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2.3.2Neue relationale Positionen

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Seit den 1990er-Jahren sind zahlreiche neue Positionen in der Wirtschaftsgeographie formuliert worden, die relationalen Perspektiven als Gegenpositionen zu konventionellen raumwirtschaftlichen Erklärungsansätzen und Theorien entwickeln und auf ein grundlegendes Verständnis der interdependenten ökonomischen und sozialen Prozesse innerhalb und zwischen räumlichen Kontexten abzielen (Berndt und Glückler 2006; Bathelt und Glückler 2011, Kap. 1 und 12). Drei derartige Positionen werden nachfolgend mit der Milieuschule, dem Ansatz globaler Produktionszusammenhänge und dem Ansatz einer Praxisgeographie kurz diskutiert.

(1) Regionale Innovation in spezifischen Milieus. Die Milieuschule um die Groupe de Recherche Européen sur les Milieux Innovateurs (GREMI) entwickelte in den 1990er-Jahren eine sozialwissenschaftliche Perspektive, um zu erklären, wieso bestimmte Regionen überdurchschnittlich viele Innovationen hervorbringen (Crevoisier 2004). Ihre Erklärung konzentriert sich vor allem auf die Netzwerke kleiner und mittlerer Unternehmen, die unter spezifischen institutionellen Bedingungen in Form eines spezifischen Milieus über Arbeitsmärkte, Materialverflechtungen und Technologie- und Wissensflüsse miteinander verknüpft sind. Räumliche Nähe und das Teilen von Handlungspraktiken basieren auf gleichen Normen, Routinen und einer gemeinsamen Technikkultur und fördern das Entstehen sozialer Beziehungen zwischen Personen und Unternehmen (Camagni 1991 b; Maillat 1998). In einer der konventionellen kostenbasierten Erklärung entgegengerichteten ­Argumentation führen erhöhte Lern- und Anpassungsfähigkeit und Offenheit für neue Entwicklungen zu einer hohen regionalen Innovationskraft. Obwohl spätere Arbeiten auch milieuexterne Beziehungen zu anderen Regionen untersuchen (Ratti et al. 1997), betont die Milieuschule in erster Linie milieuinterne Prozesse (→ Kap. 10.2).

(2) Globale Wertschöpfungsketten und Produktionsnetzwerke. Im Unterschied zur Milieuschule thematisieren Ansätze über globale Warenketten und Produktionsnetzwerke die überregionalen, zum Teil weltweiten Verflechtungen innerhalb von Wertschöpfungsketten, die dazu führen, dass Entscheidungen über Standorte, Technologien und Innovationsprozesse nicht individuell, sondern im Kontext größerer Beziehungsnetzwerke von Unternehmen gefällt werden. Die Technologie-, Markt- und Produktionsbedingungen sind raum- und häufig nationenübergreifend verflochten. In der Praxis lassen sich unterschiedliche Steuerungsformen unterscheiden, die mehr oder weniger marktorientiert, hierarchisch organisiert oder relational auf interdependente Weise integriert sind (Humphrey und Schmitz 2002; Gereffi et al. 2005). Ansätze globaler Produktionsnetzwerke betonen dabei als Einflussfaktoren die Rolle von Machtbeziehungen, die Bedingungen der Wertschöpfung und die Einbettung in sozio-kulturelle Strukturen in verschiedenen Teilen der Welt. Aus einer Akteursnetzwerkperspektive spielen die zentralen Akteure (dominante Unternehmen und Staaten) eine entscheidende Rolle für die Organisation der Netzwerke (Dicken et al. 2001; Henderson et al. 2002; Yeung und Coe 2015). Traditionelle Erklärungsansätze sind demgegenüber kaum in der Lage, derartig komplexe Netzwerkstrukturen und globale Zusammenhänge adäquat zu erklären. Dabei werden globale gegenüber lokalen Einflüssen besonders hervorgehoben (→ Kap. 11.3).

(3) Praxisgeographie. Die Praxisperspektive entwickelt einen relationalen Ansatz, um die binären Kategorien lokaler versus globaler Handlungsbedingungen zu überwinden. Dies geschieht, indem die Handlungspraktiken von Unternehmen und nicht vordefinierte Raumkategorien in den Fokus der Untersuchung gestellt werden (Faulconbridge 2006; 2008; Ibert 2007; Jones 2008). Aufgrund mikro-ökonomischer Untersuchungen gelangt die Praxisgeographie zu der Erkenntnis, dass Internationalisierungsprozesse von Unternehmen in Netzwerke von Beziehungen eingebettet sind, die sich nicht einer spezifischen Raumebene zuordnen lassen und die nicht einer funktionalen Logik folgen. Demzufolge ist beispielsweise Wissen durch Personen, Maschinen und andere Artefakte zwar lokal verankert, aber es lässt sich nicht als fester Wissensbestand einer Person, eines Unternehmens oder eines Territoriums begreifen. Wissen zirkuliert in Kommunikationsprozessen und wird dabei fortlaufend angepasst (Ibert 2007). Es wird durch soziale Praktiken der Interaktion ständig verändert und ist deshalb nur zwischen räumlichen, sozialen und kulturellen Ebenen als relationales Konstrukt zu verstehen. Ähnlich der Proximity School (→ Kap. 4.2) könnte man sagen, dass hierbei unterschiedliche Nähekonzepte ineinandergreifen (Rallet und Torre 1999; 2017; Boschma 2005; Torre und Rallet 2005).

Neben diesen Positionen gibt es noch weitere Ansätze, wie etwa den der kulturellen Geographien der Ökonomie (Berndt und Boeckler 2007; 2009), die eine Verknüpfung zu einer relationalen Perspektive herstellen. Obwohl die dargestellten Positionen kein vollständig konsistentes Theoriegebäude bilden, handelt es sich dabei um Sichtweisen, die durch wichtige Gemeinsamkeiten geprägt sind (Boggs und Rantisi 2003; Amin 2004; Yeung 2005; Bathelt 2006; Bathelt und Glückler 2011):

 Fokussierung auf wirtschaftliches Handeln und ökonomische Praktiken statt der Analyse von Räumen.

 Argumentation, die auf der Mikroebene ansetzt und die ökonomisches Handeln als soziales Handeln begreift.

 Konzentration auf die Analyse der institutionellen Bedingungen von ökonomischen Beziehungen und Strukturen.

 Ziel, über räumliche Beschreibungen hinaus ein tieferes Verständnis ökonomisch-sozialer Prozesse zu erreichen.

 Analyse der Auswirkungen von Globalisierungsprozessen und global-lokalen Spannungsfeldern und Interdependenzen.

 Entwicklung einer Perspektive pro-aktiver Regionalpolitik.

Diese Grundpositionen werden nachfolgend zu einer relationalen Perspektive wirtschaftsgeographischen Arbeitens verknüpft.

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