Читать книгу Tatort Ostsee - Harald Jacobsen, Anke Clausen - Страница 12

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Hanjo starrte an die Decke. Er musste gar nicht auf die Uhr sehen. Es war 20 nach sechs. Er wachte jeden Tag um dieselbe Zeit auf, immer fünf Minuten, bevor der Wecker klingeln würde. Früher war er immer gleich aus dem Bett gesprungen und nach unten in die Küche gelaufen, um Wasser aufzusetzen. Er hatte Freya jeden Morgen ihres gemeinsamen Lebens den Tee ans Bett gebracht, 40 Jahre lang. Hanjo wirkte noch immer kräftig, doch er war erschöpft. Zu viel hatte sich nach Freyas Tod verändert. Er fühlte sich so unendlich einsam ohne sie. Er hatte auch nie wieder eine Tasse Tee im Bett getrunken. Es wäre ihm wie Verrat vorgekommen, als könne er einfach so weitermachen. Hanjo stieg mühsam aus dem schweren Eichenbett, in dem er nun schon seit vier Wochen allein schlief. Ihre Decke lag noch da. Er brachte es einfach nicht übers Herz, sie auf den Dachboden zu bringen. Nachts kuschelte er sich hinein und er glaubte, noch immer ihren Geruch wahrnehmen zu können. Auch der Kleiderschrank war nicht ausgeräumt. Er war noch nicht so weit. Gerade weil jetzt alles anders war, brauchte er ihre persönlichen Dinge noch eine Weile um sich. Sie waren sein Trost. Er hatte nicht verhindern können, dass der Krebs sie aufgefressen hatte, doch er konnte zumindest selbst entscheiden, wann er sich von ihren Sachen trennen wollte. Vielleicht nie. Hanjo schlurfte in die Küche und ließ Wasser in den Kessel laufen. Er hielt die Küche immer sauber, doch sie erschien ihm neuerdings glanzlos und alt. Sie hatten sie vor 28 Jahren eingerichtet und bis auf einen neuen Kühlschrank mit Gefrierfach, einer Mikrowelle und ein paar Kleinigkeiten war sie fast unverändert. Für Freya war es der wichtigste Raum im Haus gewesen. Hier hatte sie gekocht, Handarbeiten gemacht und Briefe geschrieben. Sie hatte nie den Wunsch nach einer modernen Einbauküche geäußert und ihm war die Küche auch nie altmodisch erschienen. Hier hatten sie glückliche Stunden verbracht. Er musste unbedingt Blumen auf den Tisch stellen. Aber alles war anstrengend und er vermisste sie so sehr. Zusammen hatten sie auch die schlimmen Zeiten ertragen. Sie hatten sich gegenseitig getröstet. Doch an die dunklen Stunden wollte er jetzt nicht denken. Er versuchte, sich an die schönen Momente zu erinnern. Er war immer mit guter Laune aufgewacht, selbst wenn es draußen stürmte und die Regentropfen an das Fenster prasselten. Er hatte sich auf den Tag gefreut, war dann mit dem Tee zurück ins Bett gekrochen und sie hatten sich aneinandergekuschelt. Heute würde die Sonne scheinen. Es würde ein wundervoller Sommertag werden, doch es bedeutete ihm nichts. Der Kessel lief über und das kalte Wasser spritzte über die Spüle. Hastig drehe Hanjo den Hahn zu. Er musste sich zusammenreißen. Seine Kite- und Surfschule war seine Existenz und das kleine Restaurant war Freyas Ein und Alles gewesen. Er durfte ihr gemeinsames Lebenswerk nicht vernachlässigen. Das gute Wetter garantierte immerhin viele Schüler und hungrige Touristen. Er würde viel zu tun haben und das sollte ihn ablenken. Der Wasserkessel pfiff. Hanjo schüttete die Ostfriesenmischung in die alte Tonkanne und goss den Tee auf. Er wartete drei Minuten, bevor er sich eine Tasse einschenkte. Etwas Warmes von innen, etwas Tröstliches, etwas Vertrautes. Hanjo sah auf das kleine eingerahmte Foto von Freya und seufzte. »Alles ist gut! Du musst dir keine Sorgen machen.«

