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Krank

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Paul ist in Panik. Der Typ, der die Leute vor die U-Bahn gestoßen hat, ist tot und Andrea verschwunden. Wenn er sie in seiner Gewalt hat, nein, hatte – was ist jetzt mit ihr, wo ist sie? Wo hat er sie versteckt? Auf Autopilot fährt er zu der Adresse, die ihm Josef genannt hat. Viel zu schnell, über zwei rote Ampeln. Ist ihm egal.

Harry hat auf dem Parkdeck in der Quiddestraße nach zahlreichen Versuchen bei verschiedensten älteren Autos endlich die Fahrertür eines alten Fiesta geöffnet, der offenbar dem Toten gehört hat, als Josef ihn am Handy erreicht und von Pauls Kommen unterrichtet. „Kümmerst du dich bitte? Damit uns Paul die ganzen Schaulustigen da unten nicht aufstachelt.“

Pauls Ankunft ist dank kreischender Bremsen und Reifen nicht zu überhören. Er parkt einfach auf dem Gehweg und springt heraus.

Harry eilt die Rampe runter und fängt ihn ab. „Paul, ganz ruhig.“

„Ganz ruhig?! Der Typ hat wahrscheinlich Andrea hopsgenommen und jetzt ist er tot und Andrea sitzt irgendwo in einem Erdloch, in einem Keller …! Wohnt er hier? Habt ihr im Keller geschaut?“

„Klar, wir schauen uns auch den Keller an.“

„Wo ist Josef?“

„Er ist oben in der Wohnung von dem Typen. Sie haben dort Bilder von ihr gefunden.“

„Diese Drecksau! Ich will die Wohnung sehen!“

„Nein. Da ist die Spurensicherung drin. Lass die ihre Arbeit machen.“

„Spurensicherung? Ist das ein Tatort, oder was?!“

„Nein. Beruhig dich, Paul! Lass uns gemeinsam überlegen, wo Andrea sein könnte. Wenn er sie gekidnappt hat, wo könnte er sie verstecken?“

„Woher soll denn ich das wissen?! Ich sitz nicht in dem kranken Hirn von dem Typen!“

„Paul, wir überlegen in Ruhe, was zu tun ist.“

„Ich hab keine Ruhe!“

„Hat sie dir was zu den Ermittlungen gesagt? Oder was sie vorhat?“

„Nein. Was würdest denn du tun, wenn du den Täter suchst? Als Polizist. Ich mein, wo würdest du anfangen, wenn du ihn suchst?“

„Am Tatort. Also, wo er seine Verbrechen begangen hat.“

„An welchem Tatort?“

„Am ersten.“

„Warum?“

„Weil dort alles angefangen hat.“

„Das war im U-Bahnhof Michaelibad, oder?“

Harry nickt.

„Dann fahren wir jetzt da hin“, beschließt Paul.

„Ich geb Josef Bescheid.“

Sie steigen in Pauls Wagen. Inzwischen ist es zehn Uhr vormittags. Der Nebel hat sich fast verzogen, die Sonne wirft blasses Licht auf den Münchner Osten. Auf der Bad-Schachener-Straße herrscht reger Verkehr. Paul fährt wie der Henker, Harry verkneift sich jeglichen Kommentar, hält sich am Türgriff fest.

„Halt da vorn am Kiosk an“, sagt Harry.

Sie steigen aus. Zwei Gestalten schlagen an einem Stehtisch bereits die Zeit mit Bier und Zigaretten tot. Harry nickt ihnen zu.

„Na, heute ohne deine Freundin?“, fragt einer der alkoholgetränkten Rothäute.

„Sieht so aus“, meint Harry. „Habt ihr sie nochmal gesehen? Gestern?“

Die zwei Stehtischhänger sehen sich nachdenklich an.

„War das gestern?“, fragt schließlich einer den anderen.

„Kann sein. Doch, genau, das war gestern, wir haben ja dem Ernst seinen Geburtstag begossen.“

„Der Ernst, stimmt. Ja, dass der Ernst mal 70 wird, das hätt keiner gedacht, also, so wie der sich immer die Kante gibt.“

„Mann, Leute! Habt ihr sie gestern gesehen?“

„Ja, wenn gestern dem Ernst sein …“

„Welche Uhrzeit?“, insistiert Harry.

