Читать книгу Wie aus einem totalen Kollateralschaden ein kollateraler Totalschaden wurde - Harald Hartmann - Страница 4
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ОглавлениеBurkhard Börns, seines Zeichens Parlamentsabgeordneter der Regierungspartei in Berlin und 53 Jahre alt, hatte vergeblich versucht, seine 21 jährige Praktikantin mit eindeutigen Annäherungsversuchen zu einem Rendez-vous zu überreden. Aus Ärger darüber hatte er seinen Arbeitstag ausnahmsweise schon gegen Mittag beendet, nicht ohne seine Praktikantin vorher mit unhöflich viel Strafarbeit eingedeckt zu haben. Er selbst war zum Mittagessen in einen Biergarten gegangen. Zum Essen trank er reichlich Bier, aber weil sein Ärger noch nicht besänftigt war, beschloss er, die Dosis zu erhöhen. Wie jeder wusste, trat irgendwann der Punkt ein, an dem man handelte, ohne dass das strenge, gnadenlose Bewusstsein darüber Buch führte. Ordnungsgemäß hatte er seine Rechnung bezahlt, dem Kellner ein ungewöhnlich großes Trinkgeld gegeben und war losmarschiert, allerdings ohne zu wissen, wohin. Sein Autopilot hatte die Steuerung übernommen und schien seine Freiheit zu genießen, wie man an den Schlangenlinien sah, mit denen der Abgeordnete Börns in ausschweifender Ungradlinigkeit fortbewegt wurde.
Doch dieser, bis hierhin für jeden noch als normal zu bezeichnende Vorgang, wurde durch die nun einsetzenden Ereignisse in seinem Fluss unterbrochen, und wandelte sich zu einer neuen Qualität, der Qualität des Unnormalen. Es geschahen Vorgänge, die weit über die friedliche Zartheit des Flügelschlags eines Zitronenfalters hinaus reichten und sich zu gewaltigen, explosionsartigen Abläufen zusammenrotteten. Ereignisse kamen nicht mehr und gingen, sondern verklumpten sich zu einem dieser geheimnisvollen schwarzen Löcher, die alles in sich hineinsaugten.
Es begann damit, dass Burkhard Börns das Fahrrad eines gerade vorbei fahrenden 17 jährigen Schülers stahl, indem er den jungen Mann brutal von diesem herunter stieß, sich selbst auf das Gefährt schwang und mit einer für seinen Zustand bemerkenswerten Geradlinigkeit davon fuhr. Der Schüler schrie laut um Hilfe, und einige Passanten verfolgten eifrig den angetrunkenen Politiker. Als dieser merkte, dass aufgebrachte, sich dem Recht und der Ordnung verpflichtet fühlende Bürger hinter ihm her waren, zwang er an der nächsten Kreuzung bei roter Ampel eine elegante, vermutlich sonnenstudiogebräunte, mittelältere Dame, ihren Porsche zu verlassen. Nicht genug damit, bedrohte er sie mit lauten und ungebührlich wüsten Beschimpfungen, in denen er für einen Politiker bemerkenswert konkret und detailreich erläuterte, wie er sie mit seinem Schweizer Taschenmesser aufschlitzen und ihre Gedärme danach auf der Straße verteilen würde, wenn sie nicht augenblicklich mit dem geklauten Fahrrad verschwände. Die Dame, interessanterweise eine Schweizerin, verzichtete auf jeden Protest und hatte den unbequemen, weil so tief liegenden, Sportwagen deutlich schneller verlassen, als sie es zu Hause hinein geschafft hatte. Der angetrunkene Politiker setzte sich nun, unzivilisierte Laute des Triumphs von sich gebend, selbst in den Porsche und raste davon, natürlich ohne die rote Ampel zu beachten. Dadurch verursachte er eine Karambolage von 5 Pkws, einer Straßenbahn sowie einem Sightseeingbus, als diese mit Bremsmanövern einen Zusammenprall mit dem lustvoll aufheulenden Porsche verhindern wollten. Dabei gab es 1 Tote, 5 Schwerverletzte und 27 Leichtverletzte.
