Читать книгу Dunkle Seite - Mangfall ermittelt - Harry Kämmerer - Страница 19
Zurückgepfiffen
ОглавлениеAndrea geht nach Hause. Endlich! Hoffentlich ist Paul da. Sie hat ihm nicht Bescheid gegeben. Am Ende hätte er versucht ihr auszureden, das Krankenhaus zu verlassen. Sie ist erwachsen, sie hat sich selbst entlassen. Sollen die sich ein anderes Psycho-Opfer suchen. Sie ist Polizistin. Und sie wäre keine geworden, wenn sie zu nahe am Wasser gebaut wäre. Am Nachmittag war sie noch kurz im Präsidium. Josef war nicht da. ‚Bestimmt findet er es nicht so super, dass ich nicht auf die Ärzte höre und mich erst ein paar Tage ausruh‘, denkt sie jetzt. Hat sie ja versucht, aber im Krankenhaus hat sie sich einfach nur elend gefühlt. Tom ist immer noch drin. Erst war er ganz erschrocken, sie auch in der Klinik zu sehen, im Patientenoutfit. Aber dann hat er tatsächlich gemeint, dass das doch schön sei, wenn sie beide … Echt nicht! Zwei Nächte und das war’s für sie.
Dass es Tom nicht schlimmer erwischt hat, ist schon erstaunlich. Nur Prellungen. Wie durch ein Wunder hat ihn keins der Räder der U-Bahn erfasst. Die blauen Flecken im Gesicht sehen eher nach Kneipenschlägerei aus. Ihrer Aufforderung, doch mit ihr gemeinsam das Krankenhaus zu verlassen, ist er nicht gefolgt. Ihr ist schon klar, warum ihn der Chefarzt noch gerne dabehalten will. Weil er mit Tom ein interessantes Anschauungsobjekt hat: das Opfer eines Gewaltverbrechens, das dem Tod ins Auge geschaut hat. Der Chefarzt hat Tom was ins Ohr geblasen von wegen wichtiger Untersuchungsergebnisse, die von großer Relevanz für seine Studien sind. Ja, genau. Und Tom macht ja meistens, was man ihm sagt. Also, wenn es für ihn vernünftig klingt. Und sich selbst zu entlassen, klingt für ihn nicht vernünftig. Sie haben gestritten. Aber sie ist sich sicher: Man kann nicht immer vernünftig sein. Insgeheim bewundert sie Tom aber ein bisschen, weil er eben auch mal die Verantwortung und die Kontrolle abgeben kann. Ja, Tom kann sich in die Hände anderer begeben, ohne gleich misstrauisch zu werden. Egal, sie ist jedenfalls raus aus dieser Krankenhaus-Nummer.
Jetzt also wieder im Dienst. Was ihr die Kollegen gerade berichtet haben, befriedigt sie nicht. Keine erhellenden Infos zu Vinzenz Krämer. ‚Ein stinknormaler Name für einen solchen Psychopathen‘, denkt sie. Leider kann sie selbst nichts zur Aufklärung der Hintergründe und der Motive des U-Bahnschubsers beitragen. Die wenige Zeit, die sie mit ihm zusammen verbracht hat, hat ihr nur gezeigt, dass der Typ einen massiven Dachschaden hatte, ein Stalker war, der sich auf irgendeine Art eine Beziehung mit ihr erhofft hat. Wahnsinn! Und jetzt ist er tot. ‚Gut so!‘, denkt sie und schämt sich nur ein bisschen für diesen Gedanken.
Die Sache mit dem zweiten Opfer erstaunt sie. Ja, das kann kein Zufall sein, dass am Folgetag an der fast gleichen Stelle noch ein Mann überfahren wurde. Und die Geschichte, die ihr die anderen erzählt haben, ist auch merkwürdig. Zurückgepfiffen, weil der Staatsschutz übernimmt. Geht’s noch? Sie werden schon rauskriegen, wer dieser Carsten Wiesinger war. Eins ist jedenfalls klar: Er ist auf dieselbe Art und Weise umgekommen wie der U-Bahnschubser am Tag zuvor. Dr. Sommer hat ihnen unter der Hand die ersten Befunde zukommen lassen. An Wiesinger finden sich exakt dieselben weißen Lackspuren wie an dem Opfer vom Vortag. Was die Staatsschützer wohl mit dieser Information anfangen? Vermutlich sind sie den ersten Fall dann auch gleich los. Aber wer weiß. ‚Dieselben Lackspuren – das ist ja schon mal ein Anfang‘, denkt Andrea. ‚Vielleicht hat der U-Bahnschubser einfach Pech gehabt? Wurde er im Dunkeln verwechselt? Wäre tragisch. Andererseits aber auch gerecht. Das Schwein.‘ Wenn Paul und die Kollegen sie nicht mehr rechtzeitig gefunden hätten! Naja. Ist ja nochmal gut gegangen. Sie ist froh, dass das alles vorbei ist.
