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PIA

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Der folgende Arbeitstag verplätschert sich irgendwie. Andrea will es sich nicht eingestehen, aber die U-Bahn-Geschichte hat Spuren bei ihr hinterlassen. Mal ist sie grüblerisch, mal abgelenkt. Sie ist nicht fokussiert. Auf Josefs Drängen hin hat sie sich einen Termin bei der Polizeipsychologin geben lassen. Wenn ihn das beruhigt, dann macht sie das in Gottes Namen. Jedenfalls ist sie unzufrieden mit sich, als sie am frühen Abend zu Hause eintrifft.

Und kaum hat sie die Sachen fürs Abendessen auf den Küchentisch gestellt, da bekommt sie einen Anruf. Polizeiwache Altstadt. Sie soll Paul dort abholen. ‚Oh, Mann!‘, denkt sie. ‚Was hat er diesmal angestellt?‘ Der Beamte hat es ihr am Telefon nicht verraten. ‚Hoffentlich haben sie Paul nicht mit Hasch oder Pillen in der Tasche erwischt, das könnte unangenehm werden. Aus dem gemütlichen Abend zu Hause wird jedenfalls nichts.‘

Jetzt fällt ihr Tom ein. Den wollte sie ja eigentlich noch im Krankenhaus besuchen. Aber geschenkt – sie muss Paul von der Polizei abholen. Oder soll sie ihren kleinen Bruder ein bisschen schmoren lassen? So eine Nacht in der Zelle wirkt ja manchmal Wunder bei jugendlichen Straftätern. Da hat man Zeit zum Nachdenken. Würde Paul sicher nicht schaden. Nein, das bringt sie nicht übers Herz. Außerdem ist Paul kein Jugendlicher mehr.

Als sie um halb acht am Marienplatz aus der U-Bahn steigt, wird sie von den Menschen fast erschlagen. Wo wollen die alle hin? Dahineilende Mumien in dicken Wintermänteln und Anoraks mit lustigen bunten Mützen und Plastiktüten in schreienden Farben? So spät noch? Klar, Shopping bis zur letzten Minute. Countdown läuft. Ein gewaltiger Menschenstrom, der sich in die U-Bahn-Station hinein und aus ihr heraus ergießt. Die Innenstadt, speziell der Marienplatz, löst bei Andrea immer wieder Brechreiz aus. Der ganze Kommerzwahnsinn in der Fußgängerzone, die vielen immer gleichen Klamottenläden. Naja, neue Jeans und Stiefel könnte sie auch mal brauchen. Ihre fadenscheinige Jeans kommt schon etwas derangiert rüber. Löcher in den Hosen sind ja schon wieder out. Aber Mode ist ihr nicht wirklich wichtig. Auf die inneren Werte kommt es an. Und sie hasst Shopping.

Andrea fröstelt es auch beim Sound des Hofbräuhauses, das nur ein paar Meter von der Altstadtwache entfernt ist. Humtata hallt durch die Lederergasse. Das ganze Jahr Oktoberfest.

Sie betritt die Wache. Ein müder junger Beamter schaut sie fragend an. Andrea zeigt ihren Ausweis. „Guten Abend. Ich bin angerufen worden. Mein Bruder sitzt hier ein?“

Der Beamte mustert ihren Ausweis und schaut in den Computer. Er nickt. „Ja, Zelle 2.“

„Was hat er getan?“, fragt Andrea.

„Er hat eine Veranstaltung gestört.“

„Was für eine Veranstaltung?“

„Die Besorgten Münchner Bürger hatten eine Versammlung in einem der Säle im Hofbräuhaus. Ihr Bruder hat zusammen mit einem anderen linken Aktivisten die Tagung gestört. Und sich der Polizei widersetzt, als diese eingetroffen ist.“

„Hat er eine Torte geschmissen?“

„Nein, aber ein Transparent entrollt und lautstark Sprüche skandiert.“

„Da gibt es Schlimmeres.“

„Wie meinen Sie das?“

„Es gibt Schlimmeres, als gegen rechte Parteien zu demonstrieren. Man wird doch noch seine Meinung sagen dürfen?“

„Eben. Das gilt auch für die BMB.“

Andrea ist irritiert. Versteht sie das richtig? Findet der das okay?

„Das war keine öffentliche Veranstaltung“, ergänzt der Polizist.

„Kann ich meinen Bruder mitnehmen?“

„Können Sie. Anzeige folgt noch. Außer die Leute von den BMB überlegen es sich nochmal anders und verzichten auf die Anzeige. Wobei die Kollegen meinen …“ Er bricht ab und dreht sich zur Tür, durch die gerade ein Anzugmensch ins Präsidium stürmt. „Wo ist mein Mandant?“, bellt er den Polizisten an.

„Ganz ruhig. Wer sind Sie?“

„Rechtsanwalt Dr. Hassberger. Wo ist Herr Hassberger?“

„Steht vor mir, nehm ich mal an?“

„Lassen Sie die Witze! Bert Hassberger. Also?“

„Zelle 2. Einen Moment Geduld bitte. Ihr Ausweis?“

Genervt sucht der Mann seinen Ausweis heraus und schiebt ihn über den Tresen. Andrea wirft dem Anzugheini einen scharfen Seitenblick zu.

„Sie warten hier!“, weist der Beamte die beiden an und deutet einem Kollegen an, seinen Platz hinter dem Tresen einzunehmen. Er verschwindet durch eine Seitentür.

Kurz darauf ist er zurück. Im Schlepptau: Paul und einen zotteligen Langhaarigen in bunten Ethnoklamotten.

„Hey, Andrea, gut, dass du kommst! Deine Kollegen würden uns gerne noch länger hierbehalten.“

Jetzt sieht der Rechtsanwalt Andrea schräg an.

