Читать книгу Die Schandmauer - Heide Fritsche - Страница 10

Оглавление

Die Piano-Bar

An den Wochenenden kamen Musikstudenten in die Piano-Bar. Sie spielten in der Regel Jazz, Blues oder Rag. Man war im Amerikanischen Sektor. Das gab den Grundton an. Das Ambiente der Bar war hierauf abgestimmt. Man gab sich modern in schwarz-weiß mit Musiknoten an den Wänden. Die Getränke hatten phantasievolle Namen wie Andante, Presto, Allegretto, Adagio molto, Moderato e grazioso, Lento, Vivace, Largo oder Forte, abhängig davon, wie viel Alkohol in die Gläser kam und in welcher Mischung mit Wodka, Gin, Whisky, Bacardi und Martini.

Die Piano-Bar war auf jung gemacht. Aber Jugend hatte man kaum noch in Berlin, nicht vor dem Tresen. Berlin vergreiste. Die Jugend reiste in den „freien“ Westen. Hier konnte man sich ein Leben aufbauen. Hier konnte man seine Zukunft planen. Berlin hatte keine Zukunft mehr.

Eine abgestandene Blondine stand hinterm Tresen. Sie war Mitte dreißig und großzügig dekolletiert. An Wochenenden war die Piano-Bar stippevoll. Dann halfen mehrere jüngere Mädchen aus. Studentinnen nannten die sich, was auch immer sie studierten.

Kriminalkommissar Hegmann kam in die Piano-Bar. Er setzte sich an den Tresen. Hinterm Tresen liefen die jungen Dinger wie aufgescheuchte Hühner herum, verwechselten Lento mit Forte, Largo mit Vivace, mixten alles Mögliche zusammen und mussten ein ganzes Register an Schlüpfrigkeiten und spöttischem Zynismus über sich ergehen lassen. Oft wurde laut protestiert und nach dem Boss geschrien.

Die Betrunkenen waren in der Regel friedlich. Zwei Gläser Schnaps, zwei Bier und dann kam der große Weltschmerz. Man mochte dies nicht und das nicht und schon gar nicht und überhaupt… traurige Unzufriedenheit im Blick, die Augendeckel auf und zu. Das waren aufgeblasene Nichtigkeiten. Das allgemeine Ambiente war ein Ritual aus Schnaps, Toilette, Rauchschwaden und Geschwafel.

Hegmann verlangte ein Bier. Ein junges Mädchen bediente ihn. Achtzehn Jahre war das Mindestalter in diesem Job, diese hier sah wie fünfzehn aus. Man konnte sich täuschen. Aber das junge Ding hatte den Job im Griff. Alle Anzüglichkeiten prallten an ihr ab. Sie hatte eine unsichtbare Glaswand um sich herum, lächelte, schenkte ein, rechnete ab, hörte zu, war aufmerksam, schnell, zuvorkommend, höflich, leise, aber immer distanziert. Jede Aufforderung zum Tanz und jede Einladung wurde abgelehnt. Sie lächelte jeden gleichbleibend und unpersönlich an. Ansonsten sprach sie wenig und von sich selber sprach sie überhaupt nicht.

Hegmann zeigte ihr seinen Dienstausweis:

Kriminalpolizei. Kennen Sie eine Lilly Naumann?“ Das Mädchen wurde rot im Gesicht: „Das bin ich.“

Haben Sie einen Augenblick Zeit?“

Lilly lachte gestresst: „Sie sehen, was los ist.”

„Wann machen Sie Feierabend?“

„Offiziell um ein Uhr, freitags und samstags kann es später werden.“

Wo kann ich Sie sonst erreichen?“

Hier, morgen Nachmittag zwischen drei und fünf. Da ist nichts los.“

Der Tresen war von Männern belagert. Freitagabend war es immer voll. An diesem Tag kamen viele Ehepaare oder solche, die sich dafür ausgaben, meistens das letztere. Die Männer, die hier landeten, waren einsame Nachtwandler. Die meisten hatten ein Bedürfnis sich auszusprechen. Einige brauchten jemanden, der ihnen zuhörte oder der ihnen Gesellschaft leistete. Andere ließen sich volllaufen und dann kam die große Beichte, sie heulten und jammerten. Das war ein Gemisch aus Selbstmitleid und Weltschmerz. Eine Type kam immer mit einem alten Muttchen. Er war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, sie über sechzig. Sie war runzelig und zusammengeschrumpft. Vielleicht war sie auch schon über siebzig. Ab sechzig wirken manche Frauen noch jung, andere sehen steinalt aus. Frauen kamen selten alleine. Wenn sie älter oder hässlich waren, wurden sie angemacht. Das war unangenehm. Wenn sie jung oder hübsch oder beides waren, wurden sie belagert, wetteifernd und protzig. Das war genauso pöbelhaft.

Lilly beobachtete, registrierte und lächelte gleichgültig, was auch immer gesagt wurde. Sie zuckte die Schultern, wenn wiehernd gelacht wurde. Obszönitäten prallten von ihr ab. Ihr fehlten in dieser Beziehung alle Begriffe der Anatomie. Der doppelte Boden existierte erst gar nicht. Alle fanden das lustig, nur Lilly nicht. Auch der weinerliche Katzenjammer der Betrunkenen interessierte sie nicht. Das gleiche jämmerliche Selbstmitleid hatte sie jahrelang von ihrem Stiefvater zu hören bekommen. Damit konnte ihr keiner imponieren.

Die Schandmauer

Подняться наверх