Seit er sie verloren hatte, quälten ihn wieder furchtbare Träume. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis er sich wieder etwas besser fühlen würde, hatte der Arzt gemeint und ihm ein paar Tabletten verschrieben. Hanjo wusste es besser. Keine Medizin der Welt würde ihm wirklich helfen. Er selbst musste einen Schlussstrich unter sein altes Leben ziehen. Dann würde er auch die Decke nicht mehr brauchen und all die anderen Sachen, von denen er sich noch nicht trennen konnte. Doch vorher gab es noch ein paar Dinge zu erledigen.

Olli lag im Alkovenbett seines Wohnmobils und presste sich die Fäuste auf die geschlossenen Augen. Die Sonne schien durch die offene Dachluke. Eigentlich liebte er es, von Sonnenlicht geweckt zu werden, doch heute schmerzte es, wie ein Messer in seinem Kopf. Er hatte einen entsetzlichen Kater. Olli rollte sich auf die Seite. Seine Arme suchten nach ihr, vergeblich. Sie war weg. Er war ganz allein. Natürlich, dachte er. Sarah war nicht mehr da. Sein Herz zog sich für ein paar Sekunden zusammen und in seinen Augen brannten Tränen der Wut, wenn er an den gestrigen Abend dachte. Warum hatte sie das getan? Er hatte sie wirklich geliebt und er war vorher lange nicht mehr verliebt gewesen. Sarah war am Abend zu ihm ins Wohnmobil gekommen. Er hatte bereits auf sie gewartet und eine gute Flasche Rotwein entkorkt. Doch sie wollte keinen Wein, sie wollte sich nicht einmal setzen. Sie war in der offenen Tür stehen geblieben und hatte Schluss gemacht. Sie könne eben nicht mehr mit ihm zusammen sein, hatte sie gemeint. Erst hatte er gedacht, er habe sie falsch verstanden, dann glaubte er an einen schlechten Scherz. Er solle kein Drama daraus machen, hatte sie kalt erwidert. Er hatte zwei Gläser eingeschenkt und sie gebeten, zu bleiben und mit ihm zu reden. Er hatte doch nur wissen wollen, warum? Er hatte sie regelrecht angefleht. Sie würde sich freuen, wenn sie Freunde blieben und er ihr weiter beim Training helfen könnte. Sie hatte noch leise ›sorry‹ gemurmelt und war dann in die Nacht verschwunden. Er hatte eine Flasche Whisky geöffnet und den Abend mit Jack Daniels verbracht. Olli konnte sich nicht mehr erinnern, wann und wie er ins Bett gekommen war. Es war lange her, dass er sich bis zum Filmriss besoffen hatte. Mit zittrigen Beinen stieg er die Leiter hinunter. Es musste noch verdammt früh sein, aber an Schlaf war gar nicht mehr zu denken. Er stellte einen Topf mit Wasser auf den Gasherd, bevor er ins Bad ging. Die kalte Dusche hatte nicht den gewünschten Effekt. Er fühlte sich noch immer furchtbar und die Kopfschmerzen hatten auch nicht nachgelassen. Das Wasser war fast verkocht, als er wieder an den Herd kam. Olli goss den Rest in einen Becher und rührte löslichen Kaffee dazu. Dann öffnete er die Tür und setzte sich auf die Treppe. Der Himmel war strahlend blau und der Wind perfekt. Sarah mochte dieses Wetter genauso sehr wie er. Es würden wieder unzählige gut gelaunte Surfer durch die Wellen jagen. Olli campierte schon seit Saisonbeginn auf der großen Wiese. An den Wochenenden hatte er immer jede Menge Nachbarn. Auch in dieser Nacht waren noch ein paar Busse und Wohnmobile gekommen, doch es war noch keine Menschenseele wach. Die berühmte Ruhe vor dem Sturm, dachte er. In ein paar Stunden würde in der Bucht die Hölle los sein. Seit ein paar Jahren arbeitete Olli in den Sommermonaten als Kite- und Surflehrer für Hanjo. Schon als kleiner Junge hatte er jede freie Minute hier verbracht. Heute wünschte er sich zum ersten Mal weit weg. Der Kaffee schmeckte bitter, doch Olli zwang sich, ihn trotzdem zu trinken. Wie sollte er den Tag durchstehen? Sein Leben hatte sich über Nacht geändert. Er fühlte sich genauso elend, wie vor vielen Jahren. Damals war er am Ende gewesen und seine erste Liebe tot.

