Читать книгу Wie aus einem totalen Kollateralschaden ein kollateraler Totalschaden wurde - Harald Hartmann - Страница 6

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In der Außenwelt hatte sich dank der sehr tüchtigen Medien, für die solche Ereignisse natürlich ein gefundenes Fressen waren, eine erste Welle der Verunsicherung breit gemacht, der aber bald durch die unaufhörliche Berichterstattung des Immerselben, welches, weil man nichts Genaues wusste, zur Dekoration mit wilden Spekulationen delikat angereichert wurde, eine zweite Welle, eine Welle der Katastrophenstimmung, nachfolgte. Das Volk oder sollte man besser sagen der Volkskörper begriff, dass er für den Moment kopflos war. Der Umstand, das eine Erkenntnis in diesem Zustand der Befreitheit von der Macht des Kopfes möglich war, bewies jedoch zum Glück, dass der Kopf und damit das Gehirn nicht das einzige Organ des Begreifens war, was jeden grundsätzlich beruhigen sollte. Denn für die Übergangszeit, bis unsere menschliche Natur es geschafft hatte, im Falle eines Kopfverlustes einen neuen Kopf aus unserer Mitte sprießen zu lassen, dem wir endlich wieder unser Schicksal glaubten anvertrauen zu können, waren wir nicht hilflos sondern durchaus handlungsfähig. Trotzdem ließen wir meistens in einer solchen Situation das Aufkommen einer Angst oder sogar Panik zu, weil wir nicht an unsere intuitiven Stärken glaubten. Wie man so schön in der Sprache der Ökonomen sagen könnte, waren wir wesentlich breiter aufgestellt, als wir dachten. Aber wir hatten Angst, es zu glauben. Es war so, als wenn man auf einem Brett von einem Meter Breite balancieren sollte. Lag es auf dem Boden, konnte man sehr leicht auf ihm lustwandeln. Lag es dagegen in einer Höhe von drei Metern, verlor man schnell den Glauben an seine eigenen Fähigkeiten und hatte es mit einer Glaubensreduktion von mindestens 90% zu tun.

Also breitete sich folgerichtig auch nicht der Glaube an das baldige Wachsen eines neuen Kopfs aus, sondern, erst zwar noch unterschwellig brodelnd aber dann doch plötzlich exponentiell aufsteigend, eine Panik in der Bevölkerung. Nicht nur der Unfall und die sich schnell ausbreitende radioaktive Verseuchung waren daran Schuld, sondern auch die undiplomatisch harten Reaktionen der iranischen Regierung, die nicht an einen Unfall sondern an eine Verschwörung und ein Attentat glaubte. Sie drohte mit harten Konsequenzen, sollte ihr Präsident nicht umgehend wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Man würde sich andernfalls, wie sie sich ausdrückten, dazu gezwungen sehen, eine der neuen Langstreckenraketen probeweise auf ein Ziel in Deutschland abzufeuern, um der Forderung den nötigen Druck zu verleihen. Es wäre in Anbetracht der Schwere der geschehenen Aggression eine völlig gerechtfertigte Maßnahme. Die Reichweite würde reichen, und zwar bis in den Süden Deutschlands und da wollte man, um ernst genommen zu werden, ein kulturelles Ziel von hohem Stellenwert angreifen. Schloss Neuschwanstein würde nach einer verstrichenen Frist von 12 Stunden zerstört werden. Mit welcher Art von Sprengladung ließ die Drohung offen, schloss aber atomare Mittel nicht aus, weil sie sie, vielsagend verdächtig, in ihrer Mitteilung nicht einmal mit dem kleinsten Wort oder Hinweis erwähnten und so die Tür zu einem neuen, und außerdem gut vermarktbaren Universum der Spekulationen aufstießen.

