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20 Meter

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Josef ist unterwegs. Er war noch nicht mal im Büro, als um halb acht morgens der Anruf kam. Ein Kollege von der Verkehrspolizei hat ihn informiert, dass schon wieder jemand überfahren wurde – am selben Ort wie gestern! ‚Das kann kein Zufall sein!‘, denkt Josef auf dem Weg nach Neuperlach. Erst mal allein. Die Kollegen kann er später dazu holen, wenn er sich die Sache angesehen hat.

Schon bald erreicht er die Wohntürme. Die Quiddestraße ist abgesperrt. Er sieht hinüber zur Nummer 4. Viel näher geht nicht. Was bedeutet das? Hat das was mit ihrem Fall zu tun? Das Unfallopfer liegt gerade mal 20 Meter von der Rampe des Parkdecks entfernt auf der Straße vor Hausnummer 6.

Josef schlüpft unter den Absperrbändern durch und zeigt seinen Polizeiausweis.

Der Kollege Herbert Müller von der Verkehrspolizei, der ihn informiert hat, winkt ihn zu sich. „Servus Josef, ich dachte, das hier interessiert dich.“

„Hubert, danke. Wir hatten gestern einen Toten bei dem Parkdeck da drüben.“

„Deswegen hab ich dich angerufen. Mal so generell – wegen dem Fall gestern: Seit wann interessiert ihr euch für Unfall mit Fahrerflucht?“

„Du, das ist noch nicht an die Presse raus, aber es handelt sich bei dem Opfer gestern um den Mann, der mehrere Menschen vor einfahrende U-Bahnen geschubst hat. Und das hier sah nicht wirklich nach einem Unfall aus, eher nach Vorsatz. Da ist jemand die Parkrampe runtergerast, um jemanden umzufahren. Und jetzt passiert das Gleiche ein paar Meter weiter noch einmal.“

„Wir haben hier keine Bremsspuren.“

„Wie gestern. Wer ist das Opfer?“

„Carsten Wiesinger. Laut Ausweis in seiner Tasche.“

„Wohnt der hier?“

„Wir haben den Namen gecheckt. Laut Melderegister wohnt er in der Nummer 6.“

„Schlüssel?“

„Müssen wir schauen.“

Sie gehen zu dem abgedeckten Leichnam. Müller schlägt die weiße Plane zur Seite. Josef hält die Luft an. Nicht schön. Und ein bisschen Déjà-vu. Weit aufgerissene Augen, große Platzwunde an der Stirn. Erstaunen im Gesicht. Sonst ein Dutzendgesicht, ebenmäßig, leichter Bartschatten, kurze dunkelbraune Haare. Müller greift in die Taschen der schwarzen Lederjacke. Er findet einen Schlüsselbund und reicht ihn Josef. „Probier dein Glück.“

„Mach ich. Vielen Dank.“

Josef geht zu Haus Nummer 6. Der Wohnblock sieht haargenau so aus wie der, in dem ihr U-Bahn-Attentäter gewohnt hat. Ein komischer Gedanke geht ihm durch den Kopf. Liegt hier eine Verwechslung vor? Naja, die Ähnlichkeit zwischen den beiden ist nicht allzu groß. Aber in tiefer Nacht? War das der zweite Anlauf nach einem ersten missglückten Versuch? Josef studiert das umfangreiche Klingelboard und sucht Wiesinger. Findet den Namen nicht. Mehrere Klingeln haben kein Namensschild. Na super.

Gerade kommt eine ältere Dame mit ihrem Pinscher aus dem Haus.

„Entschuldigung, darf ich Sie etwas fragen?“, wendet sich Josef an die Frau.

