Читать книгу Wie aus einem totalen Kollateralschaden ein kollateraler Totalschaden wurde - Harald Hartmann - Страница 9

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Im geheimen bayerischen Atombunker ahnte man nichts von den dramatischen Vorgängen draußen. Immerhin hatte man inzwischen etwas zu essen gefunden. Es gab reichlich Konserven mit wohlklingenden Inhaltsbeschreibungen, doch handelte es sich durchweg um schwere Nahrung, die natürlich in erster Linie den Hunger in einer solchen Situation stillen sollte, um das Tier im Menschen zu beruhigen. Der Finanzminister und der Wirtschaftsminister erklärten sich bereit, gemeinsam, einen großen Eintopf zu kochen, was ein durchaus beachtenswerter Vorgang war und auf allgemeine Zustimmung stieß. Auch der iranische Präsident war froh, dass es etwas zu essen gab.

Das ursprünglich geplante Staatsbankett hatte die Form einer Feldküche angenommen. Es gab Bohnensuppe. Das machte ihm aber, vom kulinarischen Standpunkt aus betrachtet, überhaupt nichts aus, denn die Kulinarität war zu einem nachrangigen Faktor geschrumpft, weil ihm inzwischen klar geworden war, dass sie alle zusammen in einer Notsituation steckten, und dass man es nicht auf ihn abgesehen hatte. Leider gab es keine Möglichkeit für ihn, dieses nach draußen zu berichten. Er bedauerte das sehr und teilte diese Meinung auch den deutschen Politikern während des gemeinsamen, zivil gebändigten Suppeschlürfens mit. Überhaupt spürten plötzlich alle auch darüber hinaus sehr viel Gemeinsames, das sie verband. Scheinbar unüberbrückbare Gegensätze verschwanden im Angesicht einer gewissen Aussichtslosigkeit, als hätte es sie nie gegeben. Sogar eine Art Heiterkeit entsprang aus ihrer Mitte. Sie steigerte sich noch, als sich irgendwann die Folgen der Bohnensuppe bemerkbar zu machen begannen.

Der iranische Präsident zeigte dabei unbekannte humoristische Qualitäten, als er ein iranisches Sprichwort, das in etwa bedeutete: Jedes Böhnchen macht ein Tönchen, ins Englische zu übersetzen versuchte. Aber nach einiger Zeit erwies sich, dass die Bohnensuppe aus mehr bestand als aus reinem Humor, nämlich auch als fataler Fehler in der Bestückung des Bunkers mit Nahrungsvorräten, insbesondere wegen der durch einen technischen Fehler verursachten, teilweise unterbrochenen Frischluftzufuhr. Das gemahnte alle mit unerfreulicher und ausdrücklich humorloser Sachlichkeit an den Ernst ihrer Situation.

Inzwischen hatte die Polizei in Berlin ihre Arbeit getan und die Tote identifiziert, die der Unfall auf der Kreuzung gekostet hatte, als Burkhard Börns bei Rot mit dem Porsche losgerast war. Es war eine junge Frau. Genauer gesagt, war es die neue Freundin des ehemaligen Freundes der Unglücksfahrerin, die später noch diesen Unfall mit dem Eiertransporter auf der Autobahn verursachen sollte. Sie, also die neue Freundin, war, um die Vertreibung der Rivalin zu feiern, mit ihrem neuen Freund, der der alte Freund seiner ehemaligen Freundin war, zu einer Stadtrundfahrt auf die obere Etage eines offenen Doppeldeckerbusses gestiegen. Sie wollten etwas Außergewöhnliches an diesem Tag tun. Als Höhepunkt sollte es Champagner geben, den sie mitgebracht hatten und trinken wollten, natürlich stilecht in zwei Sektgläsern. Was folgte, war ein Moment, der in seiner Tragik von fast beispielhafter Schicksalhaftigkeit erschien, weil der folgenschwere Unfall sich genau in dem Augenblick ereignete, als der Korken knallend in die Luft geschleudert wurde und die Flasche vor lauter Lust überschäumte. Die Frau war sofort tot, gestorben in einem gerade von glücklichen Gefühlen überschwemmten Körper. Welch ein Übergang! Ein Glückstod, wie er nur wenigen Menschen zuteil wurde. Aber er, ihr neuer Freund, lebte und machte sich trotz oder gerade wegen des Schocks, der ihn wie eine Glocke umgab und von der Welt um ihn herum trennte, unglaublich vernünftige, ihm aber trotzdem irgendwie unwirklich erscheinende Gedanken über seine private Zukunft. Er fand es merkwürdig, dass er gerade jetzt daran dachte, ob es vielleicht das Beste wäre, zu seiner ehemaligen Freundin zurückzukehren.

