7). Da Raum (wie auch Zeit) kein wirkungsfähiger Gegenstand ist, tritt er auch im Rahmen von Theorien nicht in Erscheinung (Sayer 1985; Saunders 1989; Hard 1993). Konsequenterweise können Raum oder Territorium im Unterschied zu Storper (1997 a; 1997 b, Kap. 2) nur schwerlich die Grunddimension einer relationalen Wirtschaftsgeographie bilden. Sehr wohl aber erlaubt eine räumliche Perspektive den Zugang zu empirischen Problemen. Der beobachtete Gegenstand – ökonomisches Handeln und ökonomische Beziehungen – bleibt unabhängig von der Wahl der Perspektive bestehen. Es ergeben sich jedoch im Hinblick auf den Gegenstand unterschiedliche Probleme in Abhängigkeit von der Perspektive. Wirtschaftsgeographie betreibt in diesem Sinn eine problemorientierte Forschung aus räumlicher Perspektive. Nicht Raumtheorien, sondern Sachtheorien werden hinsichtlich ihrer lokalisierten Wirkungen, die sich von Ort zu Ort unterscheiden und somit interregionale Interaktionen hervorrufen, erforscht. Die räumliche Perspektive bezieht sich auf die Fragen, die Geographen an die Erfahrungswelt richten und nicht auf die Antworten. Raum oder Distanz werden in dieser Konzeption nicht mehr als Erklärungsvariable verwendet. Vielmehr werden Problemstellungen erst in räumlicher Perspektive sichtbar (Bathelt und Glückler 2003 a): regionale Disparitäten, lokale Konzentrationen gleicher (Cluster) oder unterschiedlicher wirtschaftlicher Aktivitäten (Metropolen), divergierende regionale Entwicklungen, interregionale Verflechtungen und Austauschprozesse (Globalisierung) etc. All diese Phänomene werden durch die Sicht auf ihre geographische Verortung beobachtbar. Sie lassen sich aber nicht aus räumlichen Kategorien heraus erklären. Die räumliche Perspektive berücksichtigt, dass ökonomisches Handeln stets verortet ist. Dadurch kommt es automatisch zu Interaktionen zwischen unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Prozessen, die an denselben Orten stattfinden. Das hängt damit zusammen, dass dieselben Akteure zeitgleich in verschiedenen Prozessen mitwirken und dass es nicht möglich ist, einen einzelnen Prozess isoliert zu betrachten und andere zu vernachlässigen (→ Box 2-3).

Box 2-3: Räumliche Perspektive

In wissenschaftlichen Studien kann die Veränderung der Arbeitsteilung eines Unternehmens im Zuge einer Strukturkrise je nach fachlicher Perspektive unterschiedliche Fragestellungen aufwerfen: Während eine sozialwissenschaftliche Studie beispielsweise die Konsequenzen für die Verteilung von Zuständigkeiten und Kompetenzen in der Arbeitsorganisation oder den Grad der Hierarchisierung thematisieren würde, wäre eine ökonomische Studie eher auf die Folgen für die strategische Ausrichtung, das Produktionsprogramm oder neue Wettbewerbschancen fokussiert. Demgegenüber würde eine wirtschaftsgeographische Untersuchung die lokalisierten Folgen für den Arbeitsmarkt, die Zulieferbeziehungen oder die Arbeitsorganisation zwischen einzelnen Standorten in den Mittelpunkt stellen. Jedes Beispiel dieser Art ist letztlich aber eine Vereinfachung. Offensichtlich kann jede Perspektive nur einen spezifischen und partiellen Aspekt eines Forschungsgegenstands thematisieren. Und jedes Phänomen, das aus einer konkreten Perspektive heraus gewonnen wird, kann selbst wieder Ausgangspunkt einer neuen Fragestellung unter einer anderen fachlichen Perspektive werden. So könnte eine andere Fachperspektive die lokalisierten Folgen für den Arbeitsmarkt oder Zulieferbeziehungen selbst wieder als Ausgangspunkt zur Formulierung einer sozial- oder wirtschaftswissenschaftlichen Problemstellung verwenden. Nicht also der Raum wird zum Forschungsobjekt, sondern die Problematisierung eines ökonomischen Phänomens aus einer räumlichen Perspektive ist charakteristisch für wirtschaftsgeographisches Forschen.

(2) Forschungsgegenstand. Während sowohl in dem länder- und landschaftskundlichen als auch in dem raumwirtschaftlichen Ansatz der Wirtschaftsgeographie räumliche Konzepte den Gegenstand des wissenschaftlichen Programms bestimmen, bildet ökonomisches Handeln als situierter Prozess in Strukturen von Beziehungen (d. h. als soziales Handeln) den Gegenstand der Betrachtung der relationalen Wirtschaftsgeographie. Es werden nicht mehr primär räumliche Strukturen, wie z. B. Wirtschaftsräume oder Funktionalregionen, als aufzuklärende Phänomene fokussiert, sondern stattdessen z.B. Prozesse des Lernens, der Innovation und der arbeitsteiligen Organisation dieser Prozesse in räumlicher Perspektive. Ökonomische Beziehungen rücken somit zurück in den Mittelpunkt der Wirtschaftsgeographie und bilden das Zentrum eines sozial- und wirtschaftstheoretischen Programms.

