Читать книгу Die Schandmauer - Heide Fritsche - Страница 4
ОглавлениеIrene, Lilly, Susanne und Rita
Es war Samstag, der 6. April 1960. In der Wohnung bei Schwitters in der Reichenberger Straße in Berlin waren vier Mädchen und zehn Jungen versammelt. Sie tranken, randalierten, sangen, diskutierten, lärmten und aßen, alles durcheinander und ohne Zusammenhang. Jeder sprach mit jedem. Alle sprachen gleichzeitig. Niemand hörte zu.
„Scotsch-Whisky! Ich nem Scotsch-Whisky. Wie habt ihr nich? Wieso habt ihr nich? Gibt’s doch gar nicht. Na hör mal.“
„Scotsch-Whisky? Nix für mich. Mir hat der Arzt alles verboten. Ich darf keine Wurst essen, keine Butter und keinen Zucker. Ich darf keinen Wein trinken. Aber Wodka, davon hat er nicht gesprochen. Wie? Ihr habt auch keinen Wodka? Ist doch die Höhe!“
„Mensch treib Sport.“ Walter boxt seinem Nachbarn in die Seite: „Warum treibst du keinen Sport?“
Irene war auf die Idee gekommen, auf der Straße ein paar Jungen anzureden und einzuladen, einfach so. Man musste die Feste feiern, wie sie fallen. Die Eltern waren unterwegs, mal wieder, wie jedes Wochenende. Die Mädchen konnten tun und lassen, was sie wollten. Irene nahm Rita mit. Rita war Irenes Stiefschwester.
Auf der Straße sprachen sie wildfremde Männer an. Irene konnte das ganz locker, so nebenbei, kühl und überlegen. Sie machte auf intellektuell. Das zog immer. Rita bewunderte Irene. Sie wollte gerne wie sie sein, konnte aber nicht. Sie hatte nicht den Schmiss, nicht das Aussehen und nicht dieses gewisse Etwas wie Irene. Die Männer flogen auf Irene. An einem Abend zehn fremde Männer einzuladen, war für Irene ein Kinderspiel.
Rita wurde auf der Flucht geboren. Im Januar 1945 floh die Familie vor den Russen aus Schlesien. Die Familie hatte seit undenklichen Zeiten in Schlesien gewohnt. Früher war man einmal österreichisch gewesen. Seit dreihundert Jahren war man preußisch. Aber das spielte keine Rolle, ob man Österreicher oder Preuße war, das Leben ging weiter. Als jedoch die Russen kamen veränderte sich dieses „Laissez-faire“. Alles, was deutsch war, wurde umgebracht. Das geschah methodisch. Das war in Teheran, Jalta und Potsdam geplant worden. Wer sein Leben retten wollte, musste fliehen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Ritas Mutter starb nach der Geburt. Rita überlebte. Das Dorf hatte sich geschlossen auf die Flucht gemacht. Alle haben sich gegenseitig geholfen. Eine Nachbarin von Ritas Mutter hatte auch ein neugeborenes Kind. Sie konnte Rita die Brust geben. So überlebte Rita.
Aber Rita wurde während der Flucht auf der Landstraße geboren. Es gab keinen Arzt und keine Hebamme, der bei der Geburt hätte helfen können. Es gab keine Desinfektionsmittel. Auf den hartgefrorenen Wegen vom Januar, Februar und März 1945 gab es auch keine Waschgelegenheit. Durch die primitiven Umstände ihrer Geburt wurde Rita das Rückgrat deformiert.
Rita wollte gerne so extrovertiert agierend wie Irene sein, konnte aber nicht. Ihre körperlichen Probleme belasten sie und behinderten sie überall. Sie war fleißig und liebenswürdig und konnte keiner Fliege was zuleide tun. Aber ihre Zeugnisse lagen unter dem Klassendurchschnitt. Ist die Intelligenz genetisch bedingt oder wird sie durch die Umstände gefördert? Darüber streiten sich die Gelehrten. Aber die Entwicklung von Irene, Lilly, Susanne und Rita sprach eine eindeutige Sprache. Alle vier waren von Krieg, Nachkriegszeit und psychotischen Eltern beschädigt und belastet. Keines der Mädchen war vom Schicksal besonders privilegiert behandelt worden. Aber ihre Lebenswege waren sehr verschieden.