Gerade in Unglückssituationen, wenn auf einen Schlag soviel auf einen Menschen herab stürzte, dass er meinte, er könnte nur im Chaos untergehen, erfasste ihn oft eine überraschend auftretende Vernunft, die aber in Wirklichkeit nichts weiter war als eine verkleidete Unvernunft, die ihn an der Nase herum führte und ihm das Sich-Befinden im Reich der absoluten, leidenschaftslosen Klarheit der Gedanken vorgaukelte.

Natürlich stimmte das niemals. Und auch in diesem Fall würden sich jegliche Ergebnisse solch luftleerer Gedanken als nichtig erweisen, insbesondere da die existenzbedrohenden, sich abzeichnenden politischen Ereignisse die üblichen Realitäten bereits zu verschlingen begannen. Größere, schwer zu kontrollierende Mächte kamen ins Spiel, betraten die Bühne. Ihre Wirkmechanismen waren so komplex, dass sie vom menschlichen Gehirn nicht zu erfassen waren. Die Handelnden, die Politiker also, konnten nur hoffen, zufällig die richtigen Schalter zu betätigen, um die sich auftürmende Welle der Vernichtung zu brechen. Dieser schweren, nun auf ihren Schultern lastenden Aufgabe hätte sich die Notregierung im Verteidigungsministerium am liebsten schnell wieder entledigt und an die richtige Regierung abgegeben. Deshalb hatte man sich auch, nachdem gemeldet worden war, dass die Regierung und der Staatsgast im Atombunker gefangen waren, unverzüglich und nachdrücklich um ihre Befreiung gekümmert.

Da es ein extrem gut gesicherter Bunker gegen jede Art von Eindringlingen war, gab es nach Lage der Dinge nur eine realistische Möglichkeit, die Führung der beiden Staaten da heraus zu holen. Mit äußerster Dringlichkeit versuchte man daher den Leiter des Technikbüros zu erreichen, das die Sicherheitsanlage installiert hatte. Leider war er unauffindbar. Seine Sekretärin war deshalb nicht beunruhigt, weil der Chef sich gerne einmal nach einem Termin außerhalb eine schöpferische Pause gönnte, was auch immer er damit meinte. In solchen Fällen gab er jedenfalls vor, spazieren zu gehen, ziellos, und sich treiben zu lassen. Weil er ein schlauer Fuchs war, hatte er natürlich längst gemerkt, dass Unerreichbarkeit kein Luxus war, auch wenn sich das so anfühlte, sondern eine Notwendigkeit und eine wichtige Ressource, die allgemein immer und immer weiter verknappt wurde. Doch nicht für ihn. Er hatte für eine ausreichende Ressource in seinem privaten Darknet gesorgt.

Ausgerechnet heute, da man ihn so dringend brauchte, war es wieder dunkel um ihn, und man konnte nichts anderes tun, als auf ihn zu warten. Um jedoch keine Zeit zu verlieren, schickte man vorsorglich einen Polizeihubschrauber zum Gelände der Firma, um ihn abholen zu können, sobald er auftauchte. Tatsächlich erwies sich das als kluger Gedanke, denn schon bald bog der Heißersehnte mit seinem schweren Geländewagen auf das Firmengrundstück ein. Fast wäre ihm das Herz stehen geblieben, als er die Polizisten und den Hubschrauber sah. Geistesgegenwärtig gab er Gas, riss das Steuer nach links und versuchte, ungesehen hinter das Gebäude zu kommen, um sich zu verstecken. Doch es war zu spät. Man hatte ihn gesehen und lief auf seinen Wagen zu. Er resignierte, blieb stehen und stellte den Motor ab.

