Читать книгу Tatort Ostsee - Harald Jacobsen, Anke Clausen - Страница 21

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Sonntag

Stefan und sein Kollege Robert Feller warteten im Sektionssaal des Rechtsmedizinischen Instituts darauf, dass Lutz Franck mit der Obduktion beginnen würde. Sie blickten wie versteinert auf das Gesicht der toten Frau auf dem Stahltisch. Franck ging um den Tisch herum und sprach in sein Diktiergerät. »Wir haben hier eine weibliche Leiche, 1,75 m groß, etwa 65 Kilo schwer. Äußerlich auffällig sind leichte Hämatome im Brustbereich. Wir machen jetzt einen Abstrich und öffnen dann.«

Stefan wippte ungeduldig auf und ab. Robert war blass geworden. Stefan hatte den sonst immer so gut gebräunten Kollegen noch nie so gesehen.

»Die Leiche wurde am Strand von Gold auf Fehmarn gefunden«, diktierte Franck weiter. »Ich öffne jetzt den Brustkorb.«

Stefan war schon oft Zeuge dieses Y-Schnitts gewesen.

»Wir entnehmen nun die inneren Organe.« Lutz drückte auf die Stopptaste. »Besonders interessant ist natürlich die Lunge.« Robert nickte übertrieben und verließ überraschend den Sektionssaal.

»Er ist noch nicht so lange dabei«, verteidigte Stefan seinen Kollegen. Gegen die leichte Schadenfreude kam er nicht an.

Lutz nickte. »Selbst Schölzel war gestern fix und fertig, aber er war bei dem Baby dabei. So was muss ich zum Glück auch nicht alle Tage machen. Sonst wäre ich schon in der Klapsmühle. Weiter!« Seine Hände verschwanden in dem geöffneten Brustkorb. Er entnahm das erste Organ. Stefan würde sich nie daran gewöhnen. Außerdem ärgerte es ihn, dass er bei Obduktionen immer an seine Hochzeitsreise denken musste. Sie hatten die Flitterwochen in Thailand verbracht. In Bangkok hatten sie den Markt in Chinatown besucht und kaum glauben können, was der Mensch so alles essen kann. Die unterschiedlichsten Innereien warteten in der schwülen Hitze auf Kunden. Mit viel Geschnatter wurden sie von den Verkäuferinnen auf die Waage geworfen und anschließend in Plastiktüten auslaufsicher verpackt.

»Das ist in der Tat merkwürdig!«, rief Lutz plötzlich.

Stefan war schlagartig wieder bei der Sache. »Was?«

Lutz schüttelte den Kopf und gab ihm ein Zeichen, sich noch einen Moment zu gedulden. Dann zerschnitt er den Lungenflügel und betrachtete die Schnittfläche. »Stefan! Das solltest du dir ansehen!«

Widerwillig stellte er sich neben Franck und starrte auf die zerschnittene Lunge.

»Und?«

»Hier die Schnittfläche! Trocken!«

»Trocken? Sie ist gar nicht ertrunken?«

»Doch, doch, aber der Befund sollte indifferent sein.«

»Indifferent? Verdammt, Lutz, sprich Deutsch mit mir!«

»Die Schnittfläche dieser Lunge sollte normal sein. Ostseewasser hat einen Salzgehalt, der dem des menschlichen Körpers ungefähr entspricht. Obwohl diese Frau definitiv ertrunken ist, würde sich die Lunge auf den ersten Blick nicht von einer – auf Deutsch – Landleichenlunge unterscheiden.«

Stefan sah ihn fragend an.

»Osmotischer Austausch! Bei Salzwasser ist die Lunge voll mit Wasser, weil das Salz die Körperflüssigkeiten in die Lunge zieht. Das ist wie beim Kochen. Man soll sein Steak auch nie vor dem Braten salzen, weil es dann an Geschmack verliert. Na, jedenfalls wäre die Schnittfläche bei einer Salzwasserleiche feucht! Es würde Flüssigkeit raustropfen.«

Stefan wurde fast schlecht bei dem Gedanken. Musste Franck ihm auch noch den Appetit auf sein geliebtes Steak nehmen?

»Hörst du mir eigentlich zu?«

Er riss sich zusammen und nickte.

»Bei Süßwasser verhält sich die Sache wieder ganz anders. Weil der Körper einen höheren Salzgehalt hat, wird das Wasser automatisch aus der Lunge gezogen.«

Stefan reichte der Unterricht für heute. »Und wie ist das Ende der Biologiestunde?«, fragte er eine Spur zu aggressiv.