„Die Sonne sank bereits hinter den Horizont.“

„Und wo ist sie hin?“

„Erst hat es so ausgeschaut, als will sie zu uns, die Maus. Dann hat sie beigedreht. Wir sind ihr wohl nicht fein genug.“

„In welche Richtung ist sie gegangen?“

„Da runter“, sagt der Angesprochene und deutet die Bad-Schachener-Straße entlang. Der andere sieht verwirrt in diese Richtung, dann nickt er und trinkt einen großen Schluck Bier.

„Vielleicht ist sie nochmal zur Siedlung“, meint Harry.

„Wieso nochmal?“, fragt Paul.

„Als wir das erste Mal hier waren, dachte Andrea, er wohnt vielleicht da. Also der Täter.“

„Warum?“

„Nur ein Gefühl, eine Vermutung. Die kleinen Häuser, die Enge. Aber da hat sie sich getäuscht. Er wohnt in der Quiddestraße.“

„Das weiß Andrea ja nicht. Sie hat ihn da gesucht. Also los.“

Paul sieht im Loslaufen eine Gruppe junger Punks auf dem Lüftungsschacht der U-Bahn sitzen. „Sind die immer da?“, fragt er.

„Ja“, sagt Harry, der mit ihnen schon einmal gesprochen hat.

Paul geht zu ihnen rüber. „Hey Leute, ich such meine Schwester. Habt ihr sie gesehen? Gestern Abend beim Kiosk? Anfang 30, so 1,60 groß, schwarze Haare, dunkle Klamotten, sportlicher Typ.“

„Gibt’s viele“, sagt ein Mädchen mit schwarzem Bürstenhaarschnitt.

„Die Polizistin“, ergänzt Harry.

„Ach die. Nein, nie wieder gesehen.“

„Ist das ein kluger Hund?“, fragt Paul und deutet auf den Schäferhund mitten in der Gruppe.

„Klüger als viele Menschen.“

„Glaub ich. Wie heißt er denn?“

„Sie. Lassie.“

„Hübscher Name“, sagt Paul ohne jede Ironie und dreht sich weg.

Harry sieht ihm irritiert hinterher, wie er zum Auto geht. Kurz darauf kommt er mit einem Pullover zurück. „Der ist von meiner Schwester. Vielleicht findet Lassie die Spur.“

„Wir helfen keinen Cops“, murmelt eins der Kids.

„Ich bin kein Cop!“, bellt Paul. „Und meine Schwester ist in Lebensgefahr! Ihr helft mir jetzt, sonst vergess ich mich, ist das klar?“

Die Jugendlichen nicken eingeschüchtert.

Harry, Paul und die Kids samt Hund ziehen los. Bei der Siedlung hat sich einiges geändert, seit Harry das letzte Mal hier war. Nicht verschlafene Ruhe zwischen den kleinen Häusern, sondern ohrenbetäubender Lärm und der Sprühnebel von Wasserkanonen, der den Staub der Abbrucharbeiten binden soll.

„Verdammt!“, flucht Harry und rennt los. Paul versteht nicht sofort. Dann doch – wenn Andrea in einem der Abbruchhäuser ist! Jetzt rennen alle, selbst die Punks, der Hund stürmt voraus.

Harry sucht den Bauleiter. Findet ihn endlich in einem der Container. „Stoppen Sie sofort die Maschinen!“

Der Bauleiter sieht ihn konsterniert an. „Was soll’n des? Einfach da reinmarschier’n? Das ist eine Baustelle! Das ist gefährlich!“

Harry hält ihm seinen Polizeiausweis unter die Nase.

Der Polier tritt nach draußen und macht seinen Kollegen Zeichen, die Arbeiten einzustellen. Der Motor des großen Baggers erstirbt, ebenso das Pochen der Presslufthämmer. Auch das Wasser der Sprühkanonen wird abgedreht.

Plötzlich ist es gespenstisch still. Von der Baustelle steigt eine dichte Wolke Staub auf. Glüht in der Vormittagssonne. ‚Wie bei einem Atombombentest in der Wüste von Nevada‘, denkt Harry. Auch die Punks sind beeindruckt.

Paul hält dem Hund Andreas Pulli hin, lässt ihn schnüffeln. „Such!“

Der Hund stürmt los. Harry ist skeptisch, ob er im Staubgewaber irgendwas wahrnimmt, aber der Hund wuselt zielsicher durch die Trümmer und verschwindet in einem der Gebäude.