Stefan zündete sich die nächste Zigarette an. Sein Hals kratzte bereits. Sophie machte ihn aggressiv. Als er Tina damals kennengelernt hatte, hatte er sich wirklich bemüht, zu Sophie ein freundschaftliches Verhältnis aufzubauen. Doch diese arrogante Ziege hatte ihn immer von oben herab behandelt. Sophie war einfach oberflächlich und karrieregeil. Sie hatte ja nicht mal davor zurückgeschreckt, als Polizeireporterin zu arbeiten. Stefan hasste diese Blutsauger, die sich mit ihren Kameras auf Unfallopfer, Zeugen und Leichen stürzten. Sie waren wie Aasgeier. Jede Katastrophe machte sie glücklich und satt. Während er versuchte, das Böse zu bekämpfen, hofften sie auf eine fette Story. Je grausamer das Verbrechen, desto größer die Schlagzeile. Stefan drückte die halb gerauchte Zigarette im vollen Aschenbecher aus. Mehrere Kippen fielen dabei auf den Boden. Auch wenn Sophie schon lange nicht mehr in diesem Metier arbeitete, blieb sie in seinen Augen eine Leichenfledderin. Sie hatte den Opfern das Letzte genommen, die Ehre. War er ungerecht? Seine Frau wirkte so glücklich über den Besuch. Sophie war nun einmal ihre Freundin und Tina hatte ein bisschen Abwechslung bitter nötig. Aber musste Sophie gleich zwei Wochen bleiben? Sonst residierte sie doch lieber in Luxushotels. Seine Frau hatte ihn eindringlich gebeten, keinen Streit vom Zaun zu brechen. Stefan seufzte. Er würde das Beste aus der Situation machen. Vielleicht war er einfach zu empfindlich. Die Hauptsache war doch, dass er das Wochenende mit seinen Kindern verbringen würde. In dieser Sekunde klingelte sein privates Handy. Stefan nahm das Gespräch an. »Hey, Süße! Ich bin gleich bei euch!«

»Süße? Finde ich wirklich nett, aber ich muss dich da enttäuschen. Ich bin es nur, die lästige Sophie.«

»Ist was mit Tina oder den Kindern?« Plötzlich wurde ihm heiß und kalt vor Angst. Dass Sophie in freundschaftlicher Absicht anrief, war ausgeschlossen.

»Nein, alles in Ordnung mit deiner Bande! Hör zu! Ich stehe hier am Strand vor einer Leiche. Pelle hat sie gefunden.«

Stefan entspannte sich. Aber was erzählte die Verrückte da? »Eine Leiche? Bist du sicher?«

»Ob ich sicher bin?«, fragte Sophie gereizt. »Ich stehe einen Meter vor ihr! Sie ist um die 25 und sie war bestimmt mal sehr hübsch.«

Sie nervte ihn mit ihrem oberschlauen Getue. Er wurde regelrecht wütend. »Ach ja! Die Polizeireporterin hat mal wieder alles unter Kontrolle! Schon Fotos gemacht? Wie lautet denn die Schlagzeile?«

»Mensch, hör auf mit den alten Geschichten. Das ist ja lächerlich! Ich stehe vor einer Leiche, kapiert! Was soll ich jetzt machen? 110 anrufen? Oder kommst du selbst?«

»Wo?«, fragte er etwas ruhiger.