»Das ist Chemie!«, antwortete Franck beleidigt. »Was ich zu erklären versucht habe, ist Folgendes. Die Schnittfläche dieser Lunge ist trocken! Die Frau kann nicht in der Ostsee ertrunken sein!«

Ben schob die Schiebetür zur Seite, um frische Luft reinzulassen. Der Himmel war wolkenlos und der Morgen schon jetzt angenehm warm. Das würde ein guter Tag werden. Nicht alle Tage waren gut. Oft wünschte er sich sein anderes Leben auf Phuket zurück. Auch wenn ihm diese Zeit dort mittlerweile fast unwirklich erschien, überfiel ihn die Sehnsucht mit einer solchen Heftigkeit, dass es ihm den Atem nahm. Dann sah er plötzlich wieder alles genau vor sich. Den Bang Tao Beach, die Palmen und die Surfer. Er vermisste die Tempel und die freundlichen Menschen, den Duft von Räucherstäbchen und das wunderbare Essen. Und ihm fehlte das Gefühl der unendlichen Freiheit, wenn er durch das kristallklare Wasser surfte. Er vermisste dann sogar die Dinge, die er dort manchmal verflucht hatte. Die aufdringlichen Verkäufer am Strand, das warme Bier, die Regenzeit und die Hitze in manchen Nächten. Wie oft hatte er gejammert, wenn er in seinem kleinen Bungalow ohne Klimaanlage nicht schlafen konnte und sein Bettlaken schweißnass war? Manchmal hatte er sich dann nach kalten Wintern und dicken Daunendecken gesehnt. Doch dieser Wunsch hatte nie lange angehalten. Spätestens am nächsten Morgen hatte er gewusst, dass es keinen schöneren Platz geben konnte. Er war damals glücklich, auch wenn seine Lebensweise sehr einfach war. Seine Behausung war spartanisch. Ein einfacher Holzbungalow mit wenigen Möbeln. Außer einem Bett, einem Tisch, einem Stuhl und einem kleinen Kühlschrank besaß er nichts. Doch er hatte seine Hütte geliebt und sie mit bunten Sarongs und Kerzen zu seinem Heim gemacht. In der kleinen Surfschule hatte er zwar nicht viel Geld verdient, doch irgendwie hatte es immer gereicht. Zwischendurch hatte er Privatstunden gegeben. Die Touristinnen hatten sich ihm regelrecht an den Hals geworfen. Er hatte selten eine Nacht allein verbracht. Er konnte sich unmöglich an Namen oder Gesichter erinnern. Sicher waren alle sehr süß gewesen, doch er hatte sich nie verliebt. Er war immer fair gewesen und hatte keiner Hoffnungen gemacht. Für ihn stand fest, dass er sich aus irgendeinem Grund nicht verlieben konnte. Bis zu diesem besonderen Moment, als er Lamai zum ersten Mal gesehen hatte. Er war eines Abends zum Essen in ein Strandrestaurant gegangen. Dieses bezaubernde Mädchen war an seinen Tisch gekommen, um seine Bestellung aufzunehmen. Er hatte auf Thai bestellt. Grünes Curry mit Huhn. Mühsam hatte er den auswendig gelernten Satz herausbekommen. Lamai hatte angefangen zu lachen. Nicht böse, sondern zauberhaft. Er hatte sie verzweifelt angesehen und dann mitgelacht. Nachdem er seine Bestellung ein paar Mal in verschiedenen Betonungen wiederholt hatte, hatte sie lächelnd genickt und ihm kurze Zeit später das gewünschte Gericht gebracht. Nach dem Essen hatte Lamai ihm erzählt, dass sie mit ihren Kolleginnen später noch auf ein Glas in einer Strandbar namens ›Coconuts‹ verabredet war. Er hatte sie fragend angesehen. Sie hatte mit den Schultern gezuckt und gelächelt. Natürlich war er auch dorthin gegangen. Von da an hatte er sie jeden Abend von der Arbeit abgeholt. Er hatte sie in verschiedene Restaurants eingeladen oder einfach nur zum Picknick am Strand. Er hatte nur noch den Wunsch, jede freie Minute bei ihr zu sein. Irgendwann hatten sie sich zum ersten Mal geküsst. Er hatte sich gefühlt, wie ein Teenager und die ganze Nacht nicht schlafen können. Er war nie zuvor so glücklich gewesen. Und dann kam der Tag, der ihm sein Glück nahm. Am Vorabend hatten sie zusammen am Bang Tao Beach Weihnachten gefeiert. Lamai war zwar Buddhistin, doch sie hatte darauf bestanden. Er hatte ihr einen Ring geschenkt, den er für sie hatte anfertigen lassen. Ein schlichtes Stück mit einem Tigerauge. Der Stein sollte sie beschützen, wenn er nicht bei ihr sein konnte. Am nächsten Morgen war Lamai an den Kamala Beach gefahren, um sich mit einer Freundin zu treffen. Es war der zweite Weihnachtstag und er hatte frei. Er hatte gerade seinen Bungalow verlassen, um in einem Strandrestaurant zu frühstücken, als er die Schreie hörte. Dann hatte er das Wasser kommen sehen.

Sophie schlug die Augen auf. Sie war nass geschwitzt und ihr Herz hämmerte. Jemand quetschte sie an die Wand. Sie konnte sich kaum noch bewegen. Etwas Feuchtes drückte sich an ihren Hals. Vorsichtig tastete sie hinter sich. Pelle! Er war trotz Verbot in ihr Bett gesprungen. Erleichtert drehte sie sich um. »Pelle, du Blödmann!« Eigentlich sollte sie ihn hochkant rauswerfen, aber er sah einfach zu niedlich aus. Seine Pfoten zuckten und er knurrte leise. Wahrscheinlich verfolgte er im Traum ein Kaninchen. Vorsichtig schob Sophie den großen Hund etwas zur Seite und griff nach ihrem Handy, um auf die Uhr zu sehen. Sie drückte auf die Tastatur und sofort leuchtete das Display blau auf. 10 nach acht! Sophie rappelte sich verwundert auf. Sie hätte nicht gedacht, dass es schon so spät war. Der Kitekurs begann in knapp zwei Stunden. Sophie ließ sich zurück in ihr Kopfkissen fallen. Sie würde sich sputen müssen, aber fünf Minuten wollte sie sich noch gönnen. Plötzlich schreckte sie wieder hoch. Da war noch was auf dem Display! Sie hatte eine neue Nachricht. Schnell rief sie die SMS auf: ›Definitiv ertrunken! Lutz!‹ Sie hatte sich zum Narren gemacht. Stefan würde sich totlachen. Sie seufzte und las weiter: ›Nicht in der Ostsee‹. Sophie setzte sich kerzengerade auf. Ihr Puls raste. Was hatte das denn zu bedeuten? Nicht in der Ostsee? Sie hatten sie doch am Strand gefunden. Ihr war rätselhaft, was Lutz damit meinte. Ihre eigenen Worte fielen ihr wieder ein: ›Sie sieht irgendwie hingelegt aus‹. Irgendjemand hatte die Frau an den Strand gelegt, nachdem sie woanders ertrunken, nein, ertränkt worden war. Wo? In einem See oder einem Swimmingpool? Eigentlich war das im Moment fast egal, denn eine Tatsache stand wohl fest. Die junge Frau war nicht von selbst an den Strand gekommen. Irgendwer hatte sie, bereits tot, dort abgelegt. Es war Mord! Und Stefan hatte sie für eine oberschlaue Wichtigtuerin gehalten. Er sollte ihr dankbar sein! Ohne ihre Nörgelei am Tatort wäre die ganze Geschichte vielleicht nie ans Licht gekommen. Am liebsten hätte sie ihn sofort angerufen. Aber dann würde sie Lutz verpetzen und damit ihre Informationsquelle verraten. Sie musste unbedingt mehr über die Sache erfahren. Lutz wollte nicht, dass sie ihn anrief, aber eine SMS würde sie ihm schicken. Entschlossen tippte sie eine Nachricht. Lutz würde anrufen, da war sie sich sicher. Sophie sprang aus dem Bett und ging ins Bad. Sie sollte heute beim Kurs Augen und Ohren offen halten und sich ganz unauffällig in der Szene umschauen. Schließlich hatte sie die perfekte Tarnung. Sie machte nur einen Schnupperkurs. Als sie herunterkam, stand Tina in der Küche und hatte Finn auf dem Arm. Gleichzeitig balancierte sie Aufschnitt, Milch und Marmelade aus dem Kühlschrank.

»Hier ist ja schon was los!«

Tina rollte mit den Augen. »Meine Nacht war um halb sechs zu Ende. Finn wollte nicht wieder einschlafen und dann sind die Großen aufgewacht. Ich brauch dringend einen Kaffee! Lass uns erst mal frühstücken!«

Sophie hörte gar nicht mehr zu, sondern starrte auf die Schlagzeile der Sonntagszeitung:

›Kiterin ertrunken! Schon der zweite furchtbare Unfall in dieser Saison. Sarah M. trainierte auf Fehmarn für die Deutschen Meisterschaften und galt als Favoritin. Wie ihre Sportkameradin Sandra L. ertrank auch Sarah M. nachts‹.

Tatort Ostsee

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