Читать книгу Wie aus einem totalen Kollateralschaden ein kollateraler Totalschaden wurde - Harald Hartmann - Страница 11
8
ОглавлениеDie iranische Regierung hatte unterdessen, da schon sechs Stunden nach der Verkündung ihres Ultimatums verstrichen waren und sie immer noch kein Lebenszeichen ihres Präsidenten erhalten hatten, ihre Drohung noch einmal bekräftigt, indem sie durch ihre Botschaft die Medien über ihre unveränderte Entschlossenheit in Kenntnis setzte. Wie ein hungriger Hund auf einen Knochen, so stürzten sich Presse, Rundfunk und Fernsehen auf den Köder, in Erfüllung ihrer heiligen Informationspflicht, und eine neue Welle des Erschreckens und der Hysterie schwappte dadurch hochgequirlt über das ganze Land. Mission erfüllt. Kalkulation erfolgreich.
Die iranische Regierung hatte auch deshalb den Druck in dieser Weise erhöht, weil man es leid war, immer nur mit deutschen Politikern zu sprechen, die nichts zu sagen hatten. Sie glaubte einfach nicht diese Geschichte von radioaktiver Verseuchung, defektem Atombunker und Kommunikationsunfähigkeit, die ihr da aufgetischt wurde. Das passte nicht in ihr Bild von deutscher Ordnung, deutscher Wertarbeit und deutscher Perfektion. Diese offensichtlichen Lügen waren eine Beleidigung für ihre Intelligenz. Deshalb ließ sie vorsorglich schon einmal die erste Rakete startklar machen. Bis hierhin hatte man getan, was man tun konnte, um diese Deutschen, oder steckten am Ende doch die Amerikaner dahinter, zum Nachgeben zu bewegen. Jetzt musste man abwarten.
Zum Glück brauchte man nicht untätig herumzusitzen und sich zu langweilen, sondern konnte die Zeit, bis es Reaktionen gab, elegant mit aufregender Unterhaltung überbrücken. Denn just zu diesem Zeitpunkt begann im Fernsehen der dritte und letzte Teil des spannenden Thrillers „Die Frau ohne Schleier“, der in den ersten beiden Folgen die gesamte Bevölkerung in seinen Bann geschlagen und sich als wahrer Straßenfeger erwiesen hatte, so wie es hierzulande vielleicht vor vierzig oder fünfzig Jahren zuletzt möglich gewesen war, als Frauen noch Halstücher trugen.
Jeder wollte natürlich, so wie überall die Menschen auf der Welt, wissen, wer der Böse war. Und so saß die zu Hause gebliebene Regierungsmannschaft gemeinsam versammelt und Fingernägel kauend vor einem großen Bildschirm. Auf den Tischen vor ihnen standen prall gefüllte Schalen voller Pistazien, die zur Stressabfuhr durch ununterbrochenes Knabbern während der aufwühlenden Handlung dienen sollten und in dieser Hinsicht auch tatsächlich wertvolle Dienste leisteten. Fast hätte man so, in diesem paradiesischen Moment der kollektiven Entrücktheit, den Präsidenten und sein ungeklärtes Schicksal vergessen.
Auch das Fernsehen in Deutschland, das auf allen Sendern und Kanälen die Drohung zelebrierte wie ein Drei-Sterne-Koch sein Menu, in Zeitlupe, Superzeitlupe und aus dreiundachtzig verschiedenen Kameraperspektiven, hatte mit diesem bedrohlichen News-Thriller phänomenale Einschaltquoten. Es gab für eine kurze Zeitspanne nur glückliche Fernsehdirektoren. Nun konnte man zeigen, dass man das perfekte Knowhow hatte, mit professionell richtig schmackhaft aufbereiteter Information und unter Verwendung aller Möglichkeiten einer inzwischen zur Verfügung stehenden überwirklichen Technik, die Leute nach allen Regeln der digitalen Kunst zu erschrecken oder auch einfach nur digital ohne jede Kunst. Einige Moderatoren bewiesen auf diesem Gebiet ein überragendes Talent, das man auf keinen Fall in Vergessenheit geraten lassen sollte. Nicht genug damit erschienen wie auf Knopfdruck überall Experten, so als würden die Sendeanstalten sie ständig neu gebären oder würden sie in Kühlräumen bis zu ihrer nächsten Verwendung im Standby-Modus vorhalten. Wohin man auch schaltete, überall saßen eiligst zusammengetrommelte Experten aller Art und verschiedenster Provenienz beisammen, Journalisten, Politiker, Professoren, Künstler, allerdings komischerweise keine Sportler, und demonstrierten ihre hochentwickelte Fertigkeit, sorgenvolle Mienen aufzusetzen oder ihren Stimmen eine Schwingung von solcher Ernsthaftigkeit zu übertragen, dass diese unter der Last fast versanken. Man spürte förmlich ihre Lust, sich bei dieser einmaligen Gelegenheit ihrer Eitelkeit ungehemmt hingeben zu können. Wenn man darüber nachdachte, wo sie alle so schnell hergekommen waren, schlich sich auch noch eine andere Vermutung mit einem langsam zunehmenden Aha-Effekt ins Bewusstsein ein, dass nämlich diese Experten eigentlich immer zusammen saßen und tagten und tagten, auch bei Nacht und bei ganz normaler Raumtemperatur, ein ständiger Expertenrat also, der nur in Krisenzeiten für alle sichtbar gemacht und zugeschaltet wurde, damit sich seine Wirkung nicht vor der Zeit abnutzte.