(3) Handlungskonzept. Das Konzept des ökonomisch Handelnden entspricht nicht mehr dem der neoklassischen Theorie. Statt eines abstrakten methodologischen Individualismus, in dem der Einzelne als atomisierter Akteur (Granovetter 1985) scheinbar unbeeinflusst von seiner Umwelt und aus abstrakten Handlungsmotiven heraus nach den Prinzipien des homo oeconomicus agiert, thematisieren wir eine relationale Konzeption des Handelns. Ökonomisches Handeln ist nicht abstraktes Handeln, sondern vollzieht sich als soziales Handeln in konkreten Strukturen zeitlich fortdauernder Beziehungen (Granovetter 1985). Das Handeln eines Akteurs wird folglich nicht mehr isoliert von anderen Akteuren betrachtet, sondern ist aus dem konkreten Kontext seiner Beziehungen zu verstehen und dadurch bedingt. Ökonomisches Handeln ist somit ein Ausschnitt des Sozialen und nicht vom Sozialen trennbar. Es ist einerseits relational und andererseits kontextuell. Die Relationalität des Handelns lenkt die Aufmerksamkeit auf soziale Beziehungen, den Prozess des Handelns und die Bildung von Institutionen. Die Kontextualität des Handelns leitet sich aus seiner Relationalität ab und gewinnt Bedeutung in Form spezifischer sozioinstitutioneller Handlungsbedingungen, die konkretes ökonomisches Handeln an gegebenem Ort und zu gegebener Zeit situieren (Philo 1989; Martin 1994; Giddens 1995; Sunley 1996).

(4) Wissenschaftstheoretische Grundperspektive. Wenn Handeln als kontextspezifisch anerkannt wird, kann es nicht universell auf der Grundlage gesetzesartiger Erklärungen beschrieben werden. Handeln in offenen Systemen ist nicht vorhersagbar, sodass das Ziel deterministischer Theoriebildung aufgegeben werden muss. Während die Raumwirtschaftslehre im Einfluss gesetzesartiger Erklärungen durch das Überprüfen von Hypothesen die Rolle des Universellen hervorhebt, wertet der kritische Realismus (Bhaskar 1975; Sayer 1991; 1992, Kap. 1 und 4; Archer et al. 1998; 2000, Teil 1) die Bedeutung des Kontexts durch das Prinzip der Kontingenz auf. Der kritische Realismus begreift sich als erkenntnistheoretische Alternative zu dem Gegensatz zwischen logischem Empirismus einerseits, der in der Annahme einer objektiven Realität universelle Erklärungen anstrebt, und Relativismus andererseits, der unter Ablehnung einer objektiven Realität das Verstehen subjektiver Einzelgeschehnisse verfolgt (Lovering 1989; Thrift 1990). Dabei sind eher verschiedene Varianten als eine einheitliche realistische Position identifizierbar (Häkli 1994). Zwar halten kritische Realisten an der Annahme einer unabhängig vom Individuum existierenden Wirklichkeit sowie an dem Ziel der Erklärung von allgemeinen Mechanismen fest. Aber sie verbinden den Nachweis dieser Wirklichkeit nicht mehr mit der Universalität der Phänomene.

Das konventionelle Kausalitätsverständnis der Raumwirtschaftslehre gründet auf dem Regularitätsprinzip, das auf Hume (1758) zurückgeht. Demnach gilt als Ursache dasjenige Ereignis, dessen Eintreten immer bzw. ausnahmslos mit dem Eintreten eines anderen Ereignisses zusammenhängt. Die Regelmäßigkeit wird zum assoziativen Prinzip des kausalen Wirkungszusammenhangs. Diese Erklärung ist eine Universalerklärung, da an jedem Ort zu jeder Zeit eine Ursache ihre Wirkung erzeugt.

Demgegenüber begründet der kritische Realismus durch das Prinzip der Kontingenz eine kontextuelle Kausalerklärung. Hierbei treten zwei Arten von Relationen in das Zentrum der wissenschaftlichen Erklärung (Sayer 1985): Notwendige Beziehungen treten auf, wenn zwei Ereignisse unabhängig von spezifischen Bedingungen stets verknüpft sind. Allerdings sind allgemeine, kontextinvariante Beziehungen von Ereignissen, also allgemeingültige Gesetze, im Bereich gesellschaftlicher Phänomene kaum zu identifizieren. Demgegenüber liegen kontingente Beziehungen vor, wenn sie zwei Ereignisse nur unter spezifischen Bedingungen verknüpfen. Das Prinzip der Kontingenz bedeutet, dass das Eintreten eines Ereignisses nicht immer das Eintreten eines anderen Ereignisses impliziert, sodass identische Ausgangsbedingungen nicht zwangsläufig zu demselben Ergebnis führen und Entwicklungen nicht unbedingt bekannten Mustern folgen müssen. Damit besteht die erkenntnistheoretische Möglichkeit, Handlungsziele und Handlungsfolgen als kontextuell zu erklären und zugleich zukünftige Ereignisse als offen zu betrachten. Dies bedeutet aber nicht, dass sich die in einer Fallstudie gewonnene kontextuelle Erkenntnis in ihrem konkreten Zusammenhang erschöpft. Vielmehr ist es möglich, auf dem Weg der Dekontextualisierung verallgemeinerbare Bedingungen und Prinzipien eines Kontexts zu identifizieren und diese gegebenenfalls auf andere Kontexte anzuwenden. Die wissenschaftlich interessante Erkenntnis besteht dabei in der Aufdeckung transkontextueller, mehr oder minder notwendiger Relationen.

(5) Forschungsziel. In der Konzeption des Raums als räumliche Perspektive und des Handelns als relationales Agieren in konkreten, kontextspezifischen Strukturen sozialer Beziehungen sowie der erkenntnistheoretischen Aufwertung von Kontext durch das Prinzip der Kontingenz findet eine relationale Wirtschaftsgeographie ihr programmatisches, methodologisches Design. Letztlich geht es dabei nicht um die Formulierung von Raumgesetzen, sondern um die sachtheoretische Aufklärung sozioökonomischen Handelns, der sozialen Beziehungen und der Handlungsfolgen in räumlicher Perspektive.

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