Schon seit einiger Zeit hatte er ein mulmiges Gefühl gehabt. Er konnte den Zeitpunkt des Auftauchens dieses Gefühls sogar exakt bestimmen. Es war, nachdem die Nachrichten damals gemeldet hatten, dass die Staatsanwaltschaft viele geheime Bankdateien in die Hände bekommen hatte. So wie es aussah, waren seine offenbar auch darunter gewesen. Er verfluchte seinen Steuerberater und diese unsägliche Idee mit der Steueroase, die ihm, wie ihm mit einem Mal bewusst wurde, schon immer nicht nur suspekt gewesen war, sondern die er auch moralisch nie in Ordnung gefunden hatte. Er würde sich von seinem Steuerberater trennen, das war klar. Der hatte ihn schließlich mit seinem ewigen Gerede in die Scheiße geritten. Wieder schimpfte er heftig und mit überzeugter Empörung auf diesen verantwortungslosen Menschen. Er wusste, dass es sehr teuer werden würde für ihn und hoffte, dass er nicht ins Gefängnis musste. Was würde aus seiner Yacht? Sein Landsitz in der Toskana erschien im sicher. Und wie langweilig würde seine Abendgestaltung aussehen, ohne seine neue Geliebte, deren Haltung auch nicht wenig Geld verschlang. Geld, das wohl in Zukunft nicht mehr zur Verfügung stand.

Blitzschnell hatte er die Situation erfasst und ein Bild seiner Lage klar vor Augen. Er würde selbstverständlich für ein paar Tage am Pranger der Boulevardpresse stehen und die Schadenfreude einer sensationslustigen Masse ertragen müssen. Diese Masse, die immer danach trachtete, Treibjagden auf anständige Bürger anzuzetteln, die andere leiden sehen wollte, Häme und Spott über sie auszukübeln liebte. Und das aus lauter Neid. Er hörte schon die Vorwürfe, die ihm seine Frau machen würde und natürlich auch seine Kinder, die nur schwer einsehen könnten, sich designermäßig zurückzunehmen und auf die man mit dem Finger zeigen würde.

Sein Leben war in einer Sekunde zu einem Trümmerhaufen geworden. All das stand klar vor seinen Augen. Er hörte die Polizisten seinen Namen rufen. Das Ganze hatte die Unwirklichkeit eines schlechten Traums, und für einen Moment glaubte er an diesen Traum, und dass er jeden Augenblick erschöpft und schweißgebadet aus ihm erwachen würde. Doch die Polizisten waren echt und hatten soeben seinen Wagen erreicht. Deprimiert öffnete er die Tür und stieg aus dem Wagen aus, um sich zu ergeben. Doch statt mit einem strengen Verhaftungston wurde er mit Erleichterung begrüßt. Nach den Momenten mit der tiefen Sekundendepression erfasste er sofort, dass er falsch gelegen hatte mit seiner Einschätzung. Als gewiefter Geschäftsmann ließ er sich dieses Wechselbad der Gefühle nicht anmerken und schaltete sofort wieder in seine Routine zurück. Sicherheit und Souveränität erfüllten seine Ausstrahlung, als wären sie nie verschwunden gewesen. Ohne sichtbaren Übergang war er wieder Herr der Lage und ließ sich über die Umstände des Polizeiempfangs informieren. Er fühlte sich großartig. Schon immer war es sein Markenzeichen gewesen, Situationen schnell zu erfassen, zu spüren, woher der Wind wehte, sich blitzartig neu auszurichten und es so aussehen zu lassen, als hätte es gar keine Neuausrichtung jemals gegeben.

Ein großer Teil seines geschäftlichen Erfolgs war wohl dieser Fähigkeit zu überlichtschnellen Reaktionen zu verdanken. Die Entscheidung, den Steuerberater zu feuern, erschien ihm nun im Licht der veränderten Lage jedoch etwas voreilig gewesen zu sein. Froh, sein Leben nicht völlig umkrempeln zu müssen, wich seine heiße Wut auf ihn wieder einem distanziert, unterkühlten Respekt für dessen professionelle Cleverness. Das war, wenn man sich die Mühe machen wollte nachzuzählen, nicht nur eine Polumkehr von Nord-und Südpol sondern es waren gleich zwei hintereinander. Hin zu Gefeuert und wieder zurück zu Nichtgefeuert in weniger, als die Sichtbarkeit zuließ. Ein Talent, mit dem er auch Präsident werden könnte, ging es ihm durch den Kopf. Von einer auf die andere Sekunde war er von jeglichen Selbstzweifeln beim Steuersparen befreit und lieferte damit einen eindrucksvollen Beweis dafür, wie dicht Depression und Freude beieinander lagen und wie stark ein richtiges Wort zur richtigen Zeit Wunder wirkte und heilen konnte.

