Читать книгу Wie aus einem totalen Kollateralschaden ein kollateraler Totalschaden wurde - Harald Hartmann - Страница 10

7

Оглавление

In Berlin wurde vom Bürgermeister die amtliche Nachricht verbreitet, dass sich ein Unfall ereignet hatte auch mit Beteiligung von radioaktivem Material, dass aber alles nicht so schlimm wäre, wie die Medien es darstellten. Man brauchte wirklich keine Angst zu haben, aber man würde den Leuten empfehlen, für ein paar Tage die Stadt zu verlassen natürlich nur, um kein unnötiges Risiko einzugehen. Die Behörden hätten die Lage unter Kontrolle.

Es gab immer wieder Leute, die arrogant über die Dummheit des gemeinen Volkes schwadronierten. Sie wären sicher erstaunt gewesen zu sehen, wie nach dieser Politikerinformation dieses gemeine Volk in existenzieller Intelligenz sofort den Ernst der Lage begriff und panikartig die Stadt zu verlassen suchte. Selbstverständlich waren die Straßen im Nu verstopft und die Nervosität der an der Flucht gehinderten begann zu steigen. Sondersendungen, in denen Experten vermuteten und diskutierten, unterbrachen laufend die üblichen, extrem lustigen Fernsehprogramme im Land und heizten zusätzlich die aufgeregte Stimmung an. Es war etwas los, Langeweile existierte nicht mehr. Das Volk war überzogen von einer kollektiven Gänsehaut. Ungläubig fühlte es sich in die Kulissen eines Hollywood-Filmstudios während der Aufnahmen für einen Katastrophenfilm versetzt. Doch es verhielt sich umgekehrt. Das, was man schon tausende Male in Filmen gesehen hatte, war Wirklichkeit geworden. Was immer nur in Phantasien und Fiktionen lebte, hatte die Schranke zur physischen Wirklichkeit durchbrochen und konnte so das echte und unverfälschte Gefühl vermitteln, wonach alle ja immer auf der Suche waren.

Die Politiker im geheimen Atombunker hatten inzwischen die Gewissheit, dass der Luftaustausch tatsächlich nur unzureichend funktionierte und vielleicht sogar überhaupt nicht, was dann ein SAU (schlimmster anzunehmender Unfall) war, weil am Technikpult des Kontrollraums ein Warnlämpchen aufblinkte, das darauf aufmerksam machte, dass dieser Unfall bereits eingetreten war. Immerhin waren sie nun nach dem Essen nicht mehr hungrig und konnten im Zustand friedlichster Hungerlosigkeit ihre gesamte Energie auf die Bewältigung ihrer misslichen Lage konzentrieren.

Man beschloss, strategisch vorzugehen und sich in kleine Gruppen aufzuteilen, um die verschiedenen Räumlichkeiten der Anlage zu untersuchen. Vielleicht gab es ja Einrichtungen, die ihnen helfen konnten, Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen oder wenigstens ihre Lebenszeit so weit zu verlängern, bis Hilfe eintraf. Ohne zu wissen, wie die Lage draußen war, ging man selbstverständlich davon aus, dass mit Nachdruck an ihrer Befreiung gearbeitet wurde. Schließlich waren sie die Führungsfiguren gleich zweier Staaten und man hatte keine Zweifel, dass beide Völker sie brauchten. Hätten sie in dieser Hinsicht auch nur den leisesten Hauch davon gehabt, wäre es einer beruflichen Selbstdisqualifizierung gleichgekommen. Denn der Glaube an die eigene Unersetzlichkeit und die unerschütterliche Überzeugung, dass die Menschen, sie sprachen immer von den Menschen, als wären sie selbst etwas anderes, sie brauchten, gehörte zur nicht verhandelbaren charakterlichen Grundausstattung eines jeden überlebensfähgen Politikers.