Leute, die man längst für tot gehalten hatte, erstanden wieder auf und redeten wie vom Heiligen Geist erleuchtet. Und tatsächlich war es ja auch so, wenn man nur genau hinhörte und hinsah. Expertenrunden hatten etwas Heiliges. Die ausgewiesenen Träger des Wissens und der Weisheit, die Erklärer der Welt feierten ein Hochamt im Namen der Vernunft und die Zuschauer, gleich wo, waren von einem Schauer ergriffen, einem ebenfalls heiligen.
Dieses Land, das über viele Jahrzehnte keine Katastrophe größeren Ausmaßes erlebt hatte, aber über viele Jahre Tag für Tag mit ausgedachten Katastrophen in Filmen oder wirklichen in den unentfliehbaren Nachrichten versorgt worden war wie ein Süchtiger mit Stoff, trug aus dieser unerfüllten Erfahrung einer selbsterlebten, realen Katastrophe einen Sog in sich, eine irrationale Lust, das Gleichgewicht zwischen Frieden und Krieg wiederherzustellen. Die unheilsschwangeren Stimmen, die besorgten Gesichter, die erhobenen Zeigefinger trafen den Nerv des Publikums. Die wild brodelnde Gerüchteküche erzeugte gleichzeitig eine apokalyptische Angst und ebenso ein Gefühl fatalistischer Erleichterung. Alles war mehr wie ein Spiel, denn keiner glaubte wirklich, dass das Spiel die Grenzen der elektronischen Medien verlassen und in die körperliche Wirklichkeit einbrechen könnte. Auf diesem Gebiet, durch jahrzehntelange Erfahrung konditioniert und so der Realität entwöhnt, hatte man gelernt, dass man die Bilder in diesem Kasten mit Namen Fernsehgerät einfach abstellen konnte, und dass der furchtbare Traum dann augenblicklich wie ein Spuk vorbei und verschwunden war.
Nachbarländer verfolgten auch mit einem gewissen Neid, was da in Deutschland vor sich ging, denn die Menschen in diesen Ländern waren grundsätzlich nicht anders in ihrem Verständnis der Welt. Auch hier sehnten sie sich nach dem authentischen Gefühl, nach frischer, unverbrauchter Ware. Gierig nahmen sie ihren eurovisionären Anteil, und zuverlässig stellten sich auch hier dieselben Erscheinungen in den Medien ein. Die Welle des ungläubigen Entsetztseins machte nicht vor irgendwelchen Landesgrenzen halt. Die Macht der Nachrichten hatte die Herrschaft in halb Europa übernommen und breitete sich, ohne auf nennenswerte Widerstände zu treffen, epidemisch weiter aus. Ziel war ganz klar die sagenhafte Weltherrschaft, ein Weltreich der Nachrichten, dessen zerbrechlichen Zustand, vergleichbar auch mit dem von meteorologischen Gebilden, man vielleicht über mehrere Tage am Leben halten konnte. Es war das Journalistenparadies, in dem lustvoll bis zur Erschöpfung ununterbrochen berichtet werden durfte, aber auch musste, und man den Leuten zeigen konnte, wie sehr man sich um ihre Seelen kümmerte. Ein magischer Schutzschirm war so aufgespannt worden, der diese empfindliche Weltherrschaft bewahren sollte. Erst einmal gab es aber keinen Anlass zu glauben, dass die Magie Schaden nehmen könnte, denn es gab, weil alle viel, aber niemand etwas Genaues wusste, genug Raum zur Spekulation, die eine notwendige Zutat dieses Zaubers war. Es reichte sogar schon, um die Bevölkerung zu bannen, wenn man Genaues darüber berichtete, wie und was andere über das Ungenaue berichteten.