Sophie klang freundlicher. »In Gold.«

»Bleib einfach da stehen! Ich bin spätestens in 15 Minuten da. Und fass ja nichts an!«

»Nein? Gut, dass du mir das sagst! Mann! Bring deinen Arsch hierher, ich hab ein mulmiges Gefühl. Irgendetwas stimmt da nicht.«

Stefan fluchte laut. Sophie hätte vollkommen ausgereicht, um ihm sein Wochenende zu verderben. Musste sie auch noch über eine Leiche stolpern? Er atmete tief durch und wählte die Nummer der Kollegen auf Fehmarn.

»Polizeiwache Burg. Larrson am Apparat.«

»Broder, ich bins, Stefan Sperber.«

»Mensch! Schön, dass du dich mal meldest. Auch wenn es noch verdammt früh ist.«

»Wetten, du bist gleich anderer Ansicht? In Gold liegt angeblich eine Leiche!«

Stefan feuerte sein Handy auf den Beifahrersitz und schlug heftig gegen das Lenkrad. Dann bog er ab und fuhr auf der kleinen Straße nach Gold. Mulmiges Gefühl? Lächerlich! Sophie witterte nur eine Story. Sie konnte es wohl doch nicht lassen. Ein Hund, der Blut einmal geleckt hatte, würde immer wieder jagen. Hunde durfte man aber zumindest erschießen.

Ben hörte sein eigenes Herz klopfen. Luftblasen stiegen an die Oberfläche. Ihr langes Haar schwebte im Wasser wie Seegras und umrahmte ihr angstverzerrtes Gesicht. Er konnte sehen, dass sie schrie. Er wollte ihr helfen, doch er kam nicht an sie heran. Algen hatten seine Füße gefesselt. So sehr er auch strampelte, er konnte sich nicht befreien.

Ben schreckte hoch. Er war verschwitzt und seine kinnlangen Locken klebten ihm im Gesicht. Er hatte nur geträumt. In Wirklichkeit lag er auf der Matratze in seinem Bus. Seine Beine hatten sich in einem Sarong verfangen. Die Algen, dachte er. Er befreite sich aus dem bunten Tuch und feuerte es wütend in die Ecke. Er schob die Seitenschiebetür seines klapprigen Ford Transit zur Seite, um frische Luft hereinzulassen. In der Nacht waren noch mehr Busse und Wohnmobile gekommen. Die Wiese sah aus wie ein Campingplatz. Bei diesem wunderbaren Wetter und dem konstanten Wind war das ja auch kein Wunder. An den Wochenenden war immer die Hölle los. Es erinnerte ihn an sein anderes Leben. An seine Zeit in Thailand. Natürlich war auf Phuket alles viel multikultureller und spannender gewesen. Seine Schüler kamen aus allen Teilen der Welt. Zum Sonnenuntergang hatte man sich am Strand getroffen und ein paar Bier gezischt. Zumindest, bis er Lamai kennengelernt hatte. Sie hatte sein Leben auf den Kopf gestellt. Es war die berühmte Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie hatten jede freie Minute zusammen verbracht. Schon nach wenigen Wochen war ihm klar, dass er nie mehr ohne sie sein wollte. Sie war sein Leben. Bis der Tsunami alles änderte. Etwas von ihm war mit ihr gestorben. Ohne sie wollte er keine Sekunde länger bleiben. Er war nach Bangkok geflogen und hatte vier Wochen lang seine Ersparnisse versoffen und sich mit Beruhigungspillen zugedröhnt. Danach blieb nur noch eine Lösung. Er musste zurück nach Hause. Die erste Zeit hatte er in seinem alten Kinderzimmer bei seinen Eltern gelebt. Seine Mutter war unendlich glücklich gewesen, doch er hatte ihre übertriebene Fürsorge nicht mehr ausgehalten. Sein alter Kumpel Olli war seine Rettung gewesen. Olli war auf der Suche nach einem zweiten Surflehrer für die Hochsaison. Er hatte das Angebot dankbar angenommen. Er war billig an den alten Transit gekommen und kurzerhand auf den Parkplatz gezogen. Ben atmete tief durch und versuchte, die Gedanken an Phuket zu verdrängen. Er schlüpfte in eine alte Armeehose, griff seine Zahnbürste und knallte die Schiebetür von außen zu. Er sperrte nie ab. Das war das Gute an seinem Zigeunerleben. Er besaß nichts, was sich zu stehlen gelohnt hätte. Die wenigen persönlichen Sachen, an denen sein Herz hing, waren für jeden anderen ohne Wert. Wenn er wollte, konnte er alles, was er brauchte, in zwei Minuten in eine Tasche packen und abhauen. Ben ging zu Hanjos Haus, in dessen Untergeschoss auch das Bistro war. Es würde ein heißer Tag werden und er würde genug zu tun haben, um sich abzulenken. Ben schloss die Hintertür auf und ging zu dem Badezimmer hinter der Restaurantküche. Das Bad war eigentlich für das Personal gedacht, doch die wenigen Aushilfskräfte, die in der Hochsaison stundenweise kamen, lebten auf der Insel und brauchten es nicht. Hanjo hatte ihm angeboten, es zu benutzen. Durch den hinteren Eingang konnte er es jederzeit betreten, ohne Hanjo zu stören oder durch das Bistro laufen zu müssen. Ben drehte das Wasser auf und versuchte die Erinnerungen für einen Moment wegzuspülen. Vergessen würde er die grauenhaften Bilder nie. Ben wusch sich das Shampoo aus den Haaren und überlegte, was er nun machen sollte. Normalerweise würde er zu Olli gehen, um mit ihm bei einem Becher Kaffee den Unterrichtsplan für den Tag zu bequatschen. Doch das war jetzt unmöglich. Er konnte Olli nicht gegenübertreten, nicht unter vier Augen. Warum hatte er sich nur darauf eingelassen? Ihm hatte es rein gar nichts bedeutet. Er hatte geglaubt, sie seien sich einig, sie hätte verstanden. Sie waren beide nicht nüchtern gewesen und sie waren erwachsen. Es ging doch nur um ein bisschen Spaß! Warum musste sie eine solche Szene machen? Und wie sollte er sich jetzt bloß verhalten? Er musste einfach so tun, als sei überhaupt nichts passiert. Wenn er Glück hatte, kam die Wahrheit nie ans Licht.

