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Farrah

Harriette checkt ein im Petley’s Inn, einem kleinen, charmanten aber etwas heruntergekommenen Hotel auf Lamu, direkt am Wasser. Ein paar Rucksacktouristen sitzen auf der Terrasse des Hotels und beobachten das gemächliche Treiben der Ortsbewohner. Fischer die ihre Netze reparieren, Frauen in Buibui, die zum Markt schlendern, Esel bepackt mit Brennholz und Baumaterial.

Sie hat ein kleines Zimmer im Obergeschoss des Hotels mit Blick auf eine schmale Gasse. Sie öffnet die Fensterläden einen Spalt, um etwas Tageslicht ins Zimmer zu lassen. Das Zimmer ist angenehm kühl. Sie packt ihre Tasche aus und beschließt, sofort ihre erste Möbelsuchaktion zu starten. Unten, in der winzigen Empfangshalle, hinter einer kleinen Rezeption, sitzt eine junge Frau in Buibui und nimmt den Zimmerschlüssel entgegen.

“Wissen Sie, wer in Lamu schöne Möbel macht?”, fragt Harriette die junge Frau.

“Aber natürlich! Bwana Farrah! Er baut auf Bestellung. Seine Möbel sind sehr teuer”.

“Farrah … Farrah … ist das der bwana Farrah von mama Alice, von dem schönen Laden und dem Café?”, fragt Harriette.

“Ja, bwana Farrah und mama Alice. Wissen Sie wo die ‘Gallery Sanamu’ ist?”, fragt die Rezeptionistin.

“Ja, ich war vor einiger Zeit schon einmal in Lamu. Ich werde die Gallerie wiederfinden. Kann ich einfach dort hingehen oder muss ich bwana Farrah vorher anrufen?”.

“Sie können natürlich einfach hingehen und sich die Sachen anschauen, aber wenn sie mit bwana Farrah sprechen wollen, dann ist es besser, vorher einen Termin zu vereinbaren. Bwana Farrah und mama Alice haben wenig Zeit, sie sind gerade erst von einer Reise zurückgekommen”, antwortet die Rezeptionistin und hat den Telefonhörer schon in der Hand.

“Soll ich ihn gleich anrufen?”. Warum nicht, denkt Harriette und nickt. Sie wählt und wartet. “Bwana Farrah? Ich habe hier jemanden der Sie sprechen will!”. Sie spricht wie ein Wasserfall und reicht Harriette dann den Hörer.

“Hallo?”. Am anderen Ende hört sie eine Männerstimme, die nett aber auch etwas ungeduldig klingt. Sie entschuldigt sich und erklärt ihm, warum sie in Lamu ist und was sie sucht, dass sein Name ihr nun schon verschiedene Male zu Ohren gekommen ist und sie sehr neugierig auf seine Möbel geworden ist.

“Darf ich vorbeikommen?”. Sie darf.

Sie betritt ‘Gallery Sanamu’, als wäre es heiliger Boden: alles in diesem Raum ist einzigartig - jedes Objekt, jedes Dekor, jedes Detail. Gefährlicher Laden! Alles ist schön, die Produkte, die Präsentation … das sind Profis hier! denkt sie, als eine freundliche Buibui Frau auf sie zukommt und sie fragt, ob sie ihr helfen könne.

“Ja, ich möchte mir bwana Farrahs Möbel anschauen und habe einen Termin mit ihm”, erwidert Harriette. Die freundliche Buibui Dame lächelt.

”Kommen Sie!”. Sie führt sie quer durch den ganzen Laden. Zur Audienz beim Prince of Lamu, denkt Harriette und muss innerlich grinsen. Sie folgt dem schwarzen Buibui mit hennabemalten Füßen und Händen. Am Ende des Ladens sieht sie an der rechten Wand einen Durchgang, der wiederum in einen zweiten großen Raum führt: das Möbel-Mekka! Türen, Swahili-Sitzbänke mit eingelegten antiken Lamu-Fliesen, Schränke, große Spiegel mit Holztürchen, achteckige Tischplatten und wunderschön geschwungene Klappschemel, mal mit, mal ohne Rückenlehne – die sogenannten ‘scissorchairs’. Harriette traut ihren Augen nicht. Soviel Perfektion hat sie hier nicht erwartet. Dies alles ist nicht vergleichbar mit dem, was sie bisher an Möbeln gesehen hat. Ein ganz anderes Konzept: hier wird nicht versucht, neugebaute Möbel alt und antik aussehen zu lassen, hier werden alte, traditionelle Stilelemente in neuartigen Möbeln umgesetzt. Und was für ein Holz! Jedes einzelne Möbelstück möchte man streicheln. Handschmeichler! Sie kann es nicht lassen, sie muss mit beiden Händen Stuhllehnen, Tischflächen, Schranktüren berühren. Wie schön das alles ist! Ja, dies sind wahre Profis!

Samira - so heißt die Buibui Verkäuferin - führt sie quer durch den Raum. Am Ende befindet sich eine schwere Holztür. Sie öffnet sie und schon befindet Harriette sich in einem Innenhof, in dem fleißig gearbeitet wird. Männer in alten T-Shirts und zerrissenen Hosen polieren jeden Quadratzentimeter jedes einzelnen Möbelstücks mit einem ölgetränkten Lappen. Es wird solange poliert, bis alles in vollem Glanz erstrahlt. Die Farbe des Holzes kommt voll zum Leben. Harriette hört etwas weiter weg das Geräusch von Sägemaschinen.

Die Produktion der Möbel befindet sich in einem geschlossenen Raum an der gegenüberliegenden Seite des Innenhofes. Sie schaut durch ein Fenster und sieht überall Sägespäne und Sägemehl. Es wird geklopft, gefeilt. Hier wird hart gearbeitet! Die Arbeiter tragen alle Mundschutz und sind weiß vom Sägemehl. Harte Arbeitsumstände, denn außer dem staubigen Sägemehl ist es auch unerträglich heiß.

Und plötzlich steht er vor ihr, bwana Farrah: groß, schlank, mit krausem Vollbart, großer Brille, blauem Overall, Ledersandalen, Frotteehandtuch um den Nacken gewickelt, Handy in der Gürteltasche. Er begrüßt Harriette mit einem strahlenden Lächeln. Perlweiße Zähne blinken ihr entgegen.

“Farrah”, sagt er und reicht ihr die Hand. “Und Sie sind Harriette, mit der ich soeben gesprochen habe?”.

“Ja, das bin ich”, erwidert sie mit einem Lächeln. Samira geht zurück in den Laden. Farrah führt Harriette in den Schauraum, wo es angenehm kühl ist. Sie setzen sich an einen der Tische und Harriette erzählt ihm, was sie nach Lamu führt und was ihre Pläne bezüglich Villa Waridi sind. Er hört ihr zu, wird aber ständig durch sein Handy unterbrochen. Dann steht er auf, spricht in Swahili, aber die paar Wortfetzen, die sie auffängt, lassen vermuten, dass es sich um geschäftliche Belange handelt: Lieferungen von Milchpulver aus Nairobi für ‘Whissip’, Leinöl für die Werkstatt und Bier für ‘Petley’s’. Petley’s Inn … gehört ihm das Hotel etwa auch? Und Alkoholausschank? Sie dachte immer, dass es hier im moslimischen Lamu keinen Alkohol gibt! Aber da hat sie sich geirrt. ‘Petley’s’ scheint der einzige Ort auf dieser Insel mit einer Ausschanklizenz für Alkohol zu sein, insbesondere Bier.

“Ohne Bier wäre der Umsatz von ‘Petley’s’ drastisch niedriger”, grinst Farrah, noch immer mit seinem Telefon am Ohr. Harriette fühlt sich durch die zahlreichen Unterbrechungen und die Hektik der Telefongespräche gestresst. Farrah, für Harriette der erste Kenianer mit europäischem Bewegungstempo. Bei Farrah geht alles schnell. Der Mann steht unter Adrenalin. Er regelt, bewerkstelligt, leitet. Was Farrah sagt, wird gemacht. Was man an Farrah heranträgt, wird auch gemacht. Farrah, König von Lamu? Jeder kennt ihn, jeder respektiert ihn, jeder achtet ihn. Viele beneiden ihn. Farrah, der erfolgreiche Geschäftsmann auf Lamu. Farrah ist überall. Farrah hat wenig Zeit. Ja, dieser Mann ist lebenstüchtig! Dann schlägt er ihr vor, sich am Abend auf der Dachterrasse von Petley’s zu treffen:

“So haben wir mehr Ruhe, um zu sprechen”, und er wird seine Frau Alice mitbringen. Farrah verabschiedet sich und eilt zurück in seine Werkstadt. Harriette bleibt zurück im Schauraum. Sie schaut sich alles genau an. Mit welch einer Präzision hier gearbeitet wird! Wirklich beeindruckend! Die Preise sind auch beeindruckend. Na, bei diesen Preisen kann ich vielleicht ein oder zwei Einzelstücke kaufen, mehr ist nicht drin, sagt sie sich.

