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Nummer 4

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Josef reibt sich die müden Augen.

Er steht auf einem abgesperrten Parkplatz vor einem Hochhaus in der Quiddestraße in Neuperlach, einer Betonsiedlung im Osten Münchens. Die oberen Stockwerke der Hochhäuser stecken noch im Nebel, das verfilzte Gras der Grünflächen ist braun-schwarz gescheckt von feuchtem Laub. Die Waschbetoncontainer für die Mülltonnen glänzen nass. Vor den Hauseingängen rostige Fahrradgerippe in gefährlicher Schräglage. ‚Ja, ein Hort der Lebensfreude‘, denkt Josef. ‚Vielleicht sieht das bei Sonnenschein einen Hauch fröhlicher aus? Oder sieht man dann erst die Details, die Nebel und Morgengrauen jetzt noch gnädig kaschieren?‘ Josef kennt die Straße, den Ort. In der Hausnummer 4 hat das erste Opfer des U-Bahnschubsers gewohnt. Und hier liegt er nun selbst – der U-Bahn-Attentäter. Waren er und sein erstes Opfer Nachbarn?

Der Leichnam ist mit einem Sichtschutzzelt abgeschirmt. KTU und Rechtsmedizin sind bei der Arbeit. An vielen Fenstern der umliegenden Hochhäuser Schaulustige. Josef sieht dem Toten noch einmal ins Gesicht. Kein Zweifel – der Mann von ihrem Fahndungsfoto. Der Tom vor die U-Bahn gestoßen hat. Jetzt kommen die Kollegen an: Christine, Harry, Karl.

„Ist Andrea mit dir gefahren?“, fragt Harry.

„Ich hab versucht, sie anzurufen“, sagt Josef. „Wahrscheinlich meldet sie sich gleich. Sie ist gestern früher nach Hause. Hat sich nicht so gut gefühlt.“ Er deutet auf den Toten. „Und, was meint ihr?“

„Unfall mit Fahrerflucht?“, schlägt Karl vor.

Josef schüttelt den Kopf. „Offenbar ist das Auto mit Vollgas die Rampe vom Parkdeck runtergerauscht, trotz Bodenschwelle. Den Typen hat jemand mit voller Absicht umgefahren.“

„Papiere?“, fragt Christine.

Josef greift in die Jackentaschen des Toten. Keine Papiere, keine Geldbörse, nur ein Schlüsselbund. Und ein Autoschlüssel. Der ist alt, keiner von denen, die man nur drücken muss und schon blinkt einen der eigene Wagen an.

„Vermutlich wohnt er in einem der Häuser“, murmelt Josef. „Also, vielleicht hat er da gewohnt.“ Missmutig lässt er seinen Blick durch die Wohnanlage streifen. „Sind ja nur sechs große Wohnblöcke, jeder mit mindestens 15 Stockwerken.“

Josef nimmt das Fahndungsbild und geht zu der Menschentraube vor der Absperrung, hält das Bild hoch. „Kennt jemand von Ihnen diesen Mann?“

Interessiert betrachten die Leute das Bild.

„Das ist der Typ bei uns im siebten Stock“, meldet sich ein Mann mit alkoholgerötetem Gesicht. „Der Krämer. Der Bart ist allerdings neu.“

„Wie heißen Sie bitte?“

„Schlater. Herbert Schlater.“

„Wo wohnen Sie?“

Der Mann deutet zu einem der Hochbunker. „In der 4. Im achten Stock.“

Josef nickt, überlegt. Seine Gedanken rotieren. Ausgerechnet Hausnummer 4 – wo auch Peter Bruckner gewohnt hat, das erste Opfer des Schubsers. Vielleicht ist seine Witwe jetzt an einem der Fenster? Was ist das hier – ein Racheakt? Von ihr? Nein, sicher nicht, das war eine nette, empathische Frau. Sie war betroffen. Nicht voller Groll. Erstaunlich genug. Naja, ihr Mann war Sozialpädagoge. Und auch sie ist im sozialen Bereich tätig. Soll er ihr einen Besuch abstatten? Noch wissen sie ja nichts Näheres über den Täter. Der jetzt selbst ein Opfer ist.

Er sieht wieder zu dem Nachbarn, der wegen Josefs geistiger Abwesenheit ein wenig irritiert ist. Josef lächelt ihn an. „Ah, Herr …?“

„Schlater, Herbert Schlater. Ist der Mann von dem Foto der Tote da drüben?“

„Kommen Sie!“ Josef führt den Mann zu dem Toten und lässt ihn einen Blick auf dessen Gesicht werfen. Schlater nickt.