Die verbliebenen Politiker aus der zweiten und dritten Reihe hatten sich mit der Flugbereitschaft in eine Filiale des Verteidigungsministeriums nach Bonn geflüchtet. In diesem Moment waren sie sehr froh darüber, dass sie noch nicht alles nach Berlin verlegt hatten. Manchmal hatten lang andauernde Diskussionen mit einem darauf folgenden unendlichen Beratungsbedarf auch ihr Gutes. In Abwesenheit der Leitwölfe war es natürlich ihre Aufgabe, sich um eine kompetente Krisendiplomatie zu bemühen. Aber sie scheiterten auf ganzer Linie an einem reinen Statusproblem, weil die andere Seite, die in diesem Fall die iranische war, nicht mit der zweiten Garnitur sprechen wollte und alles nur für einen Trick hielt, um sie hinzuhalten. In der Filiale zerbrach man sich den Kopf, warum Schloss Neuschwanstein zerstört werden sollte und nicht eine Stadt oder etwas Militärisches, weil man krampfhaft nach einem Schlüssel suchte, doch noch in Verhandlungen einzutreten.

Wenn sie allerdings den Grund für das Angriffsziel gekannt hätte, wäre ihnen diese Vorgehensweise von einem persönlichen Standpunkt aus gesehen, verständlich vorgekommen, weil sie sie an eigene, tief sitzende Aktionsreflexe, wie sie jeder Mensch hatte, erinnert hätte. Was sich in dieser Form gesagt vielleicht schwierig anhörte, war aber eigentlich ganz leicht zu verstehen, wenn man die Geschichte des iranischen Verteidigungsministers kannte. Es war eine schlimme Geschichte.

In seiner Kindheit hatte er, einfach und klar gesagt, einen Hass auf Schloss Neuschwanstein entwickelt. Es war so, dass seine Mutter nicht müde wurde, über Jahre hinweg täglich ihre Lieblingsschallplatte zu hören. Sie war ihr einst von einem bayerischen Politiker, den sie bei einem Staatsempfang kennen gelernt hatte, bei seiner Abreise geschenkt worden, nachdem man sich im Verlauf des entspannteren Teils des Abendempfangs in den endlosen Weiten des damals kaiserlichen Palastes näher gekommen war. Es war eine Langspielplatte, wie diese Datenträger damals hießen, mit den schönsten Schlagern der älteren und neueren deutschen und speziell bayerischen Volksmusik.

Oft mehrmals am Tag erfüllten seitdem diese einfachen, aber für einen Nichtdeutschen gewöhnungsbedürftigen Weisen das Haus in aufdringlicher Lautstärke. Meistens sang seine Mutter sogar mit, weil sie die Texte nämlich bis zu einem gewissen Grad verstand, denn sie hatte aus Schwärmerei für den stolzen Bayern, in Ermangelung angebotener Bayerischkurse, mehrere Deutschkurse besucht. Für den Jungen, der im Gegensatz zu seiner Mutter ein außerordentliches Gespür und Talent für Musik besaß, war es eine Tortur, an die er sich trotz ihrer täglichen Wiederholung nie hatte gewöhnen können. Im Gegenteil. Seine Abneigung gegen diese Art von Musik steigerte sich schließlich zum Hass.

Unglücklicherweise für Schloss Neuschwanstein trug das Plattencover dieser Platte das Bild von Schloss Neuschwanstein, so dass schon der bloße Anblick des eigentlich so wunderschönen Märchenschlosses Übelkeitsgefühle in ihm hervorrief. Jedes Mal, bevor seine Mutter die Schallplatte auflegte, sah er das Foto von Schloss Neuschwanstein in ihren Händen und verspürte augenblicklich die Qual, die er gleich würde ertragen müssen, als wäre sie bereits eingetreten. Keiner, auch er nicht, konnte damals wissen, dass er eines Tages Verteidigungsminister sein würde, ausgestattet mit einer großen Macht, und dass der Zufall es wollte, dass er nun nicht nur eine politische Aktion durchführte, sondern sich auch mit derselben Tat einen lang gehegten, privaten Zerstörungswunsch erfüllen konnte.

