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4.5.1Grundkonzeption der Globalisierung
ОглавлениеGlobalisierung ist weder Zustand noch Ursache, sondern ein Prozess der Transformation des Zusammenhangs zwischen Territorium und der Organisation sozio-ökonomischer Beziehungen (Waters 1995, Kap. 1). Dieser Zusammenhang ist das zentrale Element der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Ansätze, die im Kontext der Globalisierung seit den 1980er-Jahren entstanden sind (McGrew 1992; Waters 1995; Giddens 1997; Held et al. 1999; Sklair 1999). Die zunehmende Entankerung ökonomischen Handelns aus dem physischen Raum (Werlen 1997, Kap. 5) ermöglicht dabei sowohl die globale Verbreitung von Gütern, Leistungen, Wissen, Konsumpräferenzen und kulturellen Einstellungen als auch deren Pluralisierung an einem einzigen Ort. Das Herauslösen von Handlungszusammenhängen aus territorialen Bezügen führt im Sinne von Giddens (1997, S. 85) dazu, dass sich soziale Beziehungen weltweit intensivieren und „entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden, dass Ereignisse am einen Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und umgekehrt.“ Dieser Prozess wird von Giddens (1995; 1997) als räumliche Entbettung bzw. Entankerung im Zusammenhang von traditioneller (vor-moderner) und moderner Gesellschaft thematisiert.
Neue Informations-, Kommunikations- und logistische Technologien ermöglichen seit dem 20. Jahrhundert die verstärkte Loslösung sozialer und ökonomischer Interaktionen aus Zeit und Raum – ein Phänomen, das als time-space compression (Harvey 1990) oder zeitkompakter Globus (Beck 1997) bezeichnet wird. Im Bereich der Logistik hat die Mobilität von Personen und Gütern durch Innovationen in der modernen Luftfahrt und durch Hochgeschwindigkeitszüge auf modernen Schienennetzen sowie durch die Massenmotorisierung der Gesellschaft erheblich zugenommen. Distanzen werden in viel kürzerer Zeit überwunden, sodass Entfernungen technologiebedingt zu schrumpfen (McHale 1969) (→ Abb. 4.10) bzw. Raum und Zeit zu konvergieren scheinen (Blotevogel 2000).
Abb. 4.10 McHale’sche Darstellung des schrumpfenden Planeten Erde (nach Dicken 1998, S. 152)
Innovationen im Bereich der Kommunikationstechnologien wie z. B. Intranet, Internet, social media oder Videokonferenzen erlauben den Austausch von Informationen in Echtzeit und schaffen virtuelle Nähe (→ Kap. 4.2). Wertpapiergeschäfte sind nicht mehr auf die Öffnungszeiten der lokalen Börse beschränkt, sondern können von einem beliebigen Standort aus zu fast jeder Tages- und Nachtzeit an anderen Börsen der Welt getätigt werden. Der räumlich und zeitlich immer weniger limitierte Handel von Kapital in einem weltweit integrierten Finanzsystem wird daher zumeist als ideales Beispiel einer verwirklichten Globalisierung angesehen (Castells 1999, Kap. 2). Dabei stellen technologische Innovationen im Bereich der Kommunikation und der Logistik die vielleicht grundlegendsten Rahmenbedingungen für Internationalisierungs- und Globalisierungsprozesse dar (Rosenau 1990; Sklair 1999; Giese et al. 2011). Zudem gibt es eine Vielzahl institutioneller Veränderungen auf internationaler Ebene (z. B. die Beseitigung von Handelsbarrieren und Deregulierung der Finanzmärkte), die das Fortschreiten von Globalisierungsprozessen erst ermöglicht haben (Schamp 1996; 2000 b, Kap. 3.1; Giese et al. 2011). Jedoch kann der Prozess der Globalisierung nicht einfach als Folge von Rahmenbedingungen konzipiert werden, sondern ist vielmehr das Ergebnis strategischen Handelns von Akteuren.
Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, die insbesondere seit den 1980er-Jahren eine neue Dimension (Qualität) des internationalen Austauschs ermöglicht haben, bedeuten aber keineswegs, dass der Prozess der Globalisierung ein gänzlich neues Phänomen ist, wie dies manche Vertreter der Globalisierungshypothese behaupten. Vielmehr setzte der Prozess bereits mit der Industrialisierung ein und wurde schon frühzeitig thematisiert, wie das folgende Zitat von Marx und Engels (1848, S. 23) aus ihrer Analyse der historischen Rolle der kapitalistischen Gesellschaft und ihres Wandels belegt: „Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.“ Tatsächlich kann Globalisierung im Sinne von Marx (1890, Kap. 14) aus dem im Kapitalismus verankerten Streben nach der Produktion von Mehrwert abgeleitet oder im Sinne von Giddens (1997) als Konsequenz aus der in der Moderne verankerten Reflexivität gesellschaftlicher Beziehungen verstanden werden.
Doch selbst vor der Industrialisierung bestanden schon einflussreiche internationale Verflechtungen, z. B. im Rahmen der interkontinentalen Kolonialisierung durch die europäischen Königreiche Spaniens, Großbritanniens und Frankreichs (Harvey 1996). Und selbst vor dieser Zeit existierten entfernte Handelsbeziehungen, z. B. über die Seidenstraße zwischen Europa und China. Internationale Beziehungen zwischen territorial definierten Herrschafts- und Wirtschaftsräumen haben somit eine lange Tradition (Held et al. 1999).
Der moderne Globalisierungsbegriff sollte weder im Gegensatz zu dem Begriff der Internationalisierung, der die geographische Ausbreitung von Aktivitäten über nationale Grenzen hinweg betrachtet (Dicken 1998, Kap. 1), noch zu dem der Denationalisierung gesehen werden, bei dem lokalisierte soziale Handlungszusammenhänge in zunehmendem Maße nationale Grenzen überschreiten (Zürn 1997). Vielmehr sollte Globalisierung als ein historischer Prozess verstanden werden (Schamp 1996; Held et al. 1999; Bathelt 2000; Giese et al. 2011), dessen fortwährende Veränderung der Organisation sozialer und ökonomischer Beziehungen in räumlicher Perspektive zu einer zunehmenden globalen Vernetzung von Aktivitäten und wechselseitigen Abhängigkeiten führt. Historische Phasen der Globalisierung bzw. Internationalisierung können anhand von vier Grundcharakteristika umschrieben und von anderen unterschieden werden. In Anlehnung an Held et al. (1999, Kap. 1) sind dies: (1) geographische Ausbreitung, (2) Intensität, (3) Geschwindigkeit und (4) Wirkung der internationalen Verflechtungen. Die Kombination dieser Charakteristika führte zu einer Reihe unterschiedlicher Typen von Globalisierungs- oder Internationalisierungsphasen. Jede Phase der Globalisierung bzw. Internationalisierung ist dabei abhängig von den jeweiligen historischen Kontexten, wie z. B. den technologischen Bedingungen sowie den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Institutionen und Interessen (North 1991), sodass diese Typen nicht als Stadien linearen Fortschritts, sondern als Bestandteile eines pfadabhängigen, evolutionären Prozesses zu verstehen sind.
Daher ist es unter Umständen schwierig, sprunghafte Veränderungen der weltweiten Produktions- und Konsumbeziehungen empirisch nachzuweisen. Wir begreifen den gegenwärtigen Prozess der Globalisierung als eine fortgeschrittene Stufe der Internationalisierung, deren besondere Intensität und Dynamik es aufzudecken gilt (Bathelt 2000; Giese et al. 2011). Verschiedene Dimensionen des Globalisierungsprozesses, darunter die informatorische, kulturelle, ökologische, politische, zivilgesellschaftliche und ökonomische Dimension (Beck 1997, Kap. 3; Werlen 1997, Kap. 5), werden in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen diskutiert. Die nachfolgende Diskussion konzentriert sich auf die wirtschaftliche Globalisierung in ihrer Bedeutung für die Wirtschaftsgeographie.