„Herr Schlater, was wissen Sie über Ihren Nachbarn?“

„Ich hab oft Ärger mit dem Typen. Der hat die Stereoanlage immer ewig laut aufgedreht. Ich mein, das geht ja nicht, in einem Haus mit so vielen Mietparteien. Richtig laut. Bässe voll aufgedreht. Bumm, bumm, bumm! Die ganze Nacht.“

„Herr Schlater, kommen Sie bitte mit. Karl, Christine, ihr auch. Harry, du bleibst bitte unten. Schau, ob du das Auto findest.“ Er gibt Harry die Autoschlüssel.

Sie fahren mit Schlater in den siebten Stock hoch und lassen sich die Wohnungstür zeigen. Vinzenz Krämer steht auf dem Klingelschild.

„Jetzt bin ich aber gespannt“, sagt Schlater. „Also, das war ja voll der Assi, der Krämer. Der hat bestimmt eine Riesensauerei in seiner Bude.“

„Ja, dann bleiben Sie bitte weiterhin gespannt“, sagt Christine und deutet zum Lift. „Ab hier kommen wir alleine zurecht.“

Beleidigt zieht Schlater ab. Josef probiert die Schlüssel aus der Jackentasche des Toten. Einer passt, er sperrt auf. Sie schalten das Licht an. Eine kleine, zugemüllte Zweizimmerwohnung. Pizzakartons stapeln sich in der Küche, unter der Spüle befinden sich jede Menge leere Dosen und Gurkengläser, zum Teil mit flauschigen Schimmelkulturen. Das Wohnzimmer bietet neben einem riesigen Fernseher vor allem strenge Gerüche, die ein überquellender Aschenbecher auf dem Couchtisch und eine Batterie Flaschen mit Restflüssigkeiten absondern. Auffällig sind die großen Boxen, das Mischpult und die zwei Plattenspieler.

„Wer braucht so was, ein DJ?“, fragt Karl.

Christine zuckt die Achseln und öffnet die Balkontür, tritt raus, atmet tief durch, sieht nach unten: das Sichtschutzzelt auf dem Parkplatz, die Schaulustigen, die Polizeifahrzeuge. Hinter dem Parkplatz erstreckt sich der Ostpark. Hinter dem Park liegen das Michaelibad und die U-Bahnstation. Das ist alles nicht weit.

„Kommt ihr mal ins Schlafzimmer?“, ruft Karl.

Sie betreten das kleine Schlafzimmer. Neben dem großen Schrank steht in der Ecke ein schmaler Schreibtisch. Darauf ein Laptop. An der Pinnwand Fotos. Von Andrea. Selbst geschossen und aus dem Internet.

„Das ist ein Stalker, ein Irrer“, sagt Christine und sieht Josef an. „Wo ist Andrea?“

„Das frag ich mich langsam auch“, murmelt Josef und greift zum Handy. Er hat ein ungutes Gefühl, erinnert sich an Pauls panischen Anruf von gestern. Hat er Paul nicht ernst genug genommen? Er wählt Andreas Nummer. Nichts. Das Handy ist immer noch ausgestellt. Er probiert es auf dem Festnetz. Jetzt klappt es. „Paul, ist Andrea zu Hause?“

„Nein, sie ist heute Nacht nicht heimgekommen. Bei Tom kann sie ja nicht sein … Ich mach mir Sorgen …“ – „Paul, hör zu“, unterbricht ihn Josef. „Wir haben den U-Bahnschubser gefunden.“

„Was habt ihr?“

„Den Attentäter. Der auch Tom geschubst hat. Er ist tot.“

„Was, Tom ist tot?“

„Nein, der Attentäter. Und jetzt hör zu: Der hatte Andrea im Visier. Wir haben Fotos von ihr in seiner Wohnung gefunden. Auch von dir. Er hat euch zu Hause beobachtet und fotografiert. Offenbar von einem Haus gegenüber oder nebenan. Ich erreiche Andrea nicht, ihr Handy ist aus.“

„Scheiße! Wo seid ihr?“

„Neuperlach.“

„Wo genau?“

„Quiddestraße 4.“

„Wohnt er da, der U-Bahn-Heini?“

„Wohnte. Er ist tot.“

„Ich komme sofort.“

„Paul …!“

Die Leitung ist tot. Josef flucht. War das richtig, Paul zu informieren? Aber was hätte er sagen sollen? Dass alles okay ist? Dass er zu Hause bleiben und das den Profis überlassen soll? Unsinn. Profis! Sie haben nicht die geringste Spur von Andrea. Vielleicht hat Paul ja eine Idee. Er kennt sie von ihnen allen am besten.

Dunkle Seite - Mangfall ermittelt

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