Bei der Diskussion im Krisenstab um das Angriffsziel gegen den unverschämten Aggressor hatte er die überzeugendsten Argumente mit der kreativen Kraft seines privaten Zorns vorgestellt, und man war ihm gefolgt. Weil es ihm eine Herzensangelegenheit war, konnte er so überzeugend argumentieren. Und solch eine Herzensangelegenheit sollte nun die entscheidende Kraft für die Zerstörung von Schloss Neuschwanstein sein, dessen Errichtung ebenfalls einmal eine große Herzensangelegenheit gewesen war. Und ebenso wenig vergessen sollte man hierbei die dritte Herzensangelegenheit im Bunde, die dafür verantwortlich war, dass diese Schallplatte vor so langer Zeit den Weg in seine Nähe gefunden hatte. Das war die Ironie und sogar die doppelte und dreifache Ironie der Geschichte.

Demgegenüber bestand nun aber in Deutschland vor dem Hintergrund der Drohungen die Notwendigkeit, Entscheidungen treffen zu müssen und Notmaßnahmen einzuleiten, was in dieser Situation aber nicht so richtig funktionierte. Eigentlich musste man sagen, dass diese Art von Ersatzregierung, die sich da im Verteidigungsministerium auf die Schnelle gebildet hatte und sich wichtig wie die Tafelrunde des König Artus gebärdete, zunächst einmal wert- und wirkungslos war, weil die Ritter ihre neuen Rollen noch nicht gefunden und begriffen hatten und erst einmal üben mussten. Sie wussten in der Dynamik der Ereignisse gar nicht, wie ihnen geschah, was genau passiert war und zogen ihre Gehirnwindungen lang wie Kometenschweife, um zu ergründen, wie es zu all dem hatte kommen können.

Es gab doch Regeln! Warum war der Transport des LKWs mit dem radioaktiven Material nicht bekannt gegeben und ausreichend geschützt worden? Warum fuhr er überhaupt durch die Stadt? Fragen, die sie in ihrer Hilflosigkeit stellten, aber nicht beantworten konnten, weil sie die Umstände nicht kannten. Auch durch intensives logisches Denken hätte man die Antwort nicht herbei zwingen können, weil sich die komplizierte Verknotung der Zusammenhänge zumindest mit Hilfe der menschlichen Logik nicht lösen ließ. Außerdem war die Antwort auf diese Frage für die akute Krisenbewältigung auch nicht wichtig, was aber in dem Durcheinander zunächst nicht klar war. Denn was hätte es genützt, wenn man gewusst hätte, dass der ursprüngliche Plan gewesen war, den Transport wie immer zu machen, also mit schärfsten Sicherheitsvorkehrungen und einem Großaufgebot von Polizei.

Dann aber kam als Argument das Geld, das knapp bemessene und, wenn man sogar ganz unehrlich sein wollte, das dafür nicht vorhandene Geld ins Spiel, das gerade irgendwoanders vorhanden sein musste, um dort seinen optimalen Segen entfalten zu können. Das Innenministerium musste deshalb bei solchen Aktionen sparsam sein und sann auf Abhilfe. So hatte also der Innenausschuss zu eben dieser Frage getagt. Nun war der Abgeordnete Burkhard Börns zufällig Mitglied dieses Ausschusses und hatte sich mit dieser kniffligen Geldfrage schon seit längerem beschäftigt. Man schätzte ihn als Haushaltsexperten wegen seiner immer wieder sehr klug daherkommenden Gedanken außerordentlich. Nach langem Nachdenken war er schließlich zu der Ansicht gelangt, dass man einen derartigen Transport nur dann so teuer und aufwendig schützen musste, wenn die Öffentlichkeit darüber Bescheid wusste. Wenn man die Öffentlichkeit aber nicht informieren würde, ginge es schneller, ruhiger und vor allen Dingen billiger. Man musste eben dazu übergehen in Zeiten knapper Kassen, kreative Lösungen zuzulassen, wenn notwendig auch an der üblicherweise sowieso unsachlichen und vorurteilslastigen Öffentlichkeit vorbei, nicht zuletzt um sie vor sich selbst zu schützen. Sonst sahen alle wieder genau hin, und dem Staat blieb somit unnötigerweise nichts anderes übrig, als mit großer Geste zu zeigen, dass er alles für die Sicherheit seiner Bürger tat. Das aber verursachte enorme Kosten. Auf der anderen Seite waren es aber pikanterweise genau die Bürger, die immer über die Geldverschwendung des Staats schimpften, die nach eben diesem pompösen, tagelang andauernden Staatstheater in mindestens drei Akten verlangten, ohne dabei Rücksicht auf die Kosten zu nehmen. So hatte alles seine drei bis vier Seiten.