Harriette gönnt sich einen dieser herrlichen Milchshakes im ‘Whissip’. Es ist ruhig dort. Sie läuft durch den Coffee-shop und setzt sich in den kleinen schattigen Innenhof mit weißen Sonnenschirmen. In den Ecken stehen dekorative, große Pflanzenkübel mit Bananenstauden und Bambusgewächs.

Eine grüne Oase inmitten der Stadt. Vom Innenhof aus kann man die Theke im Coffee-shop gut sehen und beobachten, wie Cappuccinos aufgebrüht, Karottenkuchen angeschnitten und große Portionen Eis in Gläser gefüllt werden. Dort, am Ort des Geschehens, steht eine hochgewachsene weiße Frau mit langem, grau-blondem, schütterem Haar, das sie lässig hochgesteckt hat. Ein gezwirbeltes Tuch ist direkt am Haaransatz um ihren Kopf geschlungen und am Hinterkopf zusammengeknotet. Harriette schätzt sie um die fünfzig Jahre. Sie trägt ein dunkelblaues, wadenlanges Samtkleid mit V-Ausschnitt und kurzen Ärmeln, schwarze flache Ledersandalen und um ihre schlanke Taille einen breiten, reich verzierten Gürtel. Ihre langen, schlanken Hände sind überladen mit Silberringen, alle im Ethnostil, indisch oder indonesisch.

Zu viel des Guten, aber irgendwie passt es zu ihr, ist Harriettes erster Gedanke. Diese Frau hat etwas Hexenhaftes. Diese langen, mageren Arme, schmalen Lippen, großen blaugrauen, messerscharfen Augen, die alles registrieren. Sie scheint einen Lieferschein zu prüfen. Das muss Alice sein, ist ihr dritter Gedanke. Und dann - diese Frau passt nicht zu ihm. Sie wundert sich über diesen Gedanken, denn sie kennt weder Farrah noch Alice. Aber sie bleibt dabei: sie passt nicht zu ihm.

Als Harriette sich verabschiedet, schaut die große weiße Frau nicht einmal auf, wer von ihren Gästen da “bye bye” ruft, sie scheint zu beschäftigt zu sein.

*

Harriette steht auf der Balustrade von ‘Petley’s’ Dachterrasse. Sie betrachtet den rötlichen Abendhimmel und das rege Treiben unten auf der Promenade. Fischerboote, die anlegen; Fischer, die am Kai ihre Netze zum Trocknen ausbreiten; Straßenhändler, die Mangos und Fisch verkaufen; zahlreiche herumstreunende Katzen, die hartnäckig versuchen, ein Stückchen Fisch zu ergattern. Allabendliches Bild von Lamu. Harriette wartet auf Farrah und Alice. Sie haben sich hier oben um sieben Uhr verabredet. Sie bestellt ein Bitter Lemon und macht es sich auf einer der vielen Swahili-Bänke mit den großen, bunten Kissen bequem. Es wird schnell dunkel am Äquator. Innerhalb einer halben Stunde ist die Sonne untergegangen. Auf der Dachterrasse und unten auf der Promenade werden Kerosinlampen angezündet. Harriette ist froh, lange Hosen und ein langärmeliges Leinenhemd angezogen zu haben, denn die ersten Moskitos sind bereits zu hören. Langsam füllt es sich auf ‘Petley’s’ Dachterrasse, die ein Treffpunkt für Mzungus zu sein scheint. Ein paar Touristen machen sich an der Theke breit und bestellen Tusker-Bier. Im Hintergrund wird ‘Kronkronhinko’ gespielt von Ayub Ogada, einem bekannten kenianischen Sänger. Immer mehr Touristen finden sich ein. Lebhaftes Getümmel. Um acht Uhr noch immer kein Farrah und Alice in Sicht. Haben sie sich in der Zeit geirrt? Oder dem Ort? Endlich - gegen halb neun - erscheinen sie. Es ist, als ob die beiden nicht hierher gehören, hier zwischen all diesen Bermuda-T-Shirt-Touristen.

Farrah trägt schwarze, weite Baumwollhosen und ein langes, weites Hemd mit großen schwarz-weißen Mustern, wie man es auf Bali finden kann. Schwarze Lederslipper und einen Hut! Einen schwarzen Lederhut. Eine extravagante Erscheinung, etwas zu viel, findet Harriette, aber dann - gleich hinter ihm - folgt die große weiße Frau vom ‘Whissip’. Harriette fand sie bereits am Nachmittag extravagant, aber jetzt, jetzt scheint sie zu einer Galavorstellung zu gehen: Schwarze weite Pumphose mit schwarzem, enganliegendem Spitzenoberteil, das Dekolleté schwer behangen mit Silberketten und Amuletten, das Haar wieder hochgesteckt und wieder ein gezwirbeltes Tuch um den Kopf geknotet, lange Silberohrhänger mit roten und türkisfarbenen Steinen. Ihre schmalen Oberarme mit zahlreichen schweren Silberreifen dekoriert. Die beiden haben ihren Auftritt, das ist gewiss, aber es erscheint zu viel des Guten - und für wen, für was? Harriette irrt sich. Die beiden gehören hierher - dies ist ihre Insel, ihr Territorium, ihr Königreich, und ein Königspaar muss sich unterscheiden vom einfachen Fußvolk. Farrah spricht mit dem Mann hinter der Bar. Es ist deutlich: hier spricht der Chef des Hauses. Alice steht dicht neben ihm.

Und dann nähert sich Farrah Harriette, setzt sich auf eine der noch freien Bänke und entschuldigt sich für sein spätes Erscheinen.

“Darf ich vorstellen: Alice, meine Frau”, sagt Farrah in gekünstelter Fröhlichkeit. Alice schaut Harriette an, lächelt müde und setzt sich neben Farrah. Na, das ist ja eine nette Gesellschaft, denkt Harriette. Farrah bestellt für Alice und sich selbst ein Glas Wasser. Weiter nichts.

Der Kellner bringt Wasser und eine Schale mit Makadamia-Nüssen. Farrah eröffnet das Gespräch und fragt Harriette, was sie nach Lamu führt. Sie wundert sich über diese Frage, denn das hatte sie ihm bereits am Nachmittag erzählt. Aber vielleicht war diese Information nicht für ihn, sondern für Alice gedacht. Harriette wiederholt ihre Geschichte vom Nachmittag über ihr gerade erworbenes Haus in Malindi und ihre Umbaupläne. Sie erzählt von ihrer Suche nach ausgefallenen Möbelstücken. Es scheint Alice nicht zu interessieren. Sie schaut Harriette nicht einmal an. Farrah aber nimmt sich jetzt Zeit, so wie er es am Nachmittag versprochen hatte. Er hört ihr zu. Er will mehr wissen über Harriette, warum ausgerechnet Kenia, was sie vorher gemacht hat und so weiter und so fort. Es entwickelt sich ein Gespräch zwischen Farrah und Harriette, in dem sie mehr über ihn und seine Frau erfährt. Alice kommt aus Australien. Die beiden haben sich in Nairobi kennengelernt. Alice wollte auf Lamu leben und letztendlich ist Farrah mit ihr nach Lamu gezogen. Beide haben sich nun ein kleines Imperium hier aufgebaut. Imperium! Harriette empfindet das als übertrieben, aber so hat Farrah es gerade genannt. Harriettes erster Eindruck wird nun bestätigt. Dieses ‘Königspaar von Lamu’ scheint eine Menge Einfluss zu haben.

“Ich reise morgen wieder nach Malindi. In den kommenden Wochen werde ich mit dem Umbau meines Hauses beginnen. Ich weiß jetzt, was Ihr an Möbeln fertigt. Ich komme darauf zurück, wenn es soweit ist”, verspricht sie ihm. Kurz darauf verabschiedet sich Farrah.

“Das Büro wartet”, lacht er und steht auf. Er gibt ihr die Hand. “Wir hören voneinander”.

Alice steht auch auf, beugt sich kurz zu ihr und verabschiedet sich, ohne das geringste Lächeln. Harriette will ihr die Hand geben, aber Alice ignoriert ihren Versuch. Und so schreiten die beiden von dannen. Harriette schaut ihnen nach. Welch ein merkwürdiges Paar!.