Sophie versuchte, ruhig zu bleiben. Stefan war nach wie vor ein arrogantes Arschloch. Er hatte sie behandelt, wie einen dummen Teenager. Sie solle nichts anfassen. Sie hatte lange genug als Polizeireporterin gearbeitet. Tina lag soviel daran, dass sie das alte Kriegsbeil endlich begraben würden. Und nun hatten sie sich bereits gestritten, bevor sie sich überhaupt gesehen hatten. »Scheiße«, flüsterte Sophie der Toten zu. »Wieso muss ausgerechnet ich hier lang joggen? Nimm es nicht persönlich, aber ich wünschte, ich hätte dich nie gesehen.« Im gleichen Moment schämte sie sich und sah sich die Leiche genauer an. Sie trug einen Neoprenanzug und lag auf dem Rücken. Warum sah das alles irgendwie falsch aus? Es musste grauenhaft sein zu ertrinken, dachte sie schaudernd. Vielleicht war die Frau schon fast am Ufer gewesen, als ihr die Luft ausging. Sophie fröstelte. Hatte sie den Strand gesehen und gedacht, dass sie es noch schaffen könnte? Die Augen waren geschlossen, so als hätte sie resigniert. Pelle hatte das Interesse an der Toten verloren und spielte mit einem großen Ast, der im Seetang lag. Sophie hatte das Gefühl, schon eine halbe Ewigkeit auf die tote Frau gestarrt zu haben, als endlich zwei Männer den Deich entlangliefen. Sie stiefelten durch den Sand auf sie zu.

»Aha! Da sind wir richtig! Polizeihauptkommissar Larrson. Das ist mein Kollege Claas Meier. Haben Sie Kriminalhauptkommissar Sperber verständigt?«

Sophie nickte. Larrson sah mit seinem grauen Vollbart eher wie ein Seebär aus. Er musste kurz vor der Pensionierung stehen.