Wie recht sie mit ihrer Annahme hatten, hätte ihnen ein Blick auf die eskalierenden politischen und sozialen Umstände deutlich machen können, wenn sie dazu technisch in der Lage gewesen wären. Mit großer, geübter Geste hätten sie das Missverständnis eines Anschlags auf den iranischen Präsidenten mit einer gemeinsamen Erklärung rasch aufgeklärt und die militärische Bedrohung wäre vom Tisch. In ihrer Unkenntnis pflegten sie die naive Vorstellung vom Ablauf einer normalen Durchschnittskrise da draußen, deren Lösung für sie kein Problem darstellen und ihnen letztlich allgemeinen Respekt einbringen würde oder vielleicht sogar einen Preis von einem richtigen König. Hätten sie aber das wahre Ausmaß der sich auf verschiedenen Ebenen dynamisch und exponentiell ausbreitenden Katastrophe gekannt, hätten sie sich nicht gewünscht, den Bunker wieder verlassen zu können, jedenfalls nicht so bald. So aber, wie die Dinge im Augenblick standen, waren Gedanken darüber müßig, weil sie gar nicht in der Position waren, eine Entscheidung dafür oder dagegen treffen zu können. Gefangen und gleichzeitig beschützt durch die Gnade der versagenden Technik, träumten sie den schönen Traum, die Kavallerie zu sein, die mit Fahnen und Trompeten in gestrecktem Galopp den bedrohten Menschen zu Hilfe kommen und jubelnd und Fähnchen schwingend empfangen werden würde.

Zunächst musste man sich jedoch mit dem bescheiden, was der Bunker an Umwelt zu bieten hatte. Immerhin war das großzügig bemessen. Denn er war nicht klein, sondern groß wie ein Opernhaus, nur mit ganz anderen akustischen Eigenschaften wegen der dicken Wände und der vielen massiven Eisenteile. Angesichts der nicht weg zu diskutierenden Umstände, fand man sich, ohne die üblichen langen, zeremoniellen Debatten, schneller als ein Außenstehender es ihnen zugetraut hätte, in verschiedenen Expeditionstrupps zusammen. Wer mit wem und wie viel war egal und somit alles sehr liberal. Neugierig schwärmte man aus und entdeckte das Vermutete: unterschiedliche Schlafräume, mit mehr oder weniger Betten, sanitäre Anlagen, natürlich getrennt für alle Geschlechter und immer neue Vorratsräume bestückt mit Nahrungsmitteln in Dosen oder allerlei Hygieneartikeln oder mehrstöckig gestapelten Paletten mit vierlagigem, extra weichem Klopapier.

Ein Ruf erscholl, ausgehend von einem dieser namenlosen Expeditionstrupps. Wenn man ihm aber einen Namen hätte geben wollen, um ihn von anderen unterscheiden zu können, so hätte sich bei diesem der Name Ver-Ver-Ex angeboten, auch die Schreibweise Ververex wäre möglich, wobei Ex für Expedition stand, das erste Ver für Verteidigungsminister und das zweite Ver für Verkehrsminister, denn er bestand aus nur zwei Personen, dem blassen, linkischen, unsicheren Verteidigungsminister und dem chronisch uninformierten, aber zum Ausgleich dafür wichtigtuerisch klugscheißenden Verkehrsminister, die ihre Sympathie für ein gemeinsames, ressortübergreifendes Handeln hier zum ersten Mal auch auf menschlicher Ebene entdeckt hatten. Wieder einmal bestätigte sich der Satz, dass sich Gegensätze anzogen. Von dieser Zusammenarbeit versprachen sie sich für die Zukunft bedeutende Synergieeffekte auf dem schwierigen Gebiet der Machterhaltung. Und wie zum Beweis für die Richtigkeit dieser Strategie entdeckte Ververex schon bald einen gut ausgestatteten Lagerraum mit einer großen Anzahl von Sauerstoffflaschen, die ordentlich aufgereiht und gegliedert in stabilen Regalen untergebracht waren. Das war der Grund für den soeben erschollenen Ruf.

Sofort wurden die anderen Expeditionsteilnehmer so hellhörig wie Eulen in der Nacht, lösten im Nu ihre von taktischer Vernunft bestimmte Ordnung auf und stürmten, in hoffnungsvoller Hektik, sich fast über den Haufen laufend, heran. Interessiert aber hilflos starrten sie in den Raum. Jetzt schlug die große Stunde des Verkehrsministers, der zu der Zeit, als er noch einfacher Abgeordneter war, einmal mit einer Gruppe von Parlamentsabgeordneten eine zweiwöchige Reise zu den Malediven unternommen hatte, um sich vor Ort mit eigenen Augen über die Fortschritte demokratischer Verkehrsstrukturen auf diesem Inselstaat zu informieren. Das schloss selbstverständlich ein Faules-am-Strand-liegen aus und verlangte die Teilnahme an allen von der Regierung freundlicherweise angebotenen Informationsmöglichkeiten. Dazu gehörte auch ein intensiver Tauchkurs, der ihn dazu in die Lage versetzen sollte, die Unterwasserprobleme der Malediven aus verkehrspolitischer Sicht besser verstehen zu lernen. Neben dieser wichtigen Erweiterung seines maledivischen Verständnisses war als praktischer Nebeneffekt noch etwas anderes hängen geblieben. Er hatte gelernt, wie ein Sauerstoffgerät zu handhaben war und konnte so sein damals erworbenes Wissen zum Wohle der anderen nun weitergeben. Das geflügelte Wort „Reisen bildet“ hatte sich hier in hervorragender Weise bestätigt und wieder einmal gezeigt, dass man mit dem bösen Wort von der Steuergeldvergeudung, das Abgeordneten manchmal an den Kopf geworfen wurde, vorsichtig und nicht vorschnell umgehen sollte.