*

Zwei Monate nach ihrer Rückkehr - es ist Anfang Dezember - kommt Harriettes Container mit ihrem Hab und Gut in Mombasa an. Sie freut sich darauf, ihre persönlichen Sachen wieder um sich haben zu können. Sie erscheint bei der Hafenbehörde von Mombasa mit einem dicken Packen Dokumente in ihrer Hand. Trotz der guten Vorbereitung der Spedition erwartet sie ein Spießrutenlaufen. Harriette verbringt einen ganzen Tag in der Hafenbehörde, wird von einer zur anderen Abteilung geschickt, aber nach vielen Stunden Geduld, Beharrlichkeit und Durchsetzungsvermögen wird der Container freigegeben. Sie hätte das alles viel schneller erledigen können, wenn sie in jeder Abteilung mit ‘Chai’6 nachgeholfen hätte, erklärt Subhash ihr später.

“Ja, das ist in diesem Land Teil des Alltags. Ohne ‘Chai’ geht hier fast gar nichts”.

Harriette verabscheut es, jemandem Geld geben zu müssen, um zu vermeiden, dass diese Person ihr nicht das Leben schwer macht. Wenn jemand hilfsbereit und freundlich ist, gibt sie gerne und dann ist das auch gerechtfertigt. Sie macht es sich zu einem ihrer Grundsatzprinzipien in Kenia, nie und nimmer wen auch immer mit ‘Chai’ zu bestechen, wohl wissend, dass da so manch schwierige Situation auf sie zukommen wird.

Zwei Tage später kommt ihr Container endlich in Malindi an. Es ist wie Weihnachten: ein Wiedersehen mit Dingen, die ihr so am Herzen liegen.

Auch Alessio kommt mit seinen Bauvorschlägen. Sie gehen alles gemeinsam durch und nach einigen kleinen Änderungen stimmt Harriette zu und unterzeichnet den Umbauvertrag. Alessio wird nach Erhalt der ersten Ratenzahlung sofort beginnen und das ist morgen!

Und dann kommt Panya als neues Familienmitglied in die Villa Waridi. Eine kleine, junge, verkommene, schwarze Hündin, die von Touristen verwahrlost am Straßenrand gefunden und beim Tierarzt abgegeben wurde. Harriette nimmt sie bei sich auf. Molly, Tom, Dick und Harry haben nichts dagegen und schnell integriert und entwickelt sich Panya zu einer wahren Schönheit. Sie ist sehr anhänglich und sozial. Für Harriette ein Traumhund!

Ein neuer Start in einem fremden Land ist nicht einfach, aber Harriette ist zufrieden mit dem, was sie bis jetzt erreicht und umgesetzt hat. Sie lernt jeden Tag. Sie lernt, dass Distanz zu den Mitarbeitern nicht Arroganz, sondern eine lebensnotwendige Umgangsform ist, dass Freundlichkeit gut, Überlegenheit aber besser ist. Sie lernt strikt und konsequent zu sein, ein ‘Muss’ in diesem Land. Sie lernt aus ihren Fehlern: in den ersten Wochen ihres neuen Lebens in Afrika kauft Harriette Unmengen an Zucker und Ugali für die Mitarbeiter ein, ohne dass ihr wirklich klar ist, was diese damit machen. Aber wie viel sie auch an Vorräten kauft, innerhalb weniger Tage sind sie verschwunden. Wie können drei Personen in einer Woche zwei Kilo Zucker und vierzehn Kilo Ugali konsumieren? Sie ist wohl zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um zu bemerken, dass Jengo, Mosi und Furaha den Löwenanteil der Lebensmittel einfach mit nach Hause nehmen. Auch verschwindet innerhalb einer Woche ein fünfzig Kilogramm schwerer Sack mit Reis, den sie für die Hunde gekauft hat. Endlich fällt der Groschen.

Harriette lernt, deutliche Spielregeln aufzustellen: Pro Woche gibt es eine festgesetzte Menge an Zucker, Tee, Ugali und Reis. Wenn die Menge am ersten Wochentag schon verschwindet, Pech! Es wird erst wieder in der kommenden Woche eingekauft. Und siehe da: das klappt!

Eine weitere Spielregel, die Harriette aufstellen muss, ist der Umgang mit Diebstahl im eigenen Haus. Harriette weigert sich, in ihrem Haus alles hinter Schloss und Riegel aufbewahren zu müssen. Wertsachen wie Schmuck allerdings bringt sie in einen Banksafe. Die unterliegen also keiner Gefahr.

“Sollte aber irgendetwas verschwinden aus meinem Haus, teile ich euch das mit”, erklärt sie ihren Mitarbeitern. “Sollte keiner von euch innerhalb von 24 Stunden zu mir kommen, um den Diebstahl zu bekennen, dann entscheide ich, ohne weitere Angabe von Gründen, wer von euch fristlos entlassen wird”.

Trotz dieser Warnung verschwinden im Laufe der Jahre auf mysteriöse Art und Weise CDs, Kleidung, die Musikanlage, Motorsäge, Ersatzwasserpumpe, und so verabschiedet sich Harriette immer wieder von einem Mitarbeiter, ob dieser nun der Täter war oder nicht.

Harriette lernt auch Geduld. Sie erklärt Furaha jeden Tag aufs Neue, dass sie einen abgestaubten Fotorahmen wieder so hinstellen soll, wie er stand, also vertikal und nicht horizontal.

“Furaha, schau mal genau auf das Foto”, sagt Harriette, als das Foto zum hundertsten Mal liegt statt zu stehen. Furaha schaut auf das Foto. Harriette warte und wartet. Langsam neigt Furaha ihren Kopf zur Seite.

“Ah, sorry mama!”, sagt sie, und stellt den Rahmen vertikal wieder auf seinen Platz. Sie hat es begriffen, für heute. Morgen ist ein anderer Tag.

Sie lernt, dass Neuanschaffungen nur eine kurze Lebensdauer haben. Der berühmte Eimer! Harriette weiß nicht, wie viele Eimer sie im Laufe der Jahre angeschafft hat, aber in kürzester Zeit sind sie unbrauchbar. Das gleiche gilt für Besen, Sägen, Buschmesser. So hat sie einmal ein teures Set Küchenmesser aus Europa mitgebracht. Endlich mal ein paar gute Messer hier im Haus, denkt sie. Bereits am nächsten Tag wird eines der Messer vom Gärtner missbraucht, um Zweige vom Baum zu schneiden! Warum?

“Mama, die Säge ist kaputt. Wie soll ich denn sonst die Zweige abschneiden?” Es ist oft zum Verzweifeln!

Sie lernt mit der Ineffizienz von Behörden und Staatsbetrieben umzugehen: so empfängt sie jeden Monat Rechnungen, die weder sie noch ihr Haus betreffen. Man entschuldigt sich dafür, aber eine interne Korrektur des Fehlers wird nicht vorgenommen. Jeden Monat das gleiche Drama. Harriette weigert sich Rechnungen zu bezahlen, die sie nicht betreffen, und immer wieder bekommt sie zu hören, dass sie erst bezahlen müsse, danach könne man die Änderung im System vornehmen. Jeden Monat die gleiche Zeit- und Energieverschwendung. Sie lernt durchzuhalten.

Sie lernt, dass Zeit in Kenia eine andere Dimension hat als in Europa. Nichts hat Eile. “Sitz und warte!”, lautet die Devise.

Aber sie lernt auch vieles mit anderen Augen zu betrachten. Sie bewundert die körperliche Behändigkeit von jungen Arbeitern, die scheinbar mühelos barfuß in den Balkenkonstruktionen der Makuti-Dächer herumklettern - alles ohne jegliche Vorsichtsmaßnahme. In Europa würde jemand im Hochlader anfahren, ausgestattet mit Schutzkleidung, Helm und Sicherheitskabel, um sich dann per Knopfdruck nach oben transportieren zu lassen. Auch fällt ihr auf, dass hier bei der Arbeit gesungen wird. Männer, die singend, redend und lauthals lachend auf einem Dach herumbalancieren - in Europa undenkbar! Dort läßt man singen. Dort hat man Radios, die in voller Lautstärke arbeitende Männer bei Laune halten. Es ist diese Unkompliziertheit, die Harriette fasziniert, und wie alles in diesem Land wiederverwertet wird: nichts wird weggeworfen, alles bekommt ein neues Leben. Jede Schraube, jedes Kabel, jeder Bierflaschendeckel, alles wird umfunktioniert. So ganz anders als in Europa.

*

Einige Wochen vor Weihnachten klingelt das Telefon. Es ist Farrah. Er hat morgen in Malindi zu tun weil Lamu zum Verwaltungsbezirk von Malindi gehört. Da er einige Mitarbeiter von ‘Petley’s’ entlassen hat, wird er nun zum Arbeitsamt zitiert, um die Höhe der Zahlungen zu besprechen. Als ob das nicht gesetzlich festgelegt wäre! Typisch Obrigkeit: Einschüchterungstaktik und alles so kompliziert wie möglich machen. Farrah wird einen AirKenya Flug um die Mittagszeit buchen, sodass er pünktlich um 14:00 Uhr beim Arbeitsamt ist.