»Wie ist Ihr Name?«, fragte Meier. Er sah aus wie ein pummeliges Riesenbaby. Wäre die Situation nicht so ernst, hätte sie beim Anblick des skurrilen Duos einen Lachanfall bekommen.

»Sophie Sturm.« Sie nickte mit dem Kopf in Richtung Leiche. »Mein Hund hat sie gefunden.« Larrson nickte und sein junger Kollege nahm ein Notizbuch zur Hand. Endlich sah sie auch Stefan. Er marschierte energisch auf sie zu.

»Morgen«, grüßte er brummig. »Und? Was haben wir?«

Sophie war entsetzt. Stefan roch nach Schnaps und ähnelte einem Penner. Er ging langsam um die Leiche herum. Pelle rannte begeistert auf die Gruppe zu. Den schweren Ast schleppte er gleich mit.

»Nimm den Hund weg!«

»Anscheinend wieder so ne Kiterin«, kommentierte Claas Meier und schüttelte den Kopf.

»Wieder?« Stefan stand auf und sah ihm ins Gesicht. »Was heißt denn wieder?«

»Vor drei Tagen ist auch so eine Verrückte ertrunken. Die wurde ein paar Meter weiter angeschwemmt.« Meier deutete mit dem Arm mehrfach in die Richtung und erinnerte an einen Verkehrspolizisten. Stefan nickte nur. Plötzlich wusste Sophie, was sie an dem Bild störte.

»Stefan?« Er warf ihr einen warnenden Blick zu, doch sie ließ sich nicht einschüchtern. »So wird man doch nie und nimmer angeschwemmt! Sie liegt auf dem Rücken, so als hätte man sie hingelegt.«

Stefan funkelte sie böse an und ignorierte sie dann. »Müsste schon ein paar Stunden tot sein. Broder, wo bleibt denn der Arzt?«

»Äh, Fips war noch beim Frühstück«, antwortete Meier für seinen Vorgesetzten.

»Fips?«

»Friedrich Pieper, äh, unser Doktor. Wir haben hier keinen Quincy auf Fehmarn.« Claas Meier kicherte über seinen Scherz.

»Ist hier irgendetwas witzig?«, fuhr Stefan ihn wütend an. »Wenn ja, dann würde ich gern mitlachen. Mach dich lieber nützlich und lass ein paar Kollegen kommen. Ich will hier keine Schaulustigen.«

In diesem Moment erschien ein älterer Herr mit Arzttasche auf dem Deich. Er winkte fröhlich, während er zum Strand spazierte. »Moin. Entschuldigt die Verspätung, aber ich hätte ja sowieso nichts mehr tun können. Moin Broder! Geht es deiner Frau wieder besser?«

Polizeihauptkommissar Larrson nickte. »Die Pillen, die du ihr verschrieben hast, haben Wunder gewirkt!«

»Antibiotikum! Ist eben das Beste, bei einer eitrigen Mandelentzündung.«

Sophie trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. Sie konnte nicht glauben, dass die Männer neben der toten Frau ein Schwätzchen hielten.

»Wenn es den Herren recht ist, sollten wir mal zur Sache kommen«, unterbrach Stefan mürrisch.

Pieper schnalzte mit der Zunge und machte sich an seiner Tasche zu schaffen. Er streifte sich Handschuhe über und wischte der Toten die Haare aus dem Gesicht. Nachdem er sie nachdenklich betrachtet hatte, stand er wieder auf. »Ja, das arme Ding ist wohl ertrunken. Hat ja sogar noch den Neoprenanzug an. Ach, immer diese Unfälle. So, ich stell dann mal den Totenschein aus, oder? Soll ich ›Natürliche Todesursache‹ ankreuzen?«

»Doktor Pieper?«, fragte Stefan und sah plötzlich so unschuldig verwirrt aus wie Colombo. »Wenn Sie sich nicht hundertprozentig sicher sind, was aufgrund der Tatsache, dass Sie das arme Mädchen gar nicht richtig untersucht haben, schwierig sein dürfte, schlage ich vor, Sie machen Ihr Kreuzchen nicht so leichtfertig.«

Friedrich Pieper zuckte mit den Schultern und nickte dann. Sophie war fassungslos. »Macht ihr keine Fotos?«, fragte sie verwirrt.

