Читать книгу Wie aus einem totalen Kollateralschaden ein kollateraler Totalschaden wurde - Harald Hartmann - Страница 8

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Willi Winkowski, der Fahrer des geheimen Transports, hörte von dem vor ihm liegenden und inzwischen schon 20 km langen Stau im Radio. Kurz entschlossen änderte er eigenmächtig die vorgegebene Route und verließ die Autobahn an der letzten Ausfahrt vor dem Stau. Willi Winkowski, ein langjähriger, sehr zuverlässiger LKW-Fahrer eben dieser deutschen Spedition, die vor kurzem noch im Kopf von Burkhard Börns ihr Unwesen getrieben hatte, war nicht eingeweiht in Einzelheiten über die Art seiner Fracht. Es kam immer, wie es kam, und es kam immer wieder einmal vor, dass er lieber nicht wissen wollte, was er transportierte. Dieses Gefühl hatte er auch dieses Mal gehabt. Er hatte gespürt, dass das kein stinknormaler Job war, dazu hatte er einfach zu viel Erfahrung. Die Geschichte beunruhigte ihn jedoch nicht weiter, denn mit irgendwelchen besonderen Transporten, über die man ihm keine Einzelheiten erzählen wollte, hatte er inzwischen soviel Routine, dass es für ihn keinen Unterschied mehr machte, ob er Bescheid wusste oder nicht. Was er aber wusste, war, dass er für diese speziellen Transporte mehr Geld bekam, auch in bar, und deshalb machte er sie sogar gerne.

Er machte es also wie immer und suchte den schnellsten Weg. Er kannte alle möglichen Ausweichrouten und Schleichwege, er musste sie auch kennen, um im Berufsalltag die vorgegebenen, immer zu knapp bemessenen Zeiten einhalten zu können. Dieses Mal war es erstaunlicherweise anders gewesen, noch anders als bei anderen Spezialaufträgen, was auch der Grund war für sein eigenartiges Gefühl bei diesem Auftrag. Die Zeit war nämlich sogar so großzügig bemessen, dass er verwundert einige Male heftig in seinen mächtigen Vollbart gepustet und sich gefragt hatte, ob die Firmenleitung vielleicht überraschend bemerkt hatte, dass die Fahrer Menschen waren.

Heute also, bei diesem Transport, herrschten für ihn die besten Bedingungen, die ein LKW-Fahrer haben konnte. Es gab nicht den üblichen Stress, und es wäre überhaupt nicht nötig gewesen, dem Stau auszuweichen, um Zeit zu gewinnen. Er hätte den Stau in Ruhe aussitzen können, ohne seine Nerven strapazieren zu müssen. Doch dieses Mal hatte er sich einen eigenen Zeitplan vorgegeben, weil er gerne rechtzeitig ankommen wollte, um sich das Champions-League-Finale, in dem sein Lieblingsverein stand, heute Abend im Fernsehen anzusehen. Seit er vor zwölf Jahren aus Polen gekommen war, um in Deutschland zu arbeiten, war er ein Anhänger des Fußballvereins von Bayern München, ganz einfach, weil er zu den Besten, zu den Siegern gehören wollte. Warum sollte er sich mit weniger zufrieden geben? Der heutige Abend würde wieder einen Triumph bringen, und am Ende, da war er sicher, würde er vor lauter Freude bestimmt nicht mehr tanzen können.

So also fuhr ein LKW-Fahrer mit einem Kopf voller Fußbälle, die ihn zur Eile antrieben, durchs Land. Was er bei seiner eigenmächtigen Routenänderung nicht wissen konnte, war, dass eine 21jährige Praktikantin einen Politiker bei seinen Annäherungswünschen zurückgewiesen hatte, und er als Folge davon einen kurzen, unerwarteten und tödlichen Kontakt mit dem Urheber seines Transportauftrags haben würde. Die Frage war, ob man dem Fahrer einen Vorwurf machen konnte, weil er solche Umstände mit in seine Überlegungen und Vorbereitungen hätte einbeziehen müssen. Gleich wie, verpasst hat er an diesem Abend zum Glück aber nichts, weil das Spiel wegen der katastrophalen Ereignisse des Tages abgesagt worden war. Verloren hatte er somit auch nichts, weil seine zwanzig Euro Wetteinsatz auf einen Sieg der Bayern wieder zurückerstattet werden würden, was aber nun in seinem Fall nicht zu geschehen brauchte.

Burkhard Börns war wie durch ein Wunder dem ganzen von ihm angerichteten Durcheinander heil entkommen und raste mit dem gestohlenen Porsche weiter durch Berlin. Irgendwann wurde es dunkel, und er sah nichts mehr. Er hörte einen Knall, und dann hörte er auch nichts mehr. Denn er hatte den Wagen in eine Tiefgarage gelenkt, ihn gegen eine Wand gesetzt und dabei den Airbag ausgelöst. Nachdem das Motorengeräusch verstummt war, hatte er sich ein wenig zur Seite geneigt und war dann eingeschlafen, zu alledem auch noch unberechtigterweise auf einem Frauenparkplatz.