“Können wir uns danach sehen?”, fragt er. Sie verabreden sich um 17:00 Uhr im ‘Bar-Bar’, einem zentral gelegenen Café in Malindi.

Pünktlich um 17:00 Uhr parkt Harriette ihren alten Pajero vor dem ‘Bar-Bar’. Farrah winkt ihr zu.

“Wie lange sitzten Sie schon hier”, fragt sie ihn zur Begrüßung und setzt sich zu ihm an den runden Tisch.

“Es hat nur kurz gedauert, weil derjenige, der für meinen Fall zuständig ist, nicht anwesend war und niemand das Gespräch übernehmen konnte, beziehungsweise wollte”.

“Dann sind Sie also ganz umsonst nach Malindi geflogen? Das ist ja unverschämt! Hätte man Sie nicht anrufen können?”. Sie ist entsetzt über so wenig Professionalität und so viel Boshaftigkeit. Farrah grinst.

“Das ist völlig normal hier. Nichts verläuft nach Plan, nichts ist mit einem Mal erledigt. In diesem Land braucht man einen langen Atem. Und sich aufregen hilft gar nichts, im Gegenteil. Je mehr man diesen Jungs zeigt, dass man sich ärgert, desto mehr ist deren Ziel erreicht. Es ist ein Machtspiel, man muss taktisch vorgehen”.

“Wann müssen Sie denn wiederkommen?”, fragt sie.

“Morgen, gleiche Zeit. Nicht effizient, denn ich habe heute Abend noch einen Termin in Lamu. Um 19:00 Uhr geht meine Maschine”, sagt er und nippt an seinem frisch gepressten Orangesaft.

“Na, dann ist ja noch Zeit für einen Cappuccino”, antwortet Harriette und winkt dem Kellner zu.

“Ich fahre Sie nachher zum Flughafen, okay?”. Farrah fällt mit der Tür ins Haus:

“Wissen Sie schon, was Sie bezüglich der Einrichtung Ihres Hauses wollen?”.

“Nein, es ist noch zu früh, um eine Entscheidung hierüber zu treffen. Ich bin momentan zu sehr beschäftigt mit dem Umbau mei-ner Villa Waridi. Ich werde sicherlich einige Einzelstücke bei Ihnen bestellen, aber das gesamte Haus mit Ihren Prunkstücken einrichten, das kann ich mir wirklich nicht erlauben, so gerne ich das auch wollte! Ich glaube auch schon zu wissen, was ich bestellen will, aber nochmals, es ist noch etwas früh”.

“Sie wissen aber auch, dass alle Möbel handgefertigt sind und jedes Stück so seine Zeit braucht. Je eher ich weiß, was Sie haben möchten, um so schneller haben Sie Ihre Möbel dann auch”, entgegnet Farrah.

“Ich werde darüber nachdenken. Eins weiß ich ganz sicher. Ich möchte einen ‘scissor-chair’ in Villa Waridi! Den bestelle ich hiermit bei Ihnen. Und zwar aus ‘Mbambakofi’, diesem schönen Hartholz Ihrer Möbel!”.

Dann erzählt Farrah Harriette von Lamu und wie er dort hingekommen ist. Er erzählt, dass nichts in Lamu selbstverständlich ist, alles muss hart erkämpft werden. Seine Vorreiterposition als Möbelbauer hat ihm so manche Missgunst gebracht.

“Die Menschen in Lamu gönnen anderen keinen Erfolg. Jeder beobachtet jeden. Auch jetzt - mit dieser Geschichte der Entlassungen - versucht man mir das Leben so schwer wie möglich zu machen. Ich hasse Lamu!”. Harriette erschrickt, aber schweigt.

Malindi Airport ist ein kleiner Flughafen zwei Kilometer vom Zentrum entfernt, direkt an der Zufahrtsstraße gelegen. Harriette parkt den Wagen, aber lässt den Motor laufen.

“Na, denn…”, sagt Harriette, “viel Erfolg morgen! Bin gespannt, ob alles nach Wunsch verläuft! Und vergessen Sie meine Bestellung nicht!”, sagt sie lachend.

“Danke, Harriette. Nett von Ihnen, dass Sie sich Zeit genommen und mich hierher gefahren haben! Und Ihren ‘scissor-chair’ vergesse ich sicherlich nicht! Bis auf bald!”. Farrah lächelt ihr zu, nimmt seine Tasche und verschwindet ins Flughafengebäude.

Auf dem Weg nach Hause geht ihr das Gespräch durch den Kopf und sie fragt sich, ob Farrah wohl ein glücklicher Mensch ist. Augenscheinlich sind er und Alice beruflich sehr erfolgreich in Lamu, aber er lebt nicht gerne dort - er fühlt sich dort nicht frei. Er kam nach Lamu wegen Alice, die unbedingt dort leben wollte. Für Harriette ist deutlich, wer in dieser Beziehung die Weichen stellt. Farrah passt sich an. Na ja, solange eine Beziehung gut läuft, kann man einiges in Kauf nehmen, aber wenn Geben und Nehmen nicht in Balance sind … Gott sei Dank ist das nicht mein Problem!

*

“Mama, wir haben keinen Kaffee mehr. Ich kann Ihnen keinen Kaffee zum Frühstück kochen!”, sagt Mosi am nächsten Morgen, als Harriette sich an den Frühstückstisch setzt.

“Oh, Mosi, stimmt! Den habe ich vergessen auf meine Einkaufsliste zu setzen! Bitte lauf schnell zu mama Rosa und frage sie, ob sie mir etwas Kaffee geben kann - ich fahre nachher in die Stadt und kaufe welchen!”.

Am Nachmittag fährt Harriette in die Stadt, um noch einige Einkäufe zu tätigen, so auch den Kaffee. Sie fährt am Markt vorbei, dann quer durch den alten Stadtteil von Malindi in Richtung ‘Karen Blixen Café’, wo sie ihr Auto parken kann, um im italienischen Supermarkt ihren Expesso-Kaffee einzukaufen.

Direkt an der alten Moschee sieht sie ihn laufen: Farrah - mit seiner Laptoptasche umgehängt und Handy am Ohr. Ist der jetzt erst fertig mit seinem Arbeitsamt? Sie hält an und ruft ihm zu:

“Hey, Farrah! Noch in Malindi!?”. Farrah beendet sein Telefongespräch und steckt sein Handy in seine Hosentasche.

“Ja! Es ist unglaublich, wie schwierig die es einem machen! Ich bin schwer sauer! Es ist nicht zu glauben, aber die haben den Termin wieder verschoben! Ich habe dort enormen Terz gemacht … völlig sinnlos natürlich … aber es ist so unverschämt, wie die mit der Zeit anderer Leute umgehen. Nun gut, es hilft nicht, ich muss morgen wieder kommen! Ich suche jetzt noch eine Apotheke für Medizin, die wir auf Lamu nicht bekommen können, und dann wollte ich mir ein Taxi nehmen zum Flughafen”.

“Kommen Sie, steigen Sie ein! Ich muss auch noch schnell etwas einkaufen. Dann können Sie in der Zwischenzeit zur Apotheke. Danach fahre ich Sie zum Flughafen”.

Am Flughafen angekommen fragt Harriette:

“Soll ich Sie morgen hier abholen? Dann fahre ich Sie direkt zum Arbeitsamt”.

“Oh, perfekt! Wenn das nicht zu viel Umstände bereitet! Ich lande um halb Zwei”. Farrah, gibt ihr die Hand und steigt aus.

“Okay, bis morgen!”.

“Ja, bis morgen! Danke, dass Sie mich abholen!” - und schon verschwindet Farrah ins Flughafengebäude.

*

Die AirKenya Maschine landet pünktlich und kurz darauf sitzt Farrah neben ihr.

“Ich fahre Sie gleich hin”, sagt sie und startet den Motor. Farrah hat wieder die gleiche Tasche bei sich wie gestern, eine schwarze vollgestopfte Laptop Tasche.

Während der Fahrt erzählt Farrah, was sich alles in den vergangenen Stunden in Lamu ereignet hat und dass er nur zwei Stunden geschlafen hat. Der Mann hat viel zu viel um die Ohren, denkt sie, aber sagt nichts.

Das Arbeitsamt befindet sich im zweiten Stock eines alten Gebäudes auf der Silversand Road gegenüber vom Touristen-Markt. Farrah steigt aus.

“Sehe ich Sie nachher noch?”, fragt er.

“Wie lange werden Sie brauchen? Ich habe noch das ein und andere in der Stadt zu tun - wir könnten nachher noch kurz im ‘Baobab’ etwas trinken”.