Rita hatte niemals eine große Kariere gemacht. Sie war nach der Volksschule bei Karstadt am Hermannplatz als Lehrling eingestellt worden. Seit einem Jahr arbeitete sie hier im Verkauf.
Ritas richtige Schwester war Susanne. Susanne war zwei Jahre älter als Rita. Sie wuchs in ihren ersten beiden Lebensjahren in Schlesien in glücklichen Familienverhältnissen auf. Von Natur aus war sie introvertiert. Sie sprach selten, sehr selten und dann auch nur, wenn sie ausdrücklich dazu aufgefordert wurde. Sie war immer im Hintergrund, schweigend. Susanne war eine graue Unscheinbarkeit. Trotzdem hatte sie mehr Glück als Rita. Beruflich ging es ihr glänzend und auch auf Männer wirkte sie anziehend, obwohl sie so schüchtern war.
Susanne arbeitete seit drei Jahren als Friseurlehrling. Seitdem sie im Friseursalon arbeitete, färbte sie sich jede Woche ihre Haare in einer anderen Neonfarbe. Das gehörte zu ihrem Berufsimage. Außerdem behandelten sich die Friseusen gegenseitig gratis. Das war eine gute Reklame fürs Geschäft, ohne Zweifel. Gleichzeitig waren diese Friseusen auch Versuchskaninchen für alle chemischen Produkte und Farbstoffe, die im Wirtschaftswunderland tagtägliche neu auf den Markt geschmissen wurden. Darüber dachte niemand nach. Die Friseusen waren jung, unbeschwert und naiv. Sie bewunderten sich selbst mit immer neuen Farben in den großen Spiegeln der Salons. Sie waren die Welt von Morgen nach der verlorenen Generation der Kriegszeit. Sie repräsentierten die neue Zeit nach den grauen Mäusen der Arbeitsmaiden und Ruinenfrauen. Sie wollten genießen, in großen Zügen. Sie hatten aber nicht gelernt, dass alles einen Preis hat, auch der Luxus der neuen Welt.
Ohne Zweifel machten diese lackierten, selbstleuchtenden Frisuren Susanne bunter. Mehr sichtbar wurde sie dadurch nicht. Aber ihre Kunden liebten sie. Tagein, tagaus hörte Susanne sich geduldig jedes Gewäsch und jeden Klatsch ihrer Kundinnen an. Sie störte nie mit unnützen Fragen. Sie kommentierte nichts. Sie gab keine Informationen weiter. Aller Kummer der Kundinnen, ihre kleinen und großen Geheimnisse, aller Klatsch und Tratsch, alle Informationen, Lügen und Desinformationen kamen nie über die Türschwelle des Friseursalons hinaus. Das wussten die Kundinnen zu schätzen. Susannes Wortkargheit verwandelte sich hier in reines Gold. Sie kassierte astronomische Trinkgelder.
Als die Herrengesellschaft, die Irene und Rita auf der Straße aufgelesen hatte, in der Reichenberger Straße angeströmt kam, kroch Susanne in sich selber zusammen wie in einem Schneckenhaus. Mit den Frauen im Friseursalon konnte sie großartig auskommen. Sie lächelte, arbeitete fleißig, ließ die Frauen reden und alle waren ihr dankbar. Wie aber sollte sie sich gegenüber diesen Männern verhalten? Susanne setzte sich geduldig in eine Ecke. Sie wagte gar nichts anderes. Sie war fügsam und geduldig und wartete ab, was geschah. Ansonsten schwieg sie wie gewöhnlich. Sie neigte den Kopf nach unten. Wenn sie angesprochen wurde, stierte sie auf den Fußboden. Wenn sie jemand etwas fragte, schüttelte sie den Kopf oder sie nickte. Ansonsten brachte sie kein Wort hervor.
Irene hatte eine Halbschwester. Sie hieß Lilly. Auch Lilly war an diesem Abend stumm. Auch sie sagte kein Wort, als zehn wildfremde Männer in der Reichenberger Straße anmarschiert kamen. Aber im Gegensatz zu Susanne war Lilly niemals fügsam und geduldig. Gleichgültig, in welche Situationen sie kam, so wartete sie ab, beobachtete, registrierte, was gesagt und gemacht wurde und dann handelte sie konsequent.