Inzwischen war die Polizei alarmiert und jagte mit 7 Peterwagen den Amok fahrenden und offensichtlich völlig außer Kontrolle geratenen Politiker. Dabei musste man natürlich ausdrücklich betonen, dass Burkhard Börns nicht aus böser Absicht handelte. In Wirklichkeit wollte er das alles nicht tun, was er tat, tat es aber doch. Er wusste gar nicht, was er tat, weil böse Mächte ihn in ihren Klauen hielten. Eigentlich wollte er immer nur das Gute. Aber manchmal war das Böse stärker.
Bei seiner wilden Flucht raste er in eine Kindergartengruppe, die sich auf dem Gehweg befand und unterwegs zum Spielplatz war. Alle Kinder waren sofort tot, den Erzieherinnen erging es nicht besser. Der Mann, hilflos den Klauen des Bösen ausgeliefert, gab weiter Vollgas und war auch von dem blauesten Blaulicht der Polizei nicht aufzuhalten. Rücksichtslos durchbrach er eine Polizeisperre und überfuhr dabei 3 Polizisten, die nicht rechtzeitig zur Seite sprangen. Die Geschwindigkeit, mit der der angetrunkene Politiker flüchtete, kann man daran ermessen, dass der Porsche schon 50 Meter entfernt war, als die Polizisten aufs Pflaster knallten, natürlich tot und in einem furchtbaren Zustand. Die Straße war voller Blut. Tragisch auch, dass sie alle Frauen und Kinder hinterließen, wie später gemeldet wurde.
Der Amokfahrer schien jetzt erst richtig in Fahrt zu kommen. Um der, vor ihm sich wie üblich stockend durch die Stadt schiebenden Blechlawine, ein Schnippchen zu schlagen und sie zu umfahren, jagte er mit unverminderter Geschwindigkeit auf ein Tankstellengelände, geriet ins Schleudern und rammte zwei Zapfsäulen, an denen gerade Autos betankt wurden. Die Schläuche wurden aus den Stutzen gerissen und Benzin ergoss sich über den Boden. Einer der beiden Tankenden, Abgeordneter der größten Oppositionspartei und Mitglied des Innenausschusses, konnte sich im letzten Augenblick mit einem Sprung zur Seite vor dem alles niedermähenden Porsche retten, was sein Leben allerdings nur um wenige Sekunden verlängern konnte, weil sich die Ereignisse in dramatischer Weise überschlugen. Aus den Augenwinkeln glaubte er seinen Kollegen Burkhard Börns hinter dem Steuer erkannt zu haben, dem er erst vor wenigen Tagen im Bundestag mit zornbebender Stimme politisch verantwortungsloses Handeln vorgeworfen hatte. Mit entsetztem Blick starrte er hinter dem quietschend davon brausenden Wagen her und sah, wie zwei gerade aus dem Tankstellengebäude tretende Bauarbeiter, die sich für die Mittagspause mit Brötchen und Zigaretten eingedeckt hatten, und die gerade dabei waren, sich eine dieser wohlverdienten Glimmstengel zwischen die Lippen zu stecken und anzuzünden, vom Wagen erfasst und weggeschleudert wurden. Sie landeten unsanft in der Benzinlache und konnten nicht mehr verhindern, dass eine ihrer bereits glimmenden Zigaretten das Benzin entzündete und innerhalb von Sekunden, die gesamte Tankstelle zur Explosion brachte.
Das sonst so geschäftig-gemütliche Treiben an einer Tankstelle, die den Menschen im Getriebe der Großstadt eine Oase der Ruhe und Entspannung, ja sogar des tiefen Durchatmens, vor den folgenden Zumutungen des Straßenverkehrs bot, erstarb in einem Moment und verwandelte sich in ein Inferno. Dem Tankstellenpächter, der das herauf ziehende Unglück von der Kasse aus beobachtet hatte, wo er sich gerade die Beschwerde eines Kunden anhörte, der sich darüber aufregte, dass die Autowaschanlage nicht funktionierte und sein Geld zurückforderte, schoss kurz vor der verheerenden Explosion, die ihm wie so vielen anderen kurz darauf das Leben nehmen sollte, noch ein schrecklicher Verdacht durch den Kopf. War es vielleicht ein Anschlag aus Rache, gesteuert von der Mineralölgesellschaft, mit der er im Rechtsstreit lag, weil sie seine Tankstelle schließen wollte und er nicht? Die Wahrheit würde er nie mehr erfahren können, und die Mineralölgesellschaft würde den Rechtsstreit auf diese Weise einfach, schnell, elegant und, wenn man so will, kostengünstig beenden können.