“Prima!”, Farrah lächelt ihr zu.

Ihre Wartezeit im ‘Baobab’ wird länger als gedacht. Eine ganze Stunde vertreibt Harriette sich die Zeit auf der kleinen Terrasse. Sie sitzt unter dem Baum, der dem Café seinen Namen verleiht, ein Baobab, der sich majestätisch in den Himmel streckt. Sie liebt diese Bäume, für Harriette symbolisieren sie diesen Kontinent: massiv, urwüchsig, bodenständig und rustikal - Überlebenskünstler.

Wenn diese Bäume sprechen könnten, was würden sie uns erzählen? Sie schaut hinauf in die Baumkrone, in der sich das Sonnenlicht seinen Weg durch die dichten Blätter erkämpft. Wie schön du bist! Sie schaut sich um und sieht Farrah, der sich einen Stuhl heranzieht.

“Na, die machen es einem nicht leicht!”. Farrah verdreht die Augen und setzt sich neben Harriette. Er erzählt, was sich im Arbeitsamt zugetragen hat und was ‘Petley’s’ vergüten muss. Farrah ist nicht einverstanden mit den Auflagen und wird deshalb morgen die Diskussion fortführen.

“Morgen früh muss ich also wieder hier sein! Ich werde heute aber in Malindi bleiben - habe gerade meinen Flug nach Lamu umgebucht. Werde gleich mal schauen, welches Hotel ein Zimmer für mich hat”.

“Ich will mich nicht aufdrängen und verstehen Sie es bitte nicht falsch, aber wenn Sie wollen, können Sie in meinem Haus übernachten. Wie Sie ja wissen, soll mein Haus ein kleines Hotel werden und habe ich genügend Zimmer. Sie könnten es sich dann auch gleich mal anschauen, auch bezüglich der Möbel. Und morgen bringe ich Sie dann wieder in die Stadt”.

Als sie in Villa Waridi ankommen, ist Furaha, das Hausmädchen, schon nach Hause gegangen. Harriette holt frische Bettlaken und Handtücher und bereitet das untere Zimmer im Südflügel. Mosi bringt eine Flasche mit Trinkwasser und stellt sie neben das Bett. Dann huscht er in den Garten, kommt mit einigen Bougainvillea- und Franchipaniblüten zurück und legt sie in eine flache, mit Wasser gefüllte Schale. Er stellt sie auf den kleinen Tisch. Willkommen in Villa Waridi! Harriette zeigt Farrah sein Zimmer.

“Ich schau mal eben, was wir heute Abend essen”. Harriette verschwindet in die Küche. Mosi hat Hühnchen in Honigsoße in den Ofen geschoben. Dazu gibt es Kokosreis und ihr geliebtes Gemüse Okra. Harriette holt ein paar Getränke, und kurz darauf sitzt sie mit Farrah auf der Veranda, umringt von Molly, Tom, Dick, Harry und Panya.

“Möchten Sie ein Glas trocknen Weißwein?”.

“Nein danke, Harriette, ich trinke keinen Alkohol”.

“Keinen Tropfen? Warum nicht? Sind Sie Moslem?”

“Nein, es schmeckt mir einfach nicht. Ich habe noch nie verstanden, was daran so schmackhaft sein soll. Ich mag es einfach nicht. Am liebsten trinke ich Wasser oder Tee”. Sie schenkt Farrah Wasser ein, für sich selbst ein Glas Chablis.

An diesem Abend öffnet sich für Harriette die Welt von Farrah und Alice.

Farrah ist zu ihrem Erstaunen erst fünfunddreißig Jahre alt, viel jünger als sie dachte! Ja, er hat sich vor Jahren auf Wunsch von Alice diesen Bart wachsen lassen, damit er älter aussieht, und somit der Altersunterschied von achtzehn Jahren zwischen ihm und seiner Frau weniger auffällt. Ein Bart, der nicht gelebte Jahre vortäuscht und ein schönes Gesicht versteckt. Dieser Bart, hinter dem sich eine andere Identität verbirgt.

Farrah war noch Student an der Universität von Nairobi, als er Alice begegnete. Alice war eine dieser Frauen, die sich in den gehobenen sozialen Kreisen Nairobis aufhalten. Sie war befreundet mit den Söhnen des Präsidenten. Auch Farrah kannte die Präsidentensöhne, weil er mit einem der Söhne die Schulbank gedrückt hatte. Alice und Farrah lernten sich auf einer Party kennen. Alice, eine sehr vermögende Australierin Anfang vierzig, und Farrah, dieser ambitionierte, schöne Mann Mitte zwanzig. Es entstand eine heftige emotionale Beziehung mit Hochzeit auf Bali. Geschäftliche Pläne folgten, und so schufen die beiden in Lamu drei erfolgreiche Einnahmequellen: ein Café, eine Boutique mit angrenzendem Möbelschauraum und eine Möbelmanufaktur.

Harriette wird bestätigt, was sie schon ahnte: Alice ist der Chef - sie bestimmt alles. Auch wenn die Manufaktur Farrahs Spezialität ist, Alice mischt sich in alles ein. Mit ihrem Drang zu Perfektionismus und ihrem messerscharfen Blick sieht sie sofort wenn die Form eines Möbelstücks um wenige Millimeter abweicht, und dann lehnt sie das geschaffene Objekt gnadenlos ab. Es darf auch nicht im Schauraum ausgestellt werden. Dies zum großen Verdruss von Farrah und seinem Team. Immer wiederkehrende Diskussionen, Reibereien, Streitereien, Machtkämpfe, die bis ins Schlafzimmer ausgetragen werden. Farrah ist derjenige, der nachgibt, so erzählt er ihr.

“Diese Kämpfe führen zu nichts. Sie kosten mich enorm viel Kraft und Energie. Und obwohl wir diese drei Unternehmungen gemeinsam aufgebaut haben - sowohl im Know-how als auch im finanziellen Bereich - ist es Alice, die die stärkere Finanzkraft hat”.

Und dann offenbart Farrah, dass er seit Ende September von Alice getrennt lebt, getrennt von Tisch und Bett.

“Ich wohne zur Zeit in meinem Büro und bin lediglich noch für die geschäftlichen Angelegenheiten in Lamu. Alice ist seit zwei Wochen in Australien, sie braucht Abstand. Alice ruft mich täglich von Australien an und versucht unsere Ehe zu retten. Aber wir haben diese Dramen schon zu oft mitgemacht, haben uns zu viel angetan. Immer wieder haben wir versucht von vorne anzufangen, und jedes Mal sind wir gescheitert. Immer wieder die gleichen Verhaltensmuster. Es ist ein Teufelskreis, aus dem wir nicht herauskommen, es sei denn, wir brechen aus, indem wir unsere Beziehung beenden. Und genau das habe ich getan! Ich kann nicht mehr mit Alice zu-sammenleben. Sie nimmt mir die Luft zum Atmen! Sie kontrolliert mich am laufenden Band.

Alles, was ich tue, ist nicht gut genug. Ich werde an der kurzen Leine gehalten. Ich habe mich schon seit langer Zeit emotional eingekapselt – purer Selbstschutz! Meine emotionale Kälte ihr gegenüber hat in den vergangenen Jahren dramatische Reaktionen bei ihr ausgelöst. Alice hat mir sogar einmal in einem ihrer Wutausbrüche einen Schraubenschlüssel ins Kinn gerammt! Meine Freunde verstehen nicht, dass ich dies alles mit mir machen lasse, sie sagen dann auch regelmäßig “Controle your wife”, was mich zutiefst beschämt, ich stehe da wie ein Feigling, ein Pantoffelheld! Nein, es ist genug! Meine Entscheidung ist endgültig!”.

Will ich das alles wissen? Will ich das alles hören? Dies geht mich nichts an! Warum erzählt er mir das alles? Er kennt mich doch garnicht und ich ihn auch nicht! Scheinbar muß er eine Menge loswerden! Ein Dampfkochtopf droht gesprengt zu werden!

Aber Harriette unterbricht ihn nicht. Sie schweigt und während es aus Farrah weiter heraussprudelt, dämmert es ihr, warum sie von Alice vor einigen Wochen so kühl behandelt wurde, wie sie vom ersten Augenblick an Alices Abneigung ihr gegenüber spürte. Eifersucht!? Harriette fragt sich, ob es wohl eine gute Idee war, unter den gegebenen Umständen Farrah in ihrem Haus übernachten zu lassen, andererseits aber hat sie sich nichts vorzuwerfen.