Lilly war der Prügelknabe ihrer Mutter, Irene war ihr Liebling. Irene durfte die Realschule besuchen. Lilly musste arbeiten gehen. Das Geld, das sie verdiente, musste sie zu Hause abgeben. Sie könne in der Reichenberger Straße nicht gratis wohnen und essen, hatte ihre Mutter gesagt. Da war Lilly vierzehn Jahre alt.
„Lilly hat keinen Verstand.“, sagte ihre Mutter. „Gymnasium? Ha, ha, ha! Das ich nicht lache! Ich schmeiße mein Geld nicht vor die Schweine. Die geht in die Fabrik. Die kann sich ihren Lebensunterhalt alleine verdienen. Das ist das einzig vernünftige, was sie zustande bringt. Bei mir hängt sie nicht herum. Ich unterstütze keine Faulenzer. Zu etwas anderem taugt dieses Flittchen ohnehin nicht.“
Seitdem Lilly vierzehn Jahre alt war, musste sie arbeiten. Zuerst war Lilly Saisonarbeiterin. Sie half beim Verkauf in Geschäften aus. Sie sprang überall ein, wo jemand gebraucht wurde. Im Haushalt helfen? Putzen? Kein Problem! Lilly sagte ja, immer und überall. Jeder Pfennig war willkommen. Alles, was sie nicht bei ihrer Mutter ablieferte, investierte sie in Kursen. Sie besuchte Stenografie-, Schreibmaschine- und Mathematikkurse, Englisch- und Französischkurse. Sie war jeden Abend unterwegs. Morgens um sieben Uhr ging Lilly aus dem Haus. Sie kam nachts um elf Uhr in die Reichenberger Straße zurück, legte sich ins Bett, schlief und verschwand früh morgens wieder, bevor die anderen aufstanden. Sie kommentierte nichts. Sie gab ihrer Mutter keine Informationen, wo sie war und was sie machte. Sie antwortete ihrer Mutter nicht, wenn sie angesprochen wurde. Sie drehte sie sich um und ging weg. Deswegen nannte ihre Mutter sie eine Herumtreiberin, ein Flittchen und eine Hure.
Nach einem Jahr, als Lilly das Schreibmaschinen- und Stenografie Examen bestanden hatte, bekam sie eine Anstellung als Schreibkraft in einem Büro. Jetzt verdiente sie regelmäßig und gut. Auch davon sprach sie mit niemanden. Ihre Mutter hätte dann noch mehr Geld von ihr verlangt und noch mehr an ihr herum gestänkert. Wie, wo und wann sie arbeitete, war ihre Angelegenheit. Das ging niemanden etwas an.
Damals gab es noch eine achtundvierzig Stunden Woche in Deutschland. Auch samstags wurde gearbeitet. Aber jeden Tag von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags im Büro zu sitzen, genügte Lilly nicht. Abends besuchte sie weiterhin Mathematik- und Sprachkurse. Ihre Kolleginnen glauben, sie wollte Kariere machen. Sie wollte zur Privatsekretärin avancieren oder sich für die Korrespondenz in der Auslandsabteilung bewerben. Lilly war jung. Die ganze Welt stand ihr offen.
Lilly äußerte sich nicht dazu. Wenn ihr jemand einen besseren Job angeboten hätte, hätte sie nie nein gesagt. Aber des Lebens letzter Zweck war dies nicht für sie. Lilly lernte, um des Lernens willen. Sie las alles, was sie auftreiben, erstehen oder ausleihen konnte. Im Lernen und Lesen öffneten sich für Lilly ganz andere Welten. Lilly lebte mit und in ihren Büchern. Hier verwischten sich die Grenzen zwischen Wirklichkeit, Traum, Phantasie, Utopie und Wunschbilder. Es öffneten sich immer neue Möglichkeiten. Jetzt hatte sie ein privates Gymnasium gefunden, wo sie ihr Abitur nachmachen konnte. Allerdings musste sie hier tagsüber zur Schule gehen. Darum hatte sie im Büro gekündigt und suchte einen Job, wo sie abends oder nachts arbeiten konnte.