Stefan starrte sie an. »Fotos? Das ist hier kein Mord, Sophie, und wir sind auch nicht in einem englischen Kriminalfilm. Kann mal einer die Personalien dieser Person aufnehmen!«

Meier fühlte sich sofort angesprochen. »Sie heißen Sophie Sturm und wohnen wo?«

Sophie war wütend. Sie war sich sicher, dass das nur dazu diente, sie abzulenken und aus dem Weg zu haben. »Stefan, was soll das?«

»Ich mach nur meine Arbeit und die willst du hoffentlich nicht behindern, oder?«

»Wo Sie wohnen?«, fragte Meier eindringlich.

Sophie funkelte ihn böse an. Plötzlich bemerkte sie, dass Pelle nicht mehr neben ihr war. Sie sah sich erschrocken um. Ihr Hund lag ein paar Meter weiter unten am Strand und kaute an der Rinde des Astes. Jetzt wusste sie, was nicht stimmen konnte.

»Das ist es! Stefan! Die Frau liegt hier oben, aber das angeschwemmte Treibgut liegt mindestens vier Meter weiter unten. Wie soll sie denn hier angeschwemmt worden sein?«

Hanjo ging ins Schlafzimmer. Das Doppelbett versetzte ihm jeden Morgen wieder einen Stich. Unmotiviert ging er an den Kleiderschrank und griff wahllos nach Hemd und Hose. Er zog seinen Bademantel aus, legte ihn über einen Stuhl und streichelte ihn kurz. Freya hatte ihm den Mantel vor 12 Jahren zu Weihnachten geschenkt. Mittlerweile war der blaue Frottee an einigen Stellen etwas fadenscheinig, doch er liebte den Bademantel. In diesem Leben würde er sich keinen neuen mehr zulegen. Weihnachten! Gut, dass jetzt Sommer war. An ein Fest ohne sie wollte er noch gar nicht denken. Hanjo schloss den letzten Hemdknopf und warf einen Blick aus dem Fenster. Am Strand standen einige Menschen zusammen. Sie hatten keine Bretter oder Segel dabei. Hanjo wurde neugierig. Er nahm sein Fernglas und regulierte die Schärfe. Das war doch Broder Larrson! Polizei? Hanjo fröstelte. Und da war Fips. Die blonde Frau kannte er nicht. Sie sahen alle zu Boden. Er folgte ihrem Blick mit dem Feldstecher. Es war ein Körper in einem Neoprenanzug. Schon wieder eine Tote! Er schloss für einen Moment die Augen. Würden die Touristen nun ausbleiben? Hanjo schüttelte den Kopf. Es war wirklich nicht der Zeitpunkt, sich darüber Gedanken zu machen. Gebannt schaute er weiter durch das Glas. Ein großer Hund spielte mit einem Ast. Ein Typ, der wie ein Penner aussah, lief zum Wasser. Er musste auch Polizist sein. Das war doch der Mann von Tina Sperber. Aber arbeitete der nicht in Lübeck? Hanjo sah noch mal nach der Leiche. Jetzt konnte er ihren Kopf sehen, die blonden Haare. Tränen brannten in seinen Augen. Wieso musste ein junger Mensch sterben? Er musste sich zusammenreißen. Außerdem hatte er jede Menge zu tun. Er musste Kaffee und Eier kochen und das Buffet richten. Es lag ein anstrengender Tag vor ihm. Er atmete tief durch und stellte den Feldstecher zurück auf die Fensterbank. Er musste jetzt wirklich schleunigst in die Küche. So war die Ostsee eben. Bei Sonne fast wie ein Karibikstrand, im Winter mal glatt und mal rau und bei Nacht kalt. Hatte die Frau das etwa nicht gewusst?

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