Die Politiker der Tafelrunde im Verteidigungsministerium konnten indes in Unkenntnis all dieser Umstände nur den Kopf über das Geschehene schütteln, weil sie nicht eindringen konnten in den Ereigniskörper, weil sie nicht durch die harte Oberfläche stoßen konnten und weil es so für sie nichts zu verstehen gab. Doch selbst wenn man ihnen alles wahrheitsgemäß erzählt und erklärt hätte, wäre es von wenig Nutzen gewesen, weil sie immer nur gelernt hatten, mit unrealistisch vereinfachten Modellproblemen zu arbeiten, um so am Ende zu den Ergebnissen kommen zu können, die sie sich am Anfang vorgestellt hatten. Wichtig war nun jedenfalls, das wusste oder besser gesagt spürte auch ein Politiker der zweiten Reihe, sobald er einmal in der ersten Reihe stand, die Bevölkerung zu beruhigen, ohne sie zu beunruhigen. Man musste sie mit einer gehörigen Dosis Führungsstärke einschläfern. Es gab nichts Besseres als einen gut geführten Schlaf. Wer schlief, war beruhigt.

In dieser Situation, da die Macht anklopfte, erhob sich in der Tafelrunde ein bisher im Bundestag wenig auffällig gewesener Abgeordneter, der gerne manchmal abfällig als Hinterbänkler bezeichnet worden war, und öffnete ihr so selbstverständlich, als wäre er mit ihr schon lange vertraut. Er sprach. Alle klatschten. Er bedankte sich und verbeugte sich, so wie es Mächtige tun. Er war der Auserwählte der Macht, er war ihr Körper, denn die Macht duldete kein Vakuum in ihrer Nähe.

So etwas hätte ihm gestern natürlich keiner erzählen können, ohne dass er ihn dafür ausgelacht hätte. Noch heute Morgen hatte er einem ruhigen Tag mit intensivem Zeitungsstudium bei schwarzem Kaffee und einer leichten Havanna entgegen gesehen, und nun fand er sich wieder im Zentrum der politischen Entscheidungen und spürte eine sich in ihm aufrichtende, nie in dieser Intensität erlebte Kraft, die sich vor nichts fürchtete. Auf seinen Vorschlag hin, der mehr einer Anweisung glich, entschied man sich, unverzüglich die Bundeswehr in Marsch zu setzen mit dem Auftrag, Berlin zu evakuieren.

Das war, wie sich herausstellte, leichter gesagt als getan. Zum einen herrschte durch die Abwesenheit des Verteidigungsministers, Unklarheit, um nicht zu sagen Irritation, über die nun bestehenden Befehlsstrukturen in der Truppe. Die Fäden, die sonst beim Minister zusammenliefen, endeten frei schwebend in einer Art luftleeren Raums und waren in Gefahr, sich zu einem schwer zu entwirrenden Knäuel zu verknoten. Zum anderen war die Bundeswehr von der Plötzlichkeit des Einsatzbefehls überrascht, weil sich bis dahin auch nicht das kleinste Wölkchen am Himmel gezeigt hatte, das auf einen Sturm hingedeutet hätte. Sie wurde, wie es so schön heißt, auf dem falschen Fuß erwischt. Dass sie in tiefster Ruhe still wie ein Kind in seinem Bett schlummerte, war aller Ehren wert. Zeigte es doch ihren defensiven und somit friedlichen Charakter, was die übrige Welt als ein positives Signal sehen und sie beruhigen sollte. Was einen äußeren Feind betraf, hatte die Bundeswehr mit ihrer Einstellung absolut recht. Dass sich aber tatsächlich auch Katastrophen, die theoretisch ihren Einsatz erforderten, durch Dummheit, Inkompetenz, Ignoranz, Ungeduld oder Gleichgültigkeit im Land selber entwickeln konnten, überraschte sie in ihrer so leidenschaftlich friedfertigen Praxis.

Ein ansehnlicher Teil des Personals war in Urlaub oder in Therapie, was man grundsätzlich begrüßen sollte und zeigte, dass die Bundeswehr, was Politiker so oft gefordert hatten, tatsächlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen war. Nicht wenige befanden sich auf den Krankenstationen, und der Rest hatte gerade Mittagspause. Es war also alles in bester Ordnung, ein Idealzustand, der immer angestrebt wurde, und nun musste man erleben, wie diese so mühsam aufgebaute Ordnung wieder durcheinandergebracht wurde. Was das Material anbetraf, das nun schnellstmöglich für die Evakuierung zum Einsatz kommen musste, also hauptsächlich Busse und Lastwagen, war vieles reparaturbedürftig und somit nicht gleich einsatzfähig. Wegen Geldmangels ging es mit der Ersatzteilbeschaffung nur schleppend, was unter normalen Umständen kein Problem war, aber jetzt plötzlich jeden künstlich aufregte von der Generalität bis ins Verteidigungsministerium. Da jedoch der Minister nicht da war, um die Verantwortung von sich auf andere abzuschieben, entspannte sich bald die Atmosphäre. Ganz pragmatisch beschloss man zu schicken, was möglich war, und so rückten die einsatzfähigen Teile der Bundeswehr von allen Seiten auf die Hauptstadt vor.