Auch in dieser Nacht in der Reichenberger Straße war Lilly in einem Buch versunken. Dann kam diese lärmende Kompanie und machte jegliche Konzentration unmöglich. Die Kakophonie von Stimmen, Lachen, Singen und Schreien schlug wie eine Sintflut über ihr zusammen. Politik, Klatsch und Banalität wurden wie Kraut und Rüben durcheinander geschmissen. Wer sagte was? Worum ging es? Lilly konnte nicht folgen.
„Erzähle mal, wie war das mit diesem Skandal?“
„Skandal? Dem wollt ich mal eins auswischen, wollt ich. Und da hab ich jesacht, ‚Wat hab’n Se eben jesacht?‘, und da hat er jesacht: ‚Kommen Se mir nich mit so wat.‘“
„Unmöglich!“
„Sach ich doch, sach ich doch.“
Alle redeten gleichzeitig, keiner hörte zu. Jeder hatte eine Meinung, die niemanden interessierte.
„Das Volk weiß nicht, was es will und die Abgeordneten sind zu faul, zu müde und zu beschäftigt.“
„Man sollte diese aufgeblähten Beamtenkörper abschaffen.“
„In Bonn produzieren diese Typen tausend Narrheiten und Albernheiten. Hier fischt jeder im Trüben.“
„Meinst’e?“
„Deutschland müsste amtlich organisiert werden und nicht von wildgewordenen Spießbürgern, sach ich.“
„Amtlich organisiert? Mit all die irrsinnigen Vorschriften? Glaubst’e das interessiert mich. Das interessiert mich überhaupt nicht.“
Susanne gähnte. Sie hatte Lust ins Bett zu gehen. Sie traute sich aber nicht, einfach aufzustehen und alle Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Rita war in der Küche, um ein paar Stullen zu schmieren. Die Herren hatten Schrippen und Aufschnitt mitgebracht. Das wurde ein richtiges Fest.
„Nächstes Jahr? Tunis? An jeder Straßenecke ein Harem. Wa?“
„Woher hasse das?“
„Na hör mal, ich lese, klar, lesen muss man können.“
„Harem? Hab ich richtig jehört? Sowat jehört bei uns unters Jugendschutzgesetz. Anstößige Wörter müssen vermieden werden.“
„Man darf auch nicht ‚das leibliche und sinnliche Leben’ verherrlichen oder gar bordellartige Gespräche im Schoß der Familie führen.“ Das war Irene. Sie machte auf intellektuell wie immer. Rita kam mit den Brötchen. Irene holte Bier.
Familienleben! Dachte Lilly verächtlich, Familienleben war geheuchelte Ehrbarkeit, die öffentlich ausgestellt wurde, die aber niemals stimmte und die keiner glaubte. Familie war ein Markenartikel. Das war die Grundlage des deutschen Staates. Die Familie war ein Warenhaus von gängigen Werten wie triefende Würde, hölzerne Anständigkeit und ausgekochte Sauberkeit. Die Familie wurde sakral gehütet und nach kaufmännischen Prinzipien auskalkuliert und immer an die jeweilige politische Lage angepasst. So war es jetzt auch wieder in der Ostzone. Familie? Natürlich! Selbstverständlich! Aber die Kinder gehörten dem Staat. Die Kinder mussten der jeweiligen politischen Ideologie entsprechend ausgerichtet und dressiert werden und zwar von der Wiege bis zum Grab. Dafür sorgte die Partei. Familie? Was war das? Das war das, was der Staat diktiert und was in die politischen Landschaften hineinpasste.