„Ich bitte um unsittliche Angebote.“

„Wie bitte?“

„Junger Mann, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Es geht um einen Ihrer Nachbarn. Carsten Wiesinger. Kennen Sie den?“

„Mei, der Herr Wiesinger, so ein netter Mann. Ein wunderbarer Nachbar, so ruhig und hilfsbereit. Der hat mir mal geholfen, als der Abfluss in der Küche verstopft war. Mir ist der Beutel mit dem Gries aufgeplatzt und ich dachte, ich kann das einfach runterspülen. Aber das Zeug quillt ja so stark auf. Ich dachte schon, dass das Rohr platzt, aber der Herr Wiesinger hat das super hingekriegt. Also, wie der den Syphon ausgebaut hat, was da alles in dem kleinen Stück Rohr drin war! Das glauben Sie ja nicht! War mir schon ein bisschen peinlich.“

„Aha“, sagt Josef und räuspert sich.

Doch die Dame lässt sich nicht beirren: „So geschickt, der Herr Wiesinger. Sind die jungen Leute ja heute oft nicht mehr. Der Herr Wiesinger hat so einen Drahtbügel von der Reinigung aufgebogen und ist damit in das Rohr rein. Also, wie gesagt, was da alles drin war! Das Zeug wird ja so richtig fest, wenn es jahrelang in dem Rohr ist. Vor allem Fett. Und die Farbe! Gruselig! Also, jedenfalls war da nicht nur der Gries drin …“ – „Äh ja, sehr interessant, wo wohnt denn der Herr Wiesinger?“

„Ganz oben, ich wohn genau unter ihm. Was wollen Sie denn von dem Herrn Wiesinger?“

„Ich hab Probleme mit dem Syphon.“

„Junger Mann!“

„Entschuldigung. Ich war, äh … ich bin mit Herrn Wiesinger verabredet, aber er macht nicht auf. Ich häng ihm einen Zettel an die Tür.“

„Hängen?“

„Naja, kleben. Äh, mit Tesafilm.“

„Mit Tesafilm ist nicht erlaubt.“

„Äh …?“

„Das steht in der Hausordnung. Also, dass keine Plakate oder Notizen an Wände oder Türen geklebt werden dürfen.“

„Sehr schön. Ich hab auch keinen Tesafilm dabei. Ich leg den Zettel auf die Matte.“

„Haben Sie denn kein Handy?“

„Nein, ich mag die Dinger nicht.“

„Sollten Sie aber. Die Dinger sind so praktisch. Aber fühlen Sie sich frei, junger Mann. Und sagen Sie, ist da vorn etwas passiert?“

„Ich glaube, ein Unfall.“

„Hoffentlich nichts Schlimmes.“

„Bestimmt nur Blechschaden.“

„Na hoffentlich.“

Josef atmet tief durch, als die Tür hinter ihm ins Schloss fällt. Er ist leicht verwirrt. Warum diskutiert er eigentlich lang und breit mit der Frau, wenn er doch selbst einen Haustürschlüssel hat? Ganz einfach – weil er sonst alle Wohnungen ohne Klingelschild abklappern müsste.

Er fährt mit dem Lift nach oben. Die Wohnung ist nicht schwer zu finden. Es ist die einzige ohne Namen an der Tür auf diesem Stockwerk. Josef probiert die Schlüssel. Einer passt. Er hält inne. Klingelt doch lieber vorher. Wartet. Nichts passiert. Er sperrt auf, öffnet die Tür. „Hallo?“, hallt seine Stimme von den kahlen Wänden zurück. Die Wohnung riecht nach frischer Farbe.

Er macht Licht. Alles weiß. An dem Lichtschalter klebt ein vergessener Streifen Tesa-Krepp. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Alles leer, keine persönlichen Gegenstände. Auf dem Klospülkasten steht eine halbe Rolle Klopapier als einziges Lebenszeichen. In den Küchenschränken keine Gläser, kein Geschirr, kein Besteck, keine Lebensmittel, nichts. Spülbecken blitzsauber, unter der Spüle kein Schwamm, keine Putzmittel. Alles clean, übergabefertig. Josef denkt an einen Tatortreiniger. Der hätte jedenfalls einen guten Job gemacht. Aber der Tatort ist da unten auf der Straße.