Keine Theorie ohne Praxis war ein wichtiger politischer Grundsatz, den man nicht vernachlässigen durfte, und deshalb probierten alle aus, was der Verkehrsminister ihnen soeben über den Gebrauch solcher Geräte beigebracht hatte. Mit geschulterten und eingeschalteten Atemgeräten liefen die Politiker, es waren elf an der Zahl, wie sich beim Durchzählen herausstellte, umher, winkten sich zu, gaben sich Zeichen, hatten damit intuitiv, ganz nebenbei, eine gemeinsame, international zu verstehende Sprache gefunden und freuten sich über die reine, zusammengedrückte Luft, die jeder privat für sich auf diese Weise einatmen konnte. Man tapste herum und alberte ein wenig. Der iranische Präsident imitierte Schwimmbewegungen, so dass die anderen lachen mussten, was aber natürlich nur nach dem Herausnehmen des Mundstücks möglich war. Dann wurde es dem Verkehrsminister als momentan unbestrittener Experte der Sauerstofftechnik irgendwann zu bunt, und er beendete das Spiel.

Jeder konnte sein Gerät behalten und sollte mit Filzstift seinen Namen darauf schreiben, auch um, hygienisch einwandfrei, keine Verwechslungen der Mundstücke zuzulassen. Wie Kinder in der Schule über den Lehrer, so meckerten und maulten daraufhin alle ein bisschen über den besserwisserischen, plötzlich so humorlosen Verkehrsminister, der jedoch souverän alle solchen Äußerungen überhörte, und stellten dann aber doch die Geräte brav zur Seite. Nach dieser Aufregung nahmen die Suchgruppen wieder ihre Expeditionen auf und schwärmten aus auf der Suche nach einer vergrabenen Lösung.

Die Gesundheitsministerin und die Arbeitsministerin, die im Kabinett immer um die Gunst des Kanzlers buhlten und die den Kollegen wegen ihres Gezänks oft genug auf die Nerven gingen, bildeten erstaunlicherweise, aber vielleicht in Anbetracht der besonderen Lage verständlich, ein gut funktionierendes Team, was den Kanzler für die Zukunft hoffen ließ. Sie hatten nämlich bald die nächste interessante Entdeckung gemacht. Es war ein kleines Gerät mit einer Art Mikrofon, von dem sie aber nicht wussten, zu was es gut war. Der Arbeitsministerin kam sogleich in den Sinn, dass sicher einige ihrer hoch qualifizierten Langzeitarbeitslosen gewusst hätten, um was es sich dabei handelte und dass sie jetzt gerne ihre Kompetenz zu Rate gezogen hätte. Mit verständnislosem Gesicht zeigten sie das Gerät natürlich sofort den anderen, die daraufhin staatsmännisch ihre Stirn in Falten legten und begannen, sich ganz unstaatsmännisch am Kopf zu kratzen.

Der Kanzleramtsminister, ein berüchtigter Grobling auf diplomatischem Parkett, kam hinzu und griff sich wortlos das Gerät. Er teilte den anderen unwirsch und sie verächtlich belehrend mit, dass dieses Ding natürlich ein Geigerzähler wäre. Allen entfleuchte ein lautes Ahhh, und er demonstrierte ihnen mit einer übertrieben untertriebenen Beiläufigkeit seine ausgereifte Einhandtechnik, mit der dieses sogenannte Ding ganz leicht zu bedienen war.