Unter den Soldaten war man, trotz der wiederholten Beteuerung, dass es sich um einen Ernstfall handelte, der Meinung, es sei ein als Ernstfall getarntes, groß angelegtes Manöver, das von langer Hand vorbereitet war und in das auch die zivile Öffentlichkeit durch die gezielte Verbreitung von Falschmeldungen mit einbezogen wurde, und die auf diese Weise in der augenblicklichen Zeit des Wahlkampfs durch eigenes Erleben erfahren durfte, wie sehr die Regierung sich um ihre Sicherheit kümmerte.

Aufgrund dieser Annahme ging der Abmarsch in gewohnt menschenfreundlicher Betulichkeit vor sich, weil man auf keinen Fall durch zu viel Schnelligkeit schlafende Hunde wecken wollte. Dieser Absicht war dann auch auf ganzer Linie Erfolg beschieden. Die Hunde konnten weiter schlafen. Eine solche Truppe, die sich nicht verunsichern ließ, ruhig, besonnen und eigenverantwortlich handelte, konnte nur das Ziel aller demokratischen Staaten sein. Das war die wahre Schule der Nation, die von den Regierungen so gerne beschworen wurde und die sich hier in geradezu vorbildlicher Weise verwirklicht hatte.

Doch im Verlauf ihres Einsatzes kamen in der Truppe immer größere Zweifel auf, ob es sich wirklich nur um ein Manöver handelte. Echt waren die blockierten Straßen, die von der Hauptstadt wegführten und ein Vorwärtskommen nur im Schneckentempo ermöglichten. Echt waren die hektischen Vorratseinkäufe von Lebensmitteln überall und damit auch die leeren Regale in den Supermärkten, eine Leere, die Furcht auslöste und als Indiz einer existenziellen und kurz bevor stehenden Gefahr gedeutet wurde. Echt waren auch die Menschenschlangen vor den Banken, deren Bargeldvorräte bald erschöpft waren und so ein schnell wachsendes Zornpotential in der Bevölkerung erzeugten, was als wahlkampftaktische Maßnahme ein völlig untaugliches Mittel gewesen wäre. Die Menschen dieses Landes verschmolzen unter diesen Voraussetzungen unbewusst mehr und mehr zu einem gemeinsamen Organismus. Es war, als erwachte ein bisher friedlich schlafender und träumender Riese, der durch unsanftes Wecken in eine ausgesprochen schlechte Laune geraten war, und der sich mürrisch umblickte, sich zu orientieren versuchte und schließlich seine Hilflosigkeit erkannte, weil er nicht wusste, wo er sich eigentlich befand.

Das alles registrierten die tapferen Soldaten der Truppe mit Hilfe ihres gesunden Menschenverstandes und analysierten aus ihren Beobachtungen die Existenz ernster Alarmzeichen, was sie an ihrer bisherigen Einschätzung der Lage berechtigt zweifeln ließ. Denn auch sich hilflos fühlende Riesen verfügten doch weiterhin über Riesenkräfte, die sie ungelenkt durch die Vernunft und gereizt durch ihren Zorn in massive zerstörerische Energien umsetzen konnten.

Dank des Fleißes der allgegenwärtigen Medien, die die Welt unermüdlich nach wirtschaftlich verwertbaren Nachrichten abtasteten, um sie geschickt aufbereitet und verpackt zu verkaufen, blieben solche Vorgänge nicht auf einen Ort beschränkt. Schnell breiteten sich die Meldungen über mehr und mehr und sich überall ereignende bedrohliche Vorgänge aus, unaufhaltbar durch jedwede irdischen Kräfte in ihrer libidonösen Entfesselung. Handelte es sich gar, wie heute, um die raren, alles durchbrechenden Nachrichten wurde sogar die ganze Welt in kürzester Zeit wie von einer Epidemie erfasst, in Lichtgeschwindigkeit sozusagen. Moderne Medien waren die einzige Macht, die es schaffen konnte, die Welt ohne traditionelle Waffen, ohne explosive Hardware, zu beherrschen.

Natürlich wollten sie das von Natur aus fragile Reich, das sich auf der Basis einer Nachricht gründete und das immer dem Zustand einer schwebenden Seifenblase glich, möglichst lange am Leben erhalten und wachten eifersüchtig über ihre Macht. Doch letzten Endes war nicht die Dauerhaftigkeit einer Seifenblase ihre Absicht und nicht die eigentliche Technik, an der sie arbeiteten. Es ging vielmehr um eine Erzielung von Langfristigkeit durch Wiederholbarkeit, um den Eindruck von Stabilität durch die ständige Erzeugung von unablässig aufeinander folgenden neuen Seifenblasen. Es war der immerwährende Aufbau kurzlebiger neuer Reiche durch den unaufhörlichen Strom an Neuigkeiten, ob wirklich wahr, nur behauptet oder Ressourcen schonend recycelt, spielte keine Rolle, die einen wärmenden Mantel von fürsorglicher Medienmacht über die Menschen ausbreiteten.

Wie aus einem totalen Kollateralschaden ein kollateraler Totalschaden wurde

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