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Am Montag fuhren Wilma und Rathge im Fahrstuhl in den 3. Stock. Wilma schloss die Wohnungstür ihrer Eltern, die meistens in der Schweiz lebten, auf. Gemeinsam schritten sie durch die dunkle Wohnung. Die Möbel und Bilder waren mit Bettlaken abgedeckt. Rathge hielt Wilma davon ab, das Licht einzuschalten, die Rollos hochzufahren oder die Vorhänge zu öffnen: »Lassen Sie bitte zunächst alles so, wie es ist. Nur so finde ich die genaue Quelle. Ich melde mich bei Ihnen, wenn ich Sie brauche, oder fertig bin.«

»Ich warte im Kellerbüro auf Sie.« Wilma schien, dass er vorzog, alleine zu suchen.

›Was eigentlich?‹

Eine Stunde später wusste sie es. Rathge bat sie, ihm beim Abdecken von zwei Bildern in der Diele zu helfen: »Dafür brauchen wir eine Trittleiter.«

»Ich habe eine in meiner Wohnung. Die nehmen wir gleich mit.«

Im Flur des 3. Stocks stieg er auf die Leiter und löste die Verhüllungen der beiden hohen Ölgemälde. Es waren goldgerahmte Porträts in Lebensgröße. Die blasse Frau im edelsten, weißen Seidenkleid mit verklärtem Blick vor unscharfem, düsterem Landschaftshintergrund. Der stattliche Mann mit konzentriertem Blick in die Ferne im dunklen Gehrock vor Bücherregalen einer Bibliothek. Die präzisen Details der Bildnisse überraschte Wilma auch heute wieder. Diese Schärfe wäre ihrer Meinung nach heutzutage auch mit modernster Fototechnik unmöglich. Der Faltenwurf des Kleides erschien dreidimensional. Jedes kleinste Augenfältchen war verewigt. Selbst grobe Webfäden der Kleidung waren einzeln erkennbar. Wilma schaute Rathge fragend an: »Was ist mit diesen alten Schinken?«

»Nur sie strahlten tiefe Traurigkeit aus. Ich spüre jetzt schon eine entspanntere Aura. Es wird noch Tage dauern, bis das Haus befreit ist.«

»Heißt das, die beiden Herrschaften sollen unverhüllt bleiben und verstauben?«

Rathge nickte.

»Ausgerechnet diese Gemälde waren mir als Kind unheimlich. Opa hatte mir gezeigt, dass die beiden Augenpaare einen verfolgen, wenn man an ihnen vorbeigeht. In meiner kindlichen Neugier habe ich das immer wieder getestet. Er hatte recht. Sie folgten mir. Ich fand es gruselig.«

»Das ist eine optische Täuschung, die nur im Gehirn des Betrachters stattfindet. Wir sind gewohnt, Zweidimensionales in Dreidimensionales zu übertragen. Das passiert bei perfekter Malerei oft.«

»Wieso strahlen diese alten Porträts nur abgedeckt traurig?«

»Weil sie sich nicht mehr sahen.«

»Sie hatten mir eben erklärt, dass sich die gemalten Augen nicht bewegen.«

»Das heißt aber nicht, dass sie blind sind.«

»Ah ha! Nun wird es aber spökig.«

»Vor circa zweihundert Jahren gab es überaus begabte Porträtisten, die versprachen ihren meist adligen Auftraggebern ewige Liebe über den Tod hinaus. Damals wurden Männer oft in Kriegen getötet. Ihre Frauen bangten um sie. Umgekehrt starben Frauen oft bei der Geburt. Diese Porträts trösteten die Hinterbliebenen.«

»Was machen wir nun mit ihnen?«

»Weil sie sich jetzt wieder sehen, lassen wir sie so hängen. Ich will sie noch eine Weile belauschen.«

Wilma spöttelte: »Die beiden können zwar nicht sprechen, aber Sie können sie hören. Na, da will ich nicht stören.«

Nach einer Stunde verabschiedete sich Rathge bei Wilma: »Ich habe das Dielenlicht angelassen. Ohne wäre es den beiden zu dunkel.«

»Was haben sie denn gehört?«

Rathge strahlte: »Sie sind überglücklich, dass die dunkle Epoche überstanden ist. Ich bin ihr erster lebender Lippenleser seit 200 Jahren. Der Herr sagte: ›Wenn ich noch könnte, würde ich vor Glück heulen. Als uns diese Unsterblichkeit angeboten wurde, konnten wir unser Glück kaum fassen. Tischbein hat uns ausgenommen. Ob er mit unserem Vermögen glücklich geworden ist, wissen wir nicht. Ist uns auch egal. Seit wir nur noch unsere Lippen lesen können, ist uns fast alles egal.‹ ›Vergiss das Licht nicht!‹, unterbrach ihn seine Frau.«

Rathge schnaufte: »Sie überlegen, wie sie sich bedanken können. Es scheint, um etwas Wertvolles zu gehen. Deshalb möchte ich in einer Woche wiederkommen, um zu erfahren, wie sie sich entschieden haben, und auch um die Auraveränderung im Haus zu prüfen.«

»Dann sehen wir uns nächsten Montag wieder.«

Nur reich, reicht nicht

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