Alice und Farrah sind kinderlos. Auf die Frage warum, erklärt Farrah, dass Alice keine Kinder wollte und er eigentlich auch nicht, wobei die dahinter liegenden Gründe sich bei beiden grundsätzlich unterscheiden. Alice mag keine Kinder, hat noch nie Kinder gemocht. Sie sind laut und egozentrisch und fordern jede Faser und jede Sekunde der Eltern. Eigene Interessen müssen also für die nächsten zwanzig Jahre komplett abgeschrieben werden. Das passt nicht zu Alices Lebensvorstellung. Und Farrah? Farrah glaubt von sich, dass er kein guter Vater wäre.

“Weißt du, in unserer Beziehung ist es regelmäßig zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen, es sind Tassen geflogen und es wurde Gewalt angewendet. Ich bin nicht stolz darauf, im Gegenteil: ich schäme mich dafür. Aber ich kann guten Gewissens sagen, dass ich mich immer nur gewehrt habe. Aber die Tatsache, dass es zu Gewaltanwendungen gekommen ist, würde mich zu einem schlechten Vater machen. Unser Kind hätte von uns gelernt, wie wir uns in einer Konfliktsituation verhalten - schreien, fluchen, sich gegenseitig beschimpfen, Gegenstände werfen, Türen zuschmeißen und Hiebe verteilen. Was für ein Vorbild wären wir? Was für ein Vorbild wäre ich?”. Sie schweigen und nach einer langen Pause fragt Farrah:

“Und du, hast du Kinder?”.

“Nein, ich habe keine Kinder und werde auch niemals Kinder bekommen. Kinder sind für mich kein Thema mehr”.

Farrah hat mehrere Brüder und Schwestern. Er und sein jüngerer Bruder Jeff haben vor vielen Jahren den Kontakt zu den anderen Geschwistern und dem Vater abgebrochen, als dieser eine zweite Frau heiratete. Farrah und Jeff waren gegen die Heirat, die anderen Geschwister beugten sich dem Wunsch des Vaters, worauf Farrah und Jeff sich vom Rest der Familie trennten.

“Jeff ist meine Familie. Ich habe nur noch sehr selten Kontakt zu meinem Vater. Ich bin nach meiner Hochzeit mit Alice bei meinem Vater gewesen, nur ein einziges mal. Heute schäme ich mich, ihn zu besuchen. Mein Vater war nie sehr angetan von Alice. Sie tue mir nicht gut, hat er gesagt. Jeff lebt mit seiner Freundin Gladys in Nairobi. Er hat eine kleine Firma, die Impfstoffe aus Israel importiert. Impfstoffe für Rinder. Er macht das gemeinsam mit einem Geschäftspartner”.

Über Alice erfährt Harriette, dass sie eine der reichsten Frauen Australiens ist. Sie besitzt zahlreiche Häuser in Sidney und Melbourne und hat mehrere Lagerhäuser gemietet, in denen sich ihre Antiquitäten türmen. Sie wurde reich geboren. Ihr Vater schien ein Despot zu sein, ein Mensch, der unumschränkt seine eigenen Interessen verfolgte. Ein Mensch, der im Geschäftsleben seine Pläne bis zur Illegalität durchzog unter der Devise “Erst machen und durchsetzen, und später erst die Konsequenzen daraus ziehen. Sehr oft treten die nämlich garnicht ein!“ Ein Mensch, der Widerrede und Gegenmeinungen nicht duldete - nicht im Geschäftsleben, nicht zu Hause. Dementsprechend war die Atmosphäre zu Hause immer kalt. Als Kind hat Alice ihren Vater gehasst, sie hatte Angst vor ihm, aber im Laufe der Jahre wurde sie ihm immer ähnlicher. Heute hat sie nur Gutes über ihren Vater zu sagen, so ähnlich ist sie ihm geworden. Sie hat dieselben berechnenden, eiskalten Charakterzüge von ihm übernommen.

“Alice als Feind zu haben ist kein Spaß”, fährt Farrah mit Bestimmtheit fort.

“Alice hat einen jüngeren Bruder, der genau das Gegenteil von Alice ist: warmherzig, tolerant, geduldig, bescheiden - und trotzdem verstehen sich die beiden gut! Alice liebt ihren Bruder und er liebt seine Schwester. Wirklich ein Phänomen!”.

“Aber wenn Alice das ist, was du mir gerade alles von ihr erzählt hast, kannst du dich ja noch auf unangenehme Überraschungen gefasst machen!”.

Dann erzählt Harriette Farrah über ihre Kindheit - von diesem ‘warmen Nest’ mit liebevollen Eltern und Geschwistern. Sie lebte ein glückliches, sorgloses Leben, wenn da nicht der plötzliche Tod ihrer Mutter gewesen wäre. Sie war dreizehn Jahre alt, als ihre Welt zusammenstürzte und sich eine dunkle, feuchte Decke über sie legte - über alle.

“Du warst dreizehn?”, fragt Farrah ungläubig.

“Ja. Vater stand von einem Tag auf den anderen alleine da mit vier pubertierenden Kids - die Älteste gerade sechzehn, die Jüngste zehn Jahre alt. Das Leben musste weitergehen, der Alltag musste geregelt und die Köpfe über Wasser gehalten werden. Jeder musste für sich damit fertig werden. Vater saß nächtelang bis in die frühen Morgenstunden im Wohnzimmer mit einem Glas Whisky und weinte. Und wir Kinder, wir weinten jeder für sich im eigenen Zimmer”.

“Zeit der Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit”, sagt Farrah leise.

“Ja, aber auch Zeit von großer Wut – bei mir jedenfalls! Ich kehrte mich ab von Gott. Wie konnte ein Gott so etwas zulassen? Einer ganzen Familie den Dreh- und Angelpunkt entreißen? Wie sollte alles weitergehen? Ein Gott, der so etwas zulässt, kann kein guter Gott sein, war meine Schlussfolgerung und ab jenem Tag weigerte ich mich, jemals wieder eine Kirche zu betreten. Durch den Tod unserer Mutter haben wir Geschwister untereinander eine sehr starke Beziehung entwickelt, auch die Beziehung zu unserem Vater wurde viel enger, vielleicht war das die positive Seite des Dramas”. Harriette schweigt kurz und wechselt dann das Thema.

“Komm, ich zeige dir das Haus und erzähle dir meine Ideeen, wie ich es umbauen will …”. Sie steht auf und fordert Farrah auf ihr zu folgen.

*

Mosi hat das Frühstück vorbereitet. Harriette kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er irgendwie innerlich grinst. Blödmann. Es ist nicht so, wie du denkst - versucht sie sich gedanklich zu rechtfertigen. Wahrscheinlich hat Mosi heute morgen schon Jengo und Furaha ein schönes Märchen erzählt, denkt sie.

Harriette ist froh, Farrah zum Arbeitsamt fahren zu können, denn Villa Waridi ist seit Wochen ein hektischer und chaotischer Ort. Alessio hat mit den Umbaumaßnahmen begonnen und seitdem laufen tagtäglich seine Handwerker durch Haus und Garten – jeder mit seiner eigenen Hilfskraft, der Eimer oder Kellen festhalten muss. Diese sogenannten Kibaruas sind ihr ein Dorn im Auge, weil sie nichts tun, außer Zigarettenkippen verstreuen und ihren Garten ‘wässern’. Sie spricht Alessio auf ihre Nutzlosigkeit an, aber er meint, ohne diese Männer würde die Arbeit wesentlich langsamer verlaufen.

Noch langsamer! Ein Witz! Wenn ich sehe, in welch einem Schlafmützentempo hier gearbeitet wird, es ist nicht zu glauben! Aber ich bin neu in diesem Land. Ich werde mich nicht in Alessios Arbeitsmethoden einmischen. Es scheint so üblich zu sein, versucht sie sich zu beruhigen.

Beim Arbeitsamt angekommen, neigt Farrah sich zu ihr, küsst ihre Wange und sagt:

“Danke, Harriette, für das schöne Gespräch von gestern Abend und für deine Gastfreundschaft. Ich melde mich, wenn ich wieder in Lamu bin”.

Er nimmt seine Laptoptasche und steigt aus. Er lächelt ihr zu und verschwindet in dieses Gebäude mit abgeblätterter Farbe und rostigen Fenstergittern.

Harriette sitzt bewegungslos und stocksteif im Auto. Farrah hat sie soeben auf die Wange geküsst! Farrah macht Avancen! Was ist Farrahs Plan? Was hat er für Absichten? Und ich? Was soll ich hierüber denken? Wo begebe ich mich hinein? Was geschieht hier?