Er tritt auf den Balkon raus, sieht auf die Quiddestraße. Dort wird gerade der Leichnam in einen Bestattungswagen geschoben. Unter den Schaulustigen ist auch die Dame mit Hund. ‚Hoffentlich ist die Leiche ordentlich abgedeckt‘, denkt Josef, ‚sonst wundert die sich, was ich hier will.‘ Ihm fällt ein dunkler Mercedes auf dem Parkdeck auf. Das Fenster auf der Beifahrerseite ist offen. Er sieht das Teleobjektiv. Presse? Nein, die hätten keine Hemmungen, den Polizisten auf die Pelle zu rücken. Lichtreflex. Das Objektiv zeigt nach oben, in seine Richtung. Er zuckt zurück. Sehen die zu ihm hoch? Warum? Was ist da los?

Er späht aus dem Küchenfenster nach unten, greift zum Handy. „Hubert, da steht ein schwarzer Mercedes auf dem Parkdeck. Die machen Fotos. Kannst du das überprüfen? Ob das Leute von der Presse sind?“

„Okay, ich geh rüber. Bist du in seiner Wohnung?“

„Ja.“

„Alles in Ordnung da?“

„Wie man’s nimmt. Alles leer geräumt. Erzähl ich dir später. Schaust du nach dem Wagen? Ich bleib am Handy, ich hab euch im Blick.“

Josef sieht, wie sein Kollege zum Parkplatz rübergeht. Das Teleobjektiv verschwindet im Wageninneren, die dunkle Scheibe geht hoch.

„Der schwarze Mercedes vorne rechts“, sagt Josef ins Handy. Kaum hat er es ausgesprochen, parkt der Mercedes aus.

„Was soll ich machen, ihn aufhalten?“, fragt Müller.

Josef zögert. „Nein, merk dir die Nummer.“

Josef sieht, wie Müller zur Seite tritt und der Mercedes die Rampe hinabgleitet, nach rechts in die Straße einbiegt und verschwindet.

„Ich komm runter“, sagt Josef ins Handy und verlässt die Wohnung.

Müller erwartet ihn am Hauseingang.

„Hast du wen erkannt?“, fragt Josef.

„Nein. Stark getönte Scheiben. Presse?“

„Keine Ahnung. Aber offenbar Leute, die das Unfallopfer kannten. Die haben mit dem Tele zu mir hochgeschaut. Also wissen sie, wo das Opfer gewohnt hat.“

„Bist du dir sicher?“

„Ja.“

„Was ist da oben in der Wohnung?“

„Nichts. Frisch gestrichen. Komplett leer. Der einzige persönliche Gegenstand ist eine angerissene Rolle Klopapier.“

„Das ist nicht viel. Fast gar nichts.“ Müller lacht.

Josef zuckt mit den den Achseln.

„Was hast du jetzt vor?“, fragt Müller.

„Ich klär das mit den Zuständigkeiten. Aber ich glaub nicht, dass das eine Sache für euch von der Verkehrspolizei ist. Zwei Unfälle mit Fahrerflucht an fast derselben Stelle. Zweimal ohne Bremsspuren. Und dann die Typen mit dem Tele in dem Mercedes. Hast du die Autonummer?“

„Oh, Scheiße!“

„Jetzt nicht dein Ernst?!“

Müller nickt traurig.

„Oh, Mann!“

Müller grinst. „M BB 1218.“

„Danke, du Spaßvogel.“

„Gibst du mir Bescheid, wenn ihr was rauskriegt über das Opfer?“

„Logisch, Hubert.“

Josef notiert sich die Autonummer und fährt ins Präsidium.

Dort hat er keine Gelegenheit, das Kennzeichen zu überprüfen, denn in seinem Büro wartet bereits Dr. Aschenbrenner. „Ich hab’s mir schon mal gemütlich gemacht“, begrüßt er Josef.

