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In der Reichenberger Straße

Im Haus in der Reichenberger Straße, wo die beiden Schwestern Macher lebten, wohnten zumeist ältere oder alte Menschen und einige junge Ehepaare und jüngere Untermieter. Die jungen Leute waren fast alle spät in der Nacht vom Samstag zum Sonntag nach Hause gekommen. Eine Leiche hatten sie nicht vor der Haustür gesehen. Alle hatten am Sonntagmorgen lange geschlafen, alle, bis auf die beiden alten Damen, die jeden Sonntagmorgen in die Kirche gingen.

Die Untersuchung verlief ergebnislos. Nur bei Familie Schwitters wurden merkwürdige Verhältnisse aufgedeckt. Familie Schwitters wohnte in einer Sechszimmerwohnung, Parterre. Amtlich gemeldet waren das Ehepaar Ewald und Lieselotte Schwitters und vier minderjährige Töchter. Das waren Irene Gärtner, Lilly Naumann und Susanne und Rita Schwitters. Herbert Hegmann sprach mit Lieselotte Schwitters. Das war am Montagnachmittag um vier Uhr. Ewald Schwitters war noch nicht zu Hause.

Hegmann wollte mit den Töchtern sprechen. Das war nicht möglich, sie waren nicht zu Hause. Wo ihre Töchter sich befanden, wusste Frau Schwitters nicht. Sie kannte nicht die Arbeitsgeber ihrer Kinder. Nur die älteste Tochter war zu Hause: „Irene schläft noch. Ich werde sie sofort wecken.

Frau Schwitters verließ das Wohnzimmer und ließ die Tür zum Korridor offen stehen. Durch die offene Tür sah Hegmann einen Mann im Schlafanzug durch den Gang schlurfen. Er ging zum Badezimmer oder zur Toilette. Hegmann hörte Wasser rauschen. Der Mann mochte fünfundvierzig bis fünfundfünfzig Jahre alt sein. Er war ungefähr ein Meter und achtzig groß.

Dann hörte Hegmann den Schlüssel zur Wohnungstür. Ein umfangreicher Mensch kam herein. Schwerfällig stapfte er an der offenen Wohnzimmertür vorbei. Er schaute nicht nach links und nicht nach rechts. Er grüßte nicht. Er schloss eine Tür auf, ging in ein Zimmer und schloss die Tür hinter sich wieder ab. Aus einem anderen Zimmer hörte Hegmann die Stimmen von zwei Frauen. Sie wurden immer lauter.

Ich hole den nicht aus der Kneipe heraus.“ Unverständliches Gemurmel. Hegmann lauschte angestrengt, dann hörte er Lärm, als wenn Gegenstände herumgeschmissen wurden.

Nein, nein, nein.“

Wieder Lärm. Dann knallte eine Tür. Lieselotte Schwitters kam zurück. Sie war hochrot im Gesicht. Ihre Augen funkelten aufgeregt. Ansonsten hatte sie sich total unter Kontrolle. In dem Moment, als Lieselotte ins Zimmer kam, schlurfte diese Type von rund fünfzig Jahren wieder über den Flur. Frau Schwitters machte schnell die Wohnzimmertür hinter sich zu. Hegmann fragte interessiert: „Wer war das?“

Der wohnt hier. Ist doch nicht verboten, ein paar Zimmer zu vermieten. Bei der Wohnungsknappheit.“

Es kam noch ein anderer Mann hier vorbei, so ein dicker, schwerfälliger. Ist das auch ein Untermieter?“

Herr Bauer, ja, der arbeitet bei der Stadtverwaltung.“

„Haben Sie noch mehr Untermieter?“

„Nein.“

„Könnte ich die beiden Untermieter bitte sprechen?“

„Ich kann die nicht dauernd belästigen. Die bezahlen ihre Miete und machen keinen Ärger. Ich kann mir die Leute nicht vergraulen.

Hegmann war ärgerlich: „Es handelt sich um einen Mordfall. Wir können Sie und ihre Untermieter zum Polizeiamt vorladen. Ist Ihnen das angenehmer?“

Frau Schwitters wurde unsicher. Mit Behörden hatte sie nicht gerne zu tun. Sie ging auf den Gang und klopfte an eine Tür: „Herr Weichelt? Ist Ihnen nicht gut? Soll ich einen Doktor holen?“

Hegmann hörte die Antwort nicht.

Ein Polizeibeamter ist hier und möchte Sie sprechen“, sagte Frau Schwitters. Wieder ein unverständliches Gemurmel hinter der Tür. Herr Weichelt rührte sich nicht. Jetzt hörte Hegmann, wie stattdessen der dicke Herr Bauer seine Tür aufschloss. Er kam in den Korridor.

Was ist?“

Hegmann stand auf, ging in den Korridor und zeigte ihm seinen Ausweis: „Mordkommission.“

Herr Bauer kam mit ins Wohnzimmer und setzte sich. Hegmann holte seine Formulare hervor.

Wie war Ihr Name bitte?“

Bauer, Martin Bauer.“

Alter?“

Achtunddreißig.“

„Beruf?“

Angestellter bei der Stadtreinigung.“

Wie lange wohnen Sie schon hier?“

Seit drei Wochen.“

Wo waren Sie in der Nacht vom Samstag zum Sonntag?“

In der Kneipe an der Ecke Ohlauer Straße und Paul-Lincke-Ufer. Wir haben bis elf, zwölf Uhr Skat gespielt. Dann bin ich ins Bett gegangen.“

Frau Schwitters war wieder ins Wohnzimmer gekommen. Sie zündete sich eine Zigarette an und ging unruhig hin und her.

Der Kriminalkommissar ließ sich nicht irritieren: „