Er schaltete das Gerät ein, und es gab sofort einen knatternden Ton von sich. Alle starrten erschreckt auf die weit ausschlagende Anzeigennadel. Der Kanzleramtsminister bewegte sich nun langsam und mit gezücktem und entsicherten Geigerzähler unter den ängstlich interessierten Augen der Anwesenden im Raum umher. Mal verstärkten sich die Knattertöne bedrohlich, dann schwächten sie sich wieder ab. Das ganze war aber nur so eine Art Probelauf zur Einstimmung. Er hatte nämlich einen Zwei-Stufen-Plan entwickelt, was eine beachtliche Leistung war in der Kürze der Zeit. Zuerst sollte das kleine Erschrecken kommen und danach das große. Die erste Stufe hatte er soeben geschafft. Jetzt kam die zweite.

Er wandte sich der Gruppe zu und nahm sich mit dem Messgerät einen nach dem anderen vor. Alle bekamen es mit der Angst. Die Spannung wurde so dicht, dass selbst die von den Stirnen hinunter tropfenden Schweißperlen sie nicht erweichen konnten und wirkungslos von ihr abperlten. Es knatterte bei jedem ein wenig, aber als er sich dem iranischen Präsidenten näherte, ertönte ein gefährlich lautes Hochgeschwindigkeitsknattern, und die Nadel spielte regelrecht verrückt. Schneller als man es von den meist übergewichtigen, körperlich unbeweglichen und muskulär hoch defizitären Herrschaften erwarten konnte, hatten alle erschreckt das Weite gesucht, so weit es unter diesen Umständen eben ging. Natürlich hatte der Schrecken auch den Präsidenten erfasst, zunächst wegen des lauten Knatterns und dann wegen der Erkenntnis, plötzlich und ohne Vorwarnung ein Isolierter zu sein. Ihm wurde schlecht, und er suchte verzweifelt nach einem Stuhl, auf den er sich setzen konnte. Aber da hielten ihm alle sofort und gleichzeitig ihre offenen Handflächen mit ausgestreckten Armen abwehrend entgegen, als wären sie ein einziger Organismus und riefen ihm sehr aufgeregt zu, er sollte bleiben, wo er war, man brächte ihm einen Stuhl. Der Kanzler höchstpersönlich holte einen Stuhl und gab ihm einen kräftigen Stoß mit dem Fuß, so dass dieser quietschend über den Boden bis zu seinem Amtskollegen rutschte. Der nahm erst einmal dankend Platz, um sich über seine neue Situation klar zu werden. Es war kein guter Tag für ihn. Eben noch hatte er zuversichtlich an ein Happy End geglaubt, jetzt blickte er sorgenvoll in seine persönliche Zukunft.

Die anderen, relativ radioaktiv Unverseuchten, zogen sich in einen Nebenraum zurück, um sich zu beraten, vergaßen aber nicht, dem Präsidenten zu sagen, er sollte auf gar keinen Fall versuchen, ihnen zu folgen. Da saß er nun allein in einem fremden Land, abgeschnitten von der Außenwelt und wusste nicht, wie ihm geschah. Völlig unschuldig war er zu einem Aussätzigen geworden. Die Schnelligkeit und der wache Instinkt, mit dem das Rudel reagiert und ihn aus der Gemeinschaft geworfen hatte, machte ihm deutlich, wie knapp die Menschen mit ihrer ganzen Kultur erst von dem Niveau ihrer genetischen Wildheit entfernt waren und wie kurz der Weg zurück dorthin war. Ein ungeheures Gefühl der Einsamkeit erfasste ihn und eine grenzenlose Traurigkeit, weil er zu wissen glaubte, dass er nun zu einem einsamen Sterben verurteilt war.

Die anderen hatten bald ihre Beratungen beendet und kamen vorsichtig in den Raum zurück. Man teilte ihm mit, dass man aus Sicherheitsgründen beschlossen hätte, einen Mindestabstand von drei Metern zu ihm einzuhalten. Es war eine Untergrenze, die auf keinen Fall überschritten werden durfte und funktionierte somit vom Prinzip her nicht anders als jede beliebige Obergrenze. Grenzen waren eben immer und überall Grenzen, und Regeln waren immer Regeln. Er sollte es aber bitte nicht persönlich nehmen, weil es eine vollkommen unpersönliche Entscheidung war. Essen und Trinken würde man ihm selbstverständlich hinüber schieben. Der Kanzler, sich seiner Stellung und damit auch seiner Pflicht bewusst, brachte sogar eigenhändig das Sauerstoffgerät in seine Nähe, zog sich dann aber schnell und halb peinlich, halb bedauernd und sich entschuldigend zurück.

Wie aus einem totalen Kollateralschaden ein kollateraler Totalschaden wurde

Подняться наверх