Ihr Handy klingelt. Christine. Ob sie noch Lust hat, auf einen Drink zu gehen, sie möchte ihr was erzählen. Andrea wundert sich. Warum hat sie vorhin nicht gefragt? Wobei, ist ja manchmal komisch im Großraumbüro, wenn jeder alles mitkriegt. Jetzt ist sie schon fast zu Hause. Egal. Sie verabreden sich im Maria Passagne in Haidhausen. Andrea zögert kurz. Dahin wollte sie mit Tom nach dem Schwimmbad und einem Abendessen in der Lisboa Bar noch auf einen Absacker. So der Plan. Bevor das ganze Chaos über sie hereinbrach. Aber man muss seinen Dämonen ins Gesicht blicken. Sie kann ja wegen der Sache in der U-Bahn nicht ewig einen Bogen um Haidhausen machen. Zumal es ja eh beim Michaelibad passiert ist. Da wird sie sich allerdings in absehbarer Zeit nicht mehr blicken lassen. Die Lust auf Hallenbad oder Eislaufen ist ihr gründlich vergangen.
Andrea steigt an der Hackerbrücke in die S-Bahn um und fährt bis zum Rosenheimer Platz. Folgt den Tramschienen die Steinstraße entlang in Richtung Max-Weber-Platz. Aus dem Plattenladen an der Ecke Kellerstraße dröhnt Musik durch die gekippten Fenster, Bierflaschen klirren. Monkey Island Records verkündet das selbst gemalte Schild über der Eingangstür – Insel der Glückseligen. Auf Höhe der Metzgerei Vogl wabert noch ein zarter Hauch Leberkäs und Wiener Würste übers Kopfsteinpflaster. Das italienische Lokal Mezzodi ist gut gefüllt. Gäste sitzen an groben Holztischen vor Aperol Sprizz und Weingläsern hinter der beschlagenen Fensterfront. Sie mag das Viertel. Hier hatte sie mal einen Freund. Peter, Fotograf. Ob der noch seinen Laden in der Sedanstraße hat? Nein, da wird sie jetzt nicht vorbeigehen.
Im Maria Passagne sind kaum Gäste. Es ist noch früh am Abend. Christine sitzt an einem kleinen Tisch in einer Ecke und streichelt ihr Handy.
„Liebesbotschaften?“, fragt Andrea.
„Nicht schlecht, Frau Kommissar.“
„Jetzt echt?“
„Jetzt echt. Deswegen wollte ich dich ja treffen.“
Der Barkeeper bringt unaufgefordert zwei Munich Mule.
„Hey?“, fragt Andrea.
„Geht auf mich“, sagt Christine. „Magst du doch?“
„Wenn’s sein muss.“ Sie grinst. „Jetzt erzähl. Was, wer, wo, wie und wie oft?“
Sie lachen und stoßen an. Dann berichtet Christine, was ihr gestern passiert ist, und dass es sie schier zerreißt vor Liebe, vor Zweifeln, vor Unsicherheit. Und überhaupt.
„Jetzt mal ganz langsam und der Reihe nach“, bremst Andrea sie ein und deutet dem Barkeeper an, noch zwei Drinks zu bringen. Die ersten sind irgendwie verdunstet.
„Endlich mal keiner von diesen Stromlinienheinis, die man bei Tinder oder Elitepartner findet“, schwärmt Christine. „Nein, ein echter Typ. Der absolute Hammer. Gutaussehend, intelligent und überhaupt.“
„Wo hast du ihn denn kennengelernt?“
„Im Zug von Augsburg. Ich war gestern Abend bei einer Freundin. Um elf Uhr bin ich zurück nach München gefahren. Und da sitzt mir auf der Heimfahrt dieser wahnsinnig attraktive Typ gegenüber.“
„Und da hast du ihn angesprochen?“
„Ja. Ich hatte schon einen Kleinen im Tee.“
„Und weiter?“
„Wir waren in München noch was trinken.“
„Und dann im Hotel.“
„Spinnst du? Nur ein unschuldiger Drink in einer Bar. Und nach dem Drink haben wir ganz keusch die Handynummern getauscht. Und – ich weiß auch nicht, ich bin total verknallt!“
„Was macht er denn beruflich?“
„Irgendwas mit Sicherheitssoftware.“
„Doch nicht etwa für eine große Sicherheitsfirma am Thomas-Wimmer-Ring?“
„Äh, keine Ahnung. Wie kommst du denn da drauf?“
„Da gibt’s einen Laden mit einem Chef, der ganz gut aussieht.“
„Aha?“
„Aber sonst ein Arschloch. Der Typ spielte eine Rolle in einem Fall, als du auf Reha warst. Interessanter Typ. Dachte ich zuerst. Aber irgendwie kriminell.“
„Naja, wo die Liebe hinfällt.“
Sie lachen und bestellen noch eine Runde.