Rita sprach auf Klaus und Robert ein: „Irenes Großvater starb vor zwei Jahren. Er hinterließ eine größere Summe Geld. Lilly und Irene erbten das Geld. Ihre Mutter wurde von ihrem Vater enterbt. Sie hatte eine höhere Ausbildung bekommen. Das wurde ihr Pflichtanteil genannt. Lilly und Irene sollten sich alleine durchwurschteln, darum sollten sie das Erbe bekommen.“
„Meine Mutter führte einen langen Prozess”, mischte sich Irene hier ein, „sie verlor eine Instanz nach der anderen. Lilly und ich, wir sind beide noch minderjährig. Meine Mutter hat das Erziehungsrecht. Sie beanspruchte die Kontrolle über das Geld, um unsere Erziehung sicherzustellen. Als sie sich abgesichert hatte, kaufte sie sich einen Mercedes. Seitdem fährt sie an jedem Wochenende nach Westdeutschland. Darum sind wir an jedem Wochenende alleine in der Wohnung.“
Jürgen, Norbert und Günther hingen neben und hinter Lilly am Klavier, pickten auf den Tasten herum und sangen, jeder nach einer eigenen Melodie, jeder mit einem anderen Text. Aus dem Fernseher tönte die Stimme des Nachrichtensprechers: „Die Sowjetunion protestierte gegen die Übermittlung einer Medaille an einen Sowjetbürger durch die deutsche Botschaft. Arbeitskollegen von Iwan Goppe, wohnhaft in der Siedlung Kaliez im Rayon Solikamsk hätten ausgesagt, dass ein Postbote ein Paket von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Moskau an besagten Iwan Goppe abgegeben hätte …“
„Mit Politik tu ich mir nicht befassen, det jeht mir jar nischt an“, sagte Helmut. Helmut und Rainer verschwanden im Schlafzimmer von Schwitters. Sie durchwühlten den Kleiderschrank und kostümierten sich. Helmut zog das schöne Geblümte von Frau Schwitters an und Rainer den guten Gestreiften von Herrn Schwitters. Die Kleider hingen wie Säcke an ihnen herunter. Sie wurden mit Unterhosen und Strümpfen ausgestopft. Helmut fand den Lippenstift von Frau Schwitters.
„Breeennend hei-hei-heißer Wüstensand“, grölte Jürgen und Norbert und hämmerten aufs Klavier. Helmut und Rainer tanzten eng umschlungen. Klaus und Robert waren mit Irene beschäftigt: „Seid ihr alle vier Geschwister?“
„Nein, Susanne und Rita sind Schwestern, und Lilly und ich, wir sind Halbschwestern, wir haben die gleiche Mutter, aber verschiedene Väter.“
„Ja so jet dat, Männer kann’ste nehmen, brauchen und wegschmeißen.“
Martin hatte den Kasten mit den Sicherungen gefunden. Das war spannend. Er zog eine Sicherung raus, setze eine andere rein und wieder umgekehrt, hin und her. Das Radio klickte aus und an, der Fernseher wurde schwarz und explodierte in Blitzlichtern. Der Plattenspieler leierte, hackte und verstummte. Jürgen und Norbert hämmerten weiterhin auf dem Klavier herum. Sie schwebten in seliger Bierstimmung.
Rita wusste nicht genau, ob sie mit Robert oder mit Klaus anbändeln sollte. Irene war immer noch mit ihren eigenen Familienproblemen beschäftigt: „Jedes Wochenende sind meine Eltern unterwegs. Wir können hier tun und lassen, was wir wollen. Aber meine Mutter nimmt uns alles Geld ab. Alle Essenswaren werden eingeschlossen.“
Rolf hörte entmutigt auf, am stummen Radio zu kurbeln. Er setzte sich bei Susanne auf den Schoss. Susanne protestierte. Rolf kitzelte sie.
„Nein... nicht... mir wird übel...“, Susanne wollte aus dem Wohnzimmer weglaufen, konnte aber nicht.
Helmut und Rainer tanzten im Dunkeln weiter, ohne Musik. Am Klavier wurde getrunken und gegrölt: „Schwarzer Kater Stanislaus …“
Die ganze Wohnung lag im Dunkeln. Lilly schob sich an der Wand entlang.
„Huh... Huh!“ Martin fühlte sich witzig. Er tastete sich vorwärts, stolperte über Lilly und fiel. Mit dem Kopf schlug er gegen die Tischkante. Ein Zahn wurde beschädigt: „Verdammte Scheiße!“ Er wischte sich das Blut mit dem Taschentuch ab. Im Dunkeln flammten Streichhölzer und Feuerzeuge auf.