„Mangfall, Mordkommission“, stellt sie sich vor.

„Aha.“ Er deutet zu dem Hippie. „Mein Bruder.“

Andrea versucht, die beiden Typen – Anwalt und Batik-Man – unter einen Hut zu bekommen. Gelingt ihr zumindest optisch nicht.

„Das ist Bert“, sagt Paul. „Er war bei der Aktion dabei. Ich sag dir, das war voll krass, wie wir losgelegt haben, da haben die Typen …“ Andrea hebt warnend den Zeigefinger. „Schweig, kleiner Bruder.“

Der Beamte reicht Andrea und dem Anwalt Papiere zum Unterschreiben. Dann gibt er den beiden Delinquenten ihre persönlichen Gegenstände zurück.

„Die Nacht ist noch jung“, meint Bert draußen vor der Wache und grinst.

Sein brüderlicher Rechtsbeistand schüttelt den Kopf. „Bert, du gehst jetzt nach Hause. Ich hab’s langsam dick, dich immer wieder bei der Polizei abzuholen.“

„Hey, es gibt Demonstrationsfreiheit.“

„Ja, bei angemeldeten Demos. Und Hausfriedensbruch gibt es auch. Irgendwann krieg ich dich da nicht mehr so einfach raus. Dann sitzt du ein bisschen länger in deiner Zelle. Arbeitet endlich mit legalen Mitteln gegen diese Typen! Das wäre für mich und auch für dich stressfreier. So, ich muss los. Ciao.“

Bert lacht und sagt zu Paul. „Es ist nicht das Schlechteste, wenn wenigstens einer in der Familie einen ordentlichen Beruf hat.“

„Wem sagst du das?“, meint Paul und grinst Andrea an. „Boh, ich hab einen Wahnsinnshunger.“

Kurz darauf sitzen sie im Paulaner im Tal und warten aufs Essen. Andrea ist nur deswegen dabei, weil sie Paul heute nicht mehr aus den Augen lassen will. Und beinahe wäre ihr rausgerutscht, dass Bier jetzt nicht gerade das zum Anlass passende Getränk ist. Aber was soll das? Die zwei sind erwachsen und sie sind nicht aufgegriffen worden, weil sie besoffen oder bekifft waren, sondern weil sie gegen eine rechte Partei protestiert haben. Das ist ehrenwert. Macht nicht jeder. Die haben sich ihr Bier redlich verdient. Auch wenn sie gar nicht happy ist, dass Paul jetzt schon wieder mit anderen Polizisten als mit ihr Kontakt hat.

Paul stürzt sich halbverhungert auf seinen Schweinebraten und Bert attackiert einen Berg Kasspatzn. „Nichts mit Gesicht“, hatte er beim Bestellen gesagt und ihnen einen langen Vortrag gehalten über Fleischüberproduktion und vegetarische Küche. Und er redet auch beim Essen weiter wie ein Wasserfall, mit wenig appetitlichen Käsefäden im Mundwinkel.

„Und du hast Paul da reingezogen?“, fragt Andrea schließlich Bert und bereut das Suggestive ihrer Frage sofort.

Aber Bert bleibt ganz cool. „Wir haben uns auf einer Anti-Pegida-Demo vor ein paar Wochen kennengelernt. Und Paul fand unsere Ansätze interessant.“

„Das hast du mir nie erzählt, Paul. Also, dass du demonstrieren gehst.“

„Tja, jeder hat so seine Geheimnisse.“

„Und, wer seid ihr, Bert? Also, seid ihr eine Partei, ein Verein?“

„Kein Verein, keine Partei, ein loser Verbund. Wir nennen uns PIA – Politisch Interessierte Antifaschisten.“

„Hui, das klingt aber oldschool.“

„Oldschool ist nicht immer schlecht.“

Andrea nickt. Da hat er recht. „Und, was genau macht ihr?“

„Wir setzten uns inhaltlich mit rechten Parteien auseinander, durchleuchten ihre Programme, Ziele, informieren die Öffentlichkeit, posten Informationen und Hintergrundberichte in Sozialen Netzwerken und demonstrieren im öffentlichen Raum. Es ist wichtig, Gesicht zu zeigen, offen zu sagen, dass man sich nicht alles tatenlos anschaut. Es ist wichtig, den Leuten einen Blick hinter die Fassade dieser angeblich wohlmeinenden, besorgten Bürger zu ermöglichen.“ Er schnauft auf und schiebt sich eine weitere Gabel Kasspatzn in den Mund.

Andrea nickt wieder. Ja, das kann sie unterschreiben. „Und was machst du genau, also hast du eine bestimmte Funktion bei diesen PIA?“

„Ich bin eigentlich kein Mann für die erste Reihe, ich bin Computerspezialist, Entwickler bei einem kleinen Software-Unternehmen. Die Rechten machen heutzutage ihre Propaganda hauptsächlich übers Internet, also muss man sich vor allem die Sozialen Medien genau ansehen, um zu wissen, was die da treiben, wie sie funktionieren. Wir versuchen dann, Kampagnen gegen die Rechten in diesen Medien zu fahren. Das ist mein Job, also vor allem die technische Seite.“

Andrea nickt und sie bestellen noch einen Schnitt, bevor sie aufbrechen.

„Hey, was denkst du?“, fragt Paul auf dem Heimweg.

„Dass du besser aufpassen musst, wenn du nicht willst, dass die Polizei dich gleich wieder einlocht.“

„Hey, komm, da kenn ich dich aber anders. Früher warst du eine glühende Grüne, die für jeden Misthaufen auf die Straße gegangen ist. Und die Polizei war dir damals ziemlich wurscht.“

Sie lacht. „Da hast du ausnahmsweise mal recht.“

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