Vier Stunden später kommt ein Fax aus Lamu von Farrah. Das Treffen verlief diesmal besser, man hat sich einigen können. Er hat viel Arbeit auf seinem Schreibtisch, aber zum ersten Mal seit Wochen steht ihm der Kopf nicht danach. Eigentlich will er jetzt gar nicht in Lamu sein. Das gestrige Gespräch mit Harriette hat ihm gutgetan. Die Tatsache, dass jemand da ist und ihm zuhört … die Tatsache, dass es ihm möglich war, einer ihm fremden Person Geheimnisse seines Privatlebens erzählen zu können, ohne das Gefühl vermittelt zu bekommen, dass diese Person diese Informationen missbrauchen könnte. Die Tatsache, dass er gestern Abend so etwas wie Güte empfand. Güte, die ihm gegeben wurde. Verständnis. Die Tatsache, dass er sich dieser fremden Person vollkommen vertraut fühlt. Tatsache ist, dass er eigentlich gleich wieder nach Malindi fliegen will.

Was geschieht hier? Ist das alles nicht etwas schnell? Bin ich ein willkommener Zufluchtsort für ihn? Bin ich vielleicht seine Ausstiegmöglichkeit aus einer für ihn aussichtslosen Ehe? Welche Konsequenzen wird dies haben? Alice in Australien und Farrah, ihr Mann, tausende Kilometer von ihr entfernt, plant seinen ehelichen Abgang? Und was will ich eigentlich?

Viele Fragen. Panik macht sich breit.

Am nächsten Tag ist er zurück. Er steht vor ihrem Tor. Hundegebell draußen und kurz darauf kommt Mosi und sagt:

”Mama, bwana Farrah ist hier!”.

Harriette geht selber zum Tor um es zu öffnen. Sie bleibt am Tor stehen.

“Du kommst unangemeldet. Dein Fax von gestern hat mich ziemlich überrumpelt und jetzt überrumpelst du mich wieder. Ich weiß nicht, was ich von alledem halten soll und in welche Situation ich mich hineinbegebe. Ich möchte nicht zwischen dich und Alice geraten. Ich freue mich zwar, dass du hier bist, aber ich bin beunruhigt. Jetzt komm erstmal herein. Ich habe ein volles Programm heute und fahre jetzt gleich in die Stadt, um noch Verschiedenes im Hardwarestore zu besorgen, sodass die Arbeiten hier zügig fortgesetzt werden können. Ich muss auch noch Rechnungen bezahlen bei KP&L7 und Telcom. Also, wenn du willst, kannst du mitkommen!”.

“Ich begleite dich gerne”, antwortet Farrah kleinlaut und steigt in Harriettes Pajero ein. Sie fahren los. Mosi schließt das Tor.

Während der Fahrt versucht Harriette nochmals ihre Verwirrung über Farrahs Fax und die Entwicklungen der letzten Tage zum Ausdruck zu bringen.

“Harriette, es tut mir leid. Ich will dich nicht verwirren. Ich bin selbst verwirrt. Ich weiß nicht, warum ich dir das alles über mich und Alice erzählt habe. Ich kann es mir nur so erklären, dass du mir so vertraut bist! Ich habe niemanden, mit dem ich jemals zuvor ein solches Gespräch geführt habe. In Lamu kann ich mit niemandem hierüber sprechen: das würde sofort wie ein Lauffeuer verbreitet werden. Und mein Bruder Jeff … nein … er weiß lediglich, dass es etwas an Problemen gibt, mehr nicht. Alice und ich sind nun drei Monate getrennt, und ich weiß, dass es keinen Weg zurück gibt. Alice ist seit Wochen in Australien und es ist unklar, wann sie wieder nach Lamu zurückkehren wird. Ich habe ihr zugesagt, dass ich die geschäftlichen Belange weiterführen werde, bis sie zurückkommt - danach müssen wir eine Regelung finden. Das habe ich Alice vor ihrer Abreise klipp und klar gesagt und dabei bleibt es auch. Was ich selbst dann machen werde, weiß ich noch nicht, vielleicht ziehe ich nach Nairobi zu Jeff. Jeff und ich haben schon so vieles gemeinsam zustande gebracht”. Er schweigt kurz und fährt dann fort.

“Alice ruft mich jeden Tag von Australien an. Sie will mich zurückgewinnen. Sie sagt, sie habe sich geändert - sie will in Zukunft liebevoller mit mir umgehen und mich nicht mehr bevormunden. Sie verspricht mir den Himmel auf Erden. Sie will sogar Lamu verlassen und mit mir auf Bali leben: neuer Anfang sozusagen, aber ich will es nicht - nicht mehr. Ich will Alice nicht mehr in meinem Leben. Ich glaube ihr nicht mehr. Ich vertraue ihr nicht mehr. Ich liebe sie auch nicht mehr. Zu viel ist geschehen. Alice bekniet mich jeden Tag. Sie kontrolliert mich jeden Tag. Sie will genau wissen, wo ich wann bin. Nichts hat sich geändert! Ich habe genug davon!”.

Farrah schaut aus dem Fenster. Harriette spürt seine innere Verzweiflung und Wut.

Die heutigen Alltagsverpflichtungen in Malindi scheinen Farrah gut zu tun. Weg von Lamu, weg von kontrollierenden Blicken. Jeder kennt ihn in Lamu. Jedem dort ist aufgefallen, dass er in den letzten Tagen doch wohl sehr viel unterwegs ist. Harriette ist sich sicher, dass Alice ihre eigenen Informationsquellen hat, um dahinter zu kommen, wo und bei wem sich ihr Mann aufhält. Aber hier in Malindi kann Farrah in der Anonymität untertauchen und entspannen.

Harriette genießt Farrahs Anwesenheit. Er ist so anders als alle anderen Kenianer, die sie kennt. Sie kennt nicht viele. Da ist der Elektriker oder der Maurer, die beide täglich in ihrem Haus arbeiten. Oder da wäre der Mann vom Gemüsestand am Markt. Männer, die sich gemächlich bewegen und viel Ugali essen. Männer, die – in ihrer Sicht - auf einem anderen Planeten leben. Kulturelle Unterschiede sozusagen. Männer mit einer Hauptfrau - und wer es sich finanziell leisten kann – noch einer Nebenfrau. Männer, deren Frauen Untertanen sind. Männer, die zu viele Kinder in die Welt setzen. Kinder, die nicht zur Schule gehen, weil das Schulgeld nicht ausreicht. Farrah ist anders. Farrah ist gebildet. Sein akzentfreier Sprachgebrauch in perfektem Oxford-Englisch. Seine Wortwahl. Ein intelligenter Mann. Er bewegt sich anders - viel schneller, viel leichtfüßiger. Ein schöner Mann. Alles an ihm ist schön. Große, schlanke Hände, schmaler, durchtrainierter Oberkörper, schmale Hüften. Große dunkle Augen.

“Wann musst du zurück nach Lamu?”.

“Muss? Ich muss gar nichts! Ich kann noch heute zurückfliegen, wenn dir das lieber ist, aber ich kann auch morgen zurückfliegen”.

“Farrah, ich weiß nicht, was ich mit dieser Situation anfangen soll und ob ich überhaupt etwas mit dieser Situation anfangen soll. Mir ist das alles zu viel … , zu schnell…”.

Farrah fliegt noch am gleichen Tag zurück. Für wie lange, ist unklar. Sie bleiben aber in Kontakt. Gelegentliche Anrufe. Dann beschließen sie, Weihnachten gemeinsam zu feiern – in Harriettes Haus.

Harriette holt ihn vom Flughafen ab. Farrah hat ein großes, sperriges Paket bei sich, dass er im hinteren Teil des Pajeros verstaut. Er setzt sich neben Harriette nimmt ihre Hand und küsst sie. Harriette lächelt verlegen und unsicher und startet den Pajero.

Das Gästezimmer für ihn ist vorbereitet und Farrah stellt das Paket dort ab. Alessios Arbeiter sind für die Feiertage nach Hause gegangen und werden erst im neuen Jahr die Arbeiten wieder aufnehmen. Endlich Ruhe in ihrem Haus.

Harriette ruft Molly, Tom, Dick, Harry und Panya und gemeinsam gehen sie zum nahegelegenen Strand. Eigentlich sind Hunde im ‘Marine National Park’ nicht erlaubt, aber dieses Verbot wird konsequent von allen Hundebesitzern ignoriert. Jeder geht hier spazieren, ob mit oder ohne Hund.

Weihnachten. Weihnachten in den Tropen. Weihnachten am Strand, ohne jegliches Weihnachtsgefühl. Harriette vermisst es nicht. Sie genießt. Kneif dich! Es ist wahr! Du bist hier in den Tropen an einem weißen Strand mit deinen Hunden und einem Mann, der deine Hand hält ….

Ihr erstes Weihnachten in Kenia, in ihrem eigenen Haus.

Sie hat überall auf der Veranda Kerosinlampen aufgestellt. Es wird bald dunkel werden. Am Äquator verschwindet die Sonne im Handumdrehen, um zwölf Stunden später genauso schnell wieder aufzutauchen. In diesem Land sind Kerosinlampen unentbehrlich, denn der Strom fällt fast täglich aus - mal für einige Minuten, mal für viele Stunden, man weiß es nicht. Harriette mag die Kerosinlampen. Es hat etwas Urwüchsiges, etwas Archaisches. Dieses Licht und dieser Geruch, auch das gehört zu Afrika.