Burkhard Börns hatte deshalb überlegt, wie viele große Staatstheaterstücke den Leuten zu den verschiedensten Anlässen pro Jahr geboten wurden und sich gedacht, dass man ohne weiteres einige einsparen könnte, ohne damit den Glauben der Menschen an den Staat zu gefährden. Bei solchen Gedanken durchlief ihn immer ein inneres Erbeben aus Ehrfurcht vor seiner Genialität. Der Transport des radioaktiven Materials könnte also seiner Meinung nach mit einem äußerlich ganz normalen Lastwagen geschehen. Man könnte außerdem die ganze Sache zum Wohle der freien Marktwirtschaft privatisieren, ein sogenanntes Outsourcing machen, und eine Spedition beauftragen. Er hatte da auch schon gleich eine im Kopf, mit der er bereits öfter und zu seiner vollsten Zufriedenheit Möbelumzüge veranstaltet hatte. Die Gefahr, dass bei dem Transport etwas Schwerwiegendes vorfallen konnte, war statistisch gesehen und, wie er aus der persönlichen Erfahrung seiner Möbelumzüge wusste, äußerst gering, andererseits waren die Kosteneinsparungen äußerst bedeutend. Dieser Argumentation schlossen sich die anderen Mitglieder des Ausschusses im Angesicht des betörend lächelnden und vor ihnen stehenden Wochenendes in ungewohnter Zügigkeit an. Man beschloss, bei einer versehentlichen Enthaltung, den Transport auf diese Art zu genehmigen, um Erfahrungswerte zu sammeln. Keine Öffentlichkeit, kein Schutz, kein Ärger, keine Fragen, schnell und kostengünstig. Es war ein wunderbarer Plan. Es war ein Freitag-Nachmittag-Plan.

Der LKW mit dem gefährlichen Inhalt startete aber nicht an einem Freitag-Nachmittag sondern an einem Mittwoch-Morgen. Er sollte ganz einfach wie jeder andere gewöhnliche Transporter die Autobahn befahren und Berlin großräumig passieren. Doch geriet der Verkehrsfluss irgendwann ins Stocken, weil es an einer Baustelle einen Verkehrsunfall gegeben hatte. Ein Lastwagen war ins Schleudern geraten, als ihn ein Kleinwagen mit hoher Geschwindigkeit überholte, die junge Fahrerin dabei die Kontrolle über das Fahrzeug verlor und sich quer stellte. Bei der folgenden Notbremsung kippte der LKW um. Zum Glück war es kein Gefahrentransport. Er hatte lediglich 200000 Eier aus unkontrollierter, biologischer Produktion geladen.

Zur Unglücksfahrerin war zu sagen, dass sie deshalb so schnell unterwegs gewesen war, weil sie unter einem nicht mehr aushaltbaren Liebeskummer litt. Sie wollte möglichst schnell möglichst weit weg. Hätte ihr Freund sie nicht wegen einer anderen verlassen, hätte sie jetzt vermutlich zusammen mit ihm zu Hause beim Mittagessen in der Küche gesessen. So aber lag sie in ungläubiger Erschrockenheit in einem See von Eierschleim und ließ tausende Menschen mit diesem Verkehrsstau an ihrem Schicksal teilhaben.

Wie aus einem totalen Kollateralschaden ein kollateraler Totalschaden wurde

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