Lilly erreichte den Korridor, tastete sich bis zu ihrer Zimmertür und verschwand in ihrem Zimmer. Sie schloss die Tür hinter sich ab, legte sich auf ihr Bett und schlief ein. Der Lärm in der Wohnung mischte sich mit ihren verworrenen Träumen. Sie hörte einen Wasserfall und Räderrollen. Dann wurde der Lärm konkreter. Türen knallten. Jemand schrie. Die Stimme kannte Lilly. War das ein Alptraum? Lilly war mit einem Male hellwach. Sie blieb regungslos liegen und lauschte. Ihre Mutter war zurückgekommen. Wie spät war es? Fünf Uhr morgens? Wieso kamen die mitten in der Nacht wieder nach Zuhause zurück? Was war passiert? Reifenpanne? Unfall? Oder war der Schwitters wieder stinkbesoffen? Wahrscheinlich! Das war nicht das erste Mal. Was sollte sie jetzt machen? Sie stand auf und zog sich an, leise, bloß keinen Lärm machen. Lilly wartete.
Im Korridor hörte sie das Kreischen ihrer Mutter: „Pornographisch ... bis ins Mark vergiftet... anstößig... verlotterte Bande... bringe ich in die Erziehungsanstalt … “
Dazwischen konnte sie laute Proteste von Männerstimmen ausmachen: „Wie? Wat hab’n Se eben jesacht?“
„Ich hole die Polizei. Raus! Rauuuus ….!“ Das hallte im Treppenhaus. Offensichtlich schrie sie jetzt im Treppenhaus die Nachbarn zusammen. Sie wollte Zeugen haben.
„Das verbitte ich mir aber. Was erlauben Sie sich für einen Ton?“ War das Norbert?
„Skandal is das …“
„Sie … kommen Sie mir bloß nicht mit Skandal!“
„Sie können mir mal!“
„Das is ja jrossartig! Ich soll Sie? Sie können mir!“
„Wenn Sie nicht sofort …“
Lilly hörte einen Knall. Was war passiert? Draußen wurde es hell. Offensichtlich wurden jetzt die Jungen nach draußen befördert. Sie hörte Poltern und einen undefinierbaren Lärm. Etwas flog gegen ihre Tür, Porzellan klirrte, Schritte jagten vorbei. Dazwischen hörte sie Proteste: „Unglaublich!“
Irgendjemand drohte: „Komm’Se, komm’Se doch!“
„Wat’n! Wat’n …“
„Vaflucht!“
Jemand trampelten über den Korridor: „Sie … Sie …“
Im Treppenhaus schrie ein Mann: „Herrjott, wat sind Sie for ene!“
Die Wohnungstür wurde zugeschlagen. Einen Augenblick lang war es stille, dann legte Lieselotte Schwitters gegen Rita los:
„Flittchen. So was will ich nicht im Hause haben...raus, habe ich gesagt, raus …“. Schon wieder krachte etwas. Lilly hielt den Atem an. Wurde ihre Mutter jetzt gegen Rita und Susanne handgreiflich? Dann war auch sie in höchster Gefahr. Vorsichtig packte sie ein paar Kleidungsstücke und ihre Bücher in einen alten Pappkoffer.
„Wenn Rita rausgeschmissen wird, gehe ich auch“, sagte Susanne. Normalerweise war Susanne zu schüchtern, um zu sprechen, aber wenn Rita angriffen wurde, dann verlor sie ihre Hemmungen. Mit Rita war sie zusammen durch die Hölle gegangen. Rita war alles, was sie noch hatte.
„Rauuuus ...“
Von Irene war kein Piep zu hören. Lillys Zimmertür war noch immer verschlossen. Lilly wagte kaum, sich zu bewegen. Sie wollte nicht die Aufmerksamkeit ihrer Mutter auf ihre Person lenken. Aber ihr Schweigen half ihr auch diesmal nichts. Susanne und Rita nahmen ihre wichtigsten Sachen und verließen das Haus. Frau Schwitters kontrollierte jeden Gegenstand, den sie einpackten. Dann erinnerte sie sich an Lilly: „Wo ist Lilly? Wo ist diese Hure? Auch noch immer draußen auf dem Strich?“
Frau Schwitters rüttelte an Lillys Zimmertür: „Aufmachen! Wird’s bald! Ich schlage die Tür ein. Ich hole die Polizei. Ich schlage dich in Stücke, wenn ich dich erwische.“
Lilly schmiss den Pappkoffer mit den Büchern und Kleidern aus dem Fenster, dann stieg sie hinterher. Ihre Sachen konnte sie am Bahnhof Zoo einschließen. Vielleicht konnte sie bei einer Freundin unterkommen. Das Leben ging weiter, auch ohne Familie.