„Halt!“, schreit der Polier. „Nicht ohne Helm!“ Er reicht Harry und Paul Helme und betritt das Gebäude als Erster. Harry und Paul folgen ihm.

Sie ziehen sich die T-Shirt-Krägen über Mund und Nase. Überall dichter Staub. Blindflug. Der Hund bellt. Erster Stock. Treppe hoch. Sie betreten einen Raum, dessen Fensterseite bereits teilweise weggerissen ist. Alles voller Dreck, Mörtel, Scherben.

Jetzt sehen sie Andrea. Sie lehnt an der Gasheizung, ist mit einer dicken Staubschicht überzogen. Im Gesicht schwarze Rinnsale, Tränen, die sich den Weg durch den Dreck gebahnt haben. Paul sieht ihre nasse Jeans. Sie hat sich angepinkelt. Ihre Augen sind weit vor Angst.

„Andrea!“ Paul nimmt ihr den Knebel aus dem Mund und umarmt sie.

Harry beauftragt den Polier, einen Krankenwagen zu rufen, und versucht, Andrea von den Fesseln zu befreien. Sie ist mit Kabelbindern am Gasrohr der Heizung fixiert. „Ich krieg die Scheiß-Kabelbinder nicht auf“, flucht er.

Paul greift in die Hosentasche und gibt ihm sein Feuerzeug. Jetzt mischt sich die staubige Luft mit dem scharfen Geruch von verschmortem Plastik. Andreas Hände fallen nach unten.

Paul sieht die blutigen Striemen an ihren Handgelenken. „Meine arme kleine Schwester, du brauchst keine Angst mehr zu haben. Die Bestie ist tot.“

Andrea reagiert nicht.

„Der Typ ist tot“, sagt Harry zu ihr. „Überfahren. Die Gefahr ist vorbei.“

Andrea sieht ihn mit leeren Augen an.

Als der Rettungswagen kommt, gibt Paul Harry den Schlüssel für Andreas Wagen und fährt mit seiner Schwester ins Krankenhaus. Harry ruft Josef an, gibt ihm ein Update.

„Brauchst du uns noch?“, fragt eins der Punkmädchen hinterher.

„Nein, vielen Dank. Euer Hund hat unserer Kollegin das Leben gerettet. Der Bagger war schon an dem Haus dran. Vielen Dank. Hat Lassie gut gemacht.“

„Das mit Lassie war ein Witz.“

„Ja, ein guter. Danke nochmal!“

Die Jugendlichen trollen sich. Harry kratzt sich am Kopf. Hätte er ihnen was anbieten sollen? Geld, ein Gespräch, einen Rat, wie sie aus dieser Situation rauskommen? Aus welcher Situation? Jeder wählt seinen eigenen Lebensstil. Tut man das? Warum leben die so? Zu wenig Liebe zu Hause? Sicher. Nein, das geht ihn nichts an. Das kann er nicht lösen. Er ist kein Sozialarbeiter. Wie Peter Bruckner. Das erste Opfer des Attentäters.

„Wohin hat man Andrea gebracht?“, fragt Josef, als Harry wieder in der Quiddestraße eintrifft.

„Krankenhaus Bogenhausen. Paul will, dass sie in Toms Nähe ist.“

„War es knapp?“

„Arschknapp. Offenbar hat sie nach ihm gesucht. Und ihn gefunden. Oder andersrum.“

„Warum dreht Andrea immer allein diese Dinger?“

Karl zuckt mit den Schultern. „Das ist nicht ihre Schuld, sag ich mal. Der Typ hätte sie sowieso gekriegt. Wenn nicht da, dann woanders. Die ganzen Fotos in seiner Bude. Er war immer an ihr dran.“

„Jetzt nicht mehr“, sagt Christine.

„Ist der Fall mit dem U-Bahnschubser damit abgeschlossen?“, fragt Harry.

Josef wiegt zweifelnd den Kopf hin und her. „Die Motive liegen völlig im Dunkeln. Auch was zu seinem Tod geführt hat. Das ist kein Unfall, wenn du auf einem Parkplatz mit Vollgas überfahren wirst.“

„Aber das Motiv?“, fragt Christine.

„Der Schubser hatte auch keins“, meint Harry.

„Doch, Geltungssucht“, widerspricht Karl.

Josef nickt. „Vielleicht sind wir ein bisschen schlauer, wenn wir seinen Laptop gecheckt haben.“

Dunkle Seite - Mangfall ermittelt

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