Burkhard Börns aber war bei der Explosion schon zu weit entfernt, als dass ihn dieses Geschehen hätte in Mitleidenschaft ziehen können. Er steuerte den Wagen roboterhaft gefühllos wie in einem Fahrsimulator und freute sich über das prächtige, röhrende Motorengeräusch. Doch für alle die, die auf dem Tankstellengelände zurück geblieben waren, gab es keinen Zweifel daran, dass es sich hier nicht um eine Simulation, sondern um die Realität handelte. Alle, die es nicht mehr schafften, rechtzeitig zu fliehen, verbrannten bis zur Unkenntlichkeit.
Schon wenige Minuten nach der Explosion war die Feuerwehr mit mehreren Löschzügen vor Ort, eine Leistung, die dazu geeignet war, den Glauben an funktionierende soziale Strukturen zu stützen. Angesichts der dreißig bis vierzig Meter hoch schlagenden Flammen zeigten die Feuerwehrleute ihre Professionalität und hatten in Windeseile die Schläuche verlegt und angeschlossen. Allein, es kam kein Wasser und die eben noch so professionellen Helfer waren zu hilflosen Zuschauern degradiert. Sie wussten nicht, dass vor wenigen Minuten für den gesamten Block das Wasser abgestellt worden war, weil sich in einer Parallelstraße ein Rohrbruch ereignet hatte. Die Straße war unterspült worden, und ein tiefer Krater hatte sich gebildet, in dem der Kleinwagen eines Pizzaservice mit seiner gesamten Lieferung versunken war. Leider hatte der zuständige Beamte vom Amt vergessen, die Feuerwehr darüber zu informieren, weil er wegen Überforderung den Überblick verloren hatte. Aufgrund von Personaleinsparungen gab es nur noch eine sehr kleine Besetzung im Amt des Beamten, und außerdem war noch ein Kollege plötzlich erkrankt, nachdem er ein verdorbenes Puddingteilchen gegessen hatte, das er sich zum Frühstück in einer Bäckerei gekauft hatte. Die Verkäuferin hatte nämlich das verdorbene Gebäck von vorgestern nicht aus der Auslage genommen, weil sie wegen ihres unsittlich niedrigen Stundenlohns von einer vorübergehenden schweren Lähmung beider Armen befallen worden war, die ein solches verantwortungsvolles Handeln unmöglich gemacht hatte.
In dieser nun so massiv eingetretenen Stresssituation hatte der Verwaltungsbeamte des Wasseramts glatt vergessen, die Feuerwehr über die eingeleitete Maßnahme zu benachrichtigen. Was in diesem Moment die Ausübung seiner Pflichten weiter einschränkte, war ein Anruf seiner völlig aufgelösten Tochter, die ihm heulend erzählte, dass ihr Freund sie verlassen hätte wegen einer anderen.
Eine ganz andere Frage war allerdings, ob die Feuerwehr viel hätte ausrichten können, wenn sie Wasser gehabt hätte. Eine spätere Klärung dieser Angelegenheit hätte vielleicht das momentan noch schlechte Gewissen des so überfordert gewesenen Beamten bis zu einem gewissen Grad entlasten können. Denn die Situation war bereits kurz vor dem Eintreffen der Feuerwehr weiter eskaliert und hatte sich zu einer ungeheuren Dramatik gesteigert, weil unglücklicherweise ein LKW mit hochradioaktivem Material den Explosionsherd im ungünstigsten Augenblick passiert hatte, in Brand geraten und Leck geschlagen war. Etwas, das nach Meinung aller Experten gar nicht eintreten konnte.
Das nun frei und offen liegende strahlende Material verseuchte augenblicklich die Umgebung. Größere und kleinere Brocken wurden durch das hoch lodernde Feuer der brennenden Tankstelle weit empor geschleudert und verteilten sich in einem großen Radius. Ein kleines Stück des Teufelszeugs durchschlug nach seinem Weg durch die Luft beim Herunterfallen die gepanzerte Windschutzscheibe des Mercedes eines auf Staatsbesuch zum Kanzleramt fahrenden ausländischen Regierungschefs. Es war der iranische Präsident. Er glaubte sogleich, dass es nur ein Attentat sein konnte, das hier auf ihn verübt worden war.