„Kaffeechen?“

„Danke, nein. Wo kommen Sie jetzt her?“

„Aus der Quiddestraße.“

„Seit wann sind wir für Unfall mit Fahrerflucht zuständig?“

„Seit gestern. Das war kein Unfall, das war Vorsatz. Der Typ wurde vorsätzlich umgefahren.“

„Ich rede von heute.“

„Ein ganz ähnlicher Fall. 20 Meter vom gestrigen Tatort weg. Wieder keine Bremsspuren. Das ist kein Zufall.“

„Hirmer, die Wohnungsschlüssel bitte.“

„Bitte?“

„Die Wohnungsschlüssel von diesem Wiesinger.“

„Die hab ich wieder …“, – er greift in die Jackentasche – „oh, die hab ich doch tatsächlich mitgenommen.“

„Hirmer, ich hab bereits mit Müller telefoniert. Ich hab auch versucht, Sie zu erreichen. Warum gehen Sie nicht ans Handy?“

„Lautlos gestellt.“

„Lautlos. Gutes Stichwort. Wir ziehen uns lautlos aus der Nummer raus.“

„Warum?“

„Da spielen die großen Jungs.“

„Was soll das heißen?“

„Dass der Staatsschutz übernimmt.“

„Was will denn der Staatsschutz bei der Sache? Haben wir es hier mit politisch motivierter Kriminalität zu tun?“

„Die werden ihre Gründe haben und sie uns nicht unbedingt erläutern wollen. Hirmer, Sie kümmern sich bitte ausschließlich um den U-Bahnschubser.“

„Aber es gibt doch Parallelen zwischen den zwei Fällen!“

„Ach, kommen Sie! Zufällig derselbe Ort, dieselbe Todesart. Ich sag’s Ihnen, dieser U-Bahnschubser war ein Einzelgänger.“

„Und dieser Wiesinger?“

„Hirmer, nochmal: Finger weg! Müller hat von seinem Chef die gleiche Ansage bekommen. Wir sind weisungsgebunden. Kümmern Sie sich um den U-Bahn-Heini, den anderen übernehmen die Kollegen vom Staatsschutz. Und falls die unsere Unterstützung brauchen, werden sie auf uns zukommen.“

„Ich freu mich schon.“

Als Aschenbrenner sein Büro verlassen hat, sinkt Josef in seinen Bürostuhl. So ein Mist! Werden sie einfach aufs Abstellgleis geschoben, vom Ermitteln abgehalten. Lässt er sich das gefallen? Er denkt nach. Staatsschutz? Was ist dieser Wiesinger für ein Typ, was hat er gemacht? Und warum interessiert sich jemand außer ihnen noch für einen ‚Unfall mit Fahrerflucht‘? Das stinkt doch zum Himmel!

Das Wort ‚lautlos‘ arbeitet in seinem Kopf. Nein, er wird sich nicht aus dem Fall zurückziehen, sondern geräuschlos daran weiterarbeiten. Mit den Kollegen. Es kann doch nicht sein, dass Asche es ernst meint damit, dass die Übereinstimmungen bei den beiden Fällen nicht zu beachten sind. Das ist eins der Kernprinzipien ihrer täglichen Arbeit: auf Strukturen achten, Parallelen, Widersprüche. Es liegt doch auf der Hand: Die beiden Personen sind nach demselben Muster, wahrscheinlich von demselben Auto mit demselben Fahrer überfahren worden. Aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht war es im ersten Fall ein Irrtum, eine Verwechslung. Aber warum? Über den U-Bahnschubser wissen sie schon ein paar Details. Über das neue Opfer noch gar nichts. Er tippt die Autonummer des schwarzen Mercedes in die Suchmaske. Kein Treffer. Alles klar. Oder eben nicht. Presse war das jedenfalls nicht. Staatsschutz? Wer ist dieser Carsten Wiesinger, dass die hier anrücken? Ob das sein echter Name ist? Er gibt den Namen in seinen Computer ein. Im Melderegister findet er ihn unter der Adresse in der Quiddestraße. In der Polizeidatenbank haben sie nichts zu ihm. Josef geht nach nebenan, um sich mit den Kollegen zu besprechen.

Dunkle Seite - Mangfall ermittelt

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