Weihnachten in ihrem eigenen Haus in einem fernen Land. Es ist Abend geworden. Heilig Abend. Weißes Tischtuch, eine große Schale mit Franchipaniblüten und Kerzen mit Windschutz auf dem Tisch. Nichts Spektakuläres, aber es sind die kleinen Dinge, die ihr so wichtig sind. Kurzes Glücksgefühl. Farrah kommt aus seinem Zimmer. Er hat sich umgezogen. Er trägt eine weite schwarze Leinenhose und eine weite schwarze Tunika. Schwarze Ledersandalen. So einfach. So schön. Er hat das große, sperrige mit Packpapier eingewickelte Paket bei sich, das er auf die Veranda stellt.

“Du darfst noch nicht schauen”, sagt er lachend.

Diese perlweißen Zähne! Wie kann jemand nur so weiße Zähne haben!

“Okay, ich gehe schnell duschen!” Harriette geht nach oben. Sie ist aufgeregt. Was soll sie anziehen? Sie entscheidet sich für einen schwarzen ärmellosen Body und einen farbenfrohen Pareo. Perlenbestickte Slipper, fertig. Sie betrachtet sich im Spiegel: eine Fastvierzigerin, schlanke Figur, straffe, braungebrannte Haut, erste Fältchen im Gesicht, aber sie kann sich sehen lassen.

Harriette geht die Treppe hinunter zur Veranda. Farrah sitzt auf der Swahili-Bank, alle fünf Hunde liegen friedlich vor seinen Füßen. Er hat eine Karaffe Eiswasser auf dem Tisch stehen und ein Glas für sich eingeschenkt. Er schaut Harriette an und lächelt.

“Wie schön du bist! Was möchte diese Schönheit trinken?”.

“Zur Feier des Tages einen Prosecco”. Farrah läuft in die Küche und kehrt zurück mit einem Glas und kaltem Prosecco. Er schenkt das Glas ein und reicht es ihr. “Frohe Weihnachten, Harriette!”.

“Frohe Weihnachten, Farrah!”, entgegnet sie lächelnd und stößt mit ihm an. Mosi hat eine Ente zubereitet. Ente mit Kokosreis, gegrillten Tomaten und grünen Bohnen. Als er mit der großen Platte mit der knusprig braungebratenen Ente die Veranda betritt, erinnert Harriette sich an das arme Huhn, das auf dem Markt geschlachtet wurde – vor vielen Monaten – als sie zum ersten Mal über den Markt lief. Dieser armen Ente ist das gleiche passiert! Hoffentlich hatte sie wenigstens ein schönes Leben!

Nach dem Essen steht Farrah auf und beginnt, das Paket von seiner uncharmanten Verpackung zu befreien. Ein ‘Scissor-chair’, aus Mbambakofi, geölt und poliert, kommt zum Vorschein. Ja, dieser Stuhl ist Harriette damals in seinem Schauraum sofort aufgefallen und sie hat ihn so bewundert.

“Frohe Weihnachten, Harriette!”. Harriette steht vom Tisch auf. Sie streicht mit ihrer Hand über das Holz. So glatt. Ein Kunstwerk. Harriette ist überwältigt. Sie umarmt Farrah.

“Wie wunderschön, wie lieb von dir!”. Sie küsst ihn kurz auf seine Wange. Farrah erwidert den Kuss. Dann aber bewegen seine Lippen langsam von ihrer Wange zu ihrem Hals … zu ihrem Mund. Erste Liebkosung. Erster zärtlicher, inniger Kuss – Wendepunkt. In diesem Augenblick überschreiten wir eine Grenze, die schwerwiegende Folgen haben kann ….

“Was machen wir? Ist das wohl richtig, was wir hier tun?”, flüstert Harriette.

“Try me!” antwortet Farrah und küsst sie wieder. Es gibt zahllose Gründe ‘vernünftig’ zu sein und mich nicht hierauf einzulassen. Ich kann jetzt nur zwei Dinge tun: ‘Nein’ sagen und alles im Keim ersticken, oder diese Beziehung eingehen mit allen Konsequenzen. Sie entscheidet sich für Letzteres.

Erste Nacht mit Farrah. Dieser schöne, schmalgebaute, muskulöse Körper, diese ledrige und doch so sanfte Haut, seine Stimme, seine Nähe, Berührungen und Bewegungen - alles wandelt sich – Erregung und Innigkeit – alles zerfließt.

Es folgen Tage romantischer Zweisamkeit. Spaziergänge am Strand, Gespräche, Liebkosungen. Nichts und Niemand, der sie stört. Harriette kann ihr Glück nicht fassen. Wie kann es sein, dass ich mich so zu Hause fühle, hier in diesem Haus und hier in seinen Armen? Wie kann es sein, dass dieser Mann und seine Liebkosungen mir so vertraut sind … als ob ich ihn schon immer kenne, ihn schon immer bei mir habe?

In den Gesprächen erfährt sie mehr über Farrahs Verhältnis zu seinem jüngeren Bruder Jeff. Jeff ist Farrahs Gegenpol. Er ist derjenige, der Farrah abbremst und zügelt. Er ist die ruhige Kraft hinter seinem extrovertierten Bruder. Jeff ist auch in vielerlei Hinsicht Farrahs Hilfskraft: Braucht er etwas aus Nairobi, so reicht ein Telefonanruf und Jeff erledigt es und sorgt dafür, dass es unverzüglich nach Lamu geflogen wird. Jeff ist niemals wütend, Jeff ist immer ruhig und gütig. Jeff hat eine Freundin namens Gladys. Sie wohnt seit kurzem bei ihm in Westlands, einem Stadtteil von Nairobi.

Harriette erfährt mehr über ‘Petley’s Inn’, das kleine Hotel auf Lamu. Farrah besitzt Anteile an ‘Petley’s’ und ist somit Miteigentümer und Partner. Hauptanteilseigner ist ein gemeinsamer Freund von Farrah und Alice, ein reicher Amerikaner namens Barrett Liccardi. “Barrett hat ein Schweinegeld verdient mit der Produktion von pharmazeutischen Glasbehältern. Du weißt schon, diese braunen Glasgefäße mit Schraubverschluss für Tabletten. Und dann hat er auch noch eine steinreiche Frau geheiratet. Seine zweite Frau – die Scheidung von seiner ersten muss ein Drama gewesen sein! Barrett weiß eigentlich gar nicht, was er mit seinem Geld anfangen soll, deshalb investiert er in verschiedene Projekte und Immobilien in Kenia. Er hat eine riesige Farm in Laikipia, direkt beim Mount Kenya. Wenn er mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn im Land ist, hält er sich meistens dort auf. Er kommt nur sporadisch nach Lamu, um geschäftliche Dinge zu besprechen. Management und operatives Geschäft von ‘Petley’s’ überlässt er mir”.

Zwischen Weihnachten und Silvester fliegt Farrah zurück nach Lamu. Die geschäftlichen Verpflichtungen rufen. Schon am Abend seiner Abreise erhält Harriette ein Fax aus Lamu. Farrah ist sehr besorgt, weil seit seiner Rückkehr das Telefon nicht mehr stillsteht. Ununterbrochen ruft Alice aus Australien an. Sie weiß, wo Farrah die vergangenen Tage war, sie weiß, dass Farrah verliebt ist in diese Europäerin. Sie weiß, dass es ernst ist. Alice will Harriette sprechen, ihr erzählen, wer Farrah wirklich ist. Sie will Harriette warnen, ihr aber vor allem deutlich machen, dass Harriette sich auf Alices Territorium begibt; Farrah gehört ihr und das soll so bleiben.

Farrah gesteht, dass er mürbe ist von den stundenlangen Gesprächen mit Alice, er letztendlich nachgegeben und Alice Harriettes Telefonnummer gegeben hat.

“Sei gewarnt! Sie wird dich anrufen und dir die schrecklichsten Dinge über mich erzählen. Sie wird versuchen dir Angst zu machen. Alice lässt nicht locker. Alice gibt niemals auf!”.

“Wieso gibst du ihr meine Telefonnummer? Ich habe ihr nichts zu sagen - und sie mir auch nicht! Ihr seid nicht mehr zusammen! Und dann soll ich auch noch gewarnt sein?”, entgegnet Harriette empört.

6 Swahili (Chai = Tee; in der Umgangsprache wird darunter auch Schmiergeld verstanden).

7 ‘Kenya Power & Lighting’, Kenias Energiekonzern.

Schwarzer Honig

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