Als nun wieder unangefochtener Herr des ganzen Verfahrens schritt er mit entschlossener Miene und souveräner, nicht übertriebener Eile ins Büro, um sich die Unterlagen über die Sicherheitsanlagen des Atombunkers zu holen. Leider konnte er sie am dafür vorgesehenen Ort nicht finden. Das war ihm äußerst peinlich. Es war eine zweifache Peinlichkeit. Erstens, weil es überhaupt peinlich war, dass die Unterlagen nicht da waren und zweitens, dass er wusste, wo sie waren und er nun unangenehmerweise etwas aus seinem Darknet preisgeben und so schnell wie möglich dorthin musste, wo er sie liegen gelassen hatte.

Ein Polizeiauto mit Blaulicht und Sirene brachte ihn zum Appartement seiner Geliebten. Hier musste die Tasche mit den gesuchten Unterlagen sein, die er gestern zu einem Kundentreffen mitgenommen hatte und dann wohl danach neben ihrem Bett in schönster sexueller Unzurechnungsfähigkeit vergessen hatte. Eigentlich durften solche sensiblen Papiere sein Büro gar nicht verlassen, aber es gab besondere Umstände, denn es winkte ein außergewöhnlich lukratives Geschäft, ein Geschäft, das sich, wenn man strenge Maßstäbe ansetzte, jenseits der Grenzen der Legalität abspielte. Ein besonders prickelndes Moment, das nicht einer gewissen Komik entbehrte, war in diesem Fall, dass ausgerechnet ein Vertreter des iranischen Präsidenten diskret an seine Firma herangetreten war, weil dieser an der erstklassigen Sicherheitstechnik für seinen neuen Bunker interessiert war. Gute, zuverlässige, deutsche Technik. Was konnte falsch daran sein? Wer Exportweltmeister sein wollte, musste auch dazu in der Lage sein, Gesetze kreativ interpretieren zu können, und er war ein ausgewiesener Meister der kreativen Interpretation.

Während draußen der Polizeiwagen auf ihn wartete, betrat er mit nervösem Tunnelblick das Appartement, suchte und fand den Aktenkoffer unter dem Küchentisch. Er bemerkte weder den jungen Mann, der sich noch in letzter Sekunde ins Bad flüchten konnte, noch dass Anuschka nur dürftig bekleidet war, was ihn normalerweise lüstern gemacht hätte. Dass es heute nicht so war, empfand sie zum einen als beleidigend und ließ sie besorgt an ein Nachlassen ihrer Attraktivität glauben, zum anderen aber als sehr erleichternd, weil es nicht zu einer Eifersuchtsszene gekommen war. Nach nur wenigen nichtssagenden Worten, bei denen er sie nicht einmal ansah, verließ er mit dem Aktenkoffer die Wohnung.

Unangemeldete Besuche im eigenen Revier konnten für den, der Aufregungen und Überraschungen liebte, ein Quell der Freude sein. Er sollte sich aber Zeit dafür nehmen, sie zu genießen und bis zur Explosion auszukosten, Zeit, die verständlicherweise in diesem Augenblick für den Leiter des Technikbüros nicht zu haben war. So saß er schon bald mit seinen geheimen Unterlagen in einem Hubschrauber, der ihn ins Verteidigungsministerium bringen sollte. Noch von unterwegs rief er drei seiner besten Spitzentechniker an, geniale Ingenieure der Ermöglichung des Unmöglichen, die er für diese unlösbare Aufgabe brauchte. Sie wurden ebenfalls unverzüglich, ohne Rücksicht auf ihre derzeitige Befindlichkeit, mit einem Hubschrauber abgeholt.

Wie aus einem totalen Kollateralschaden ein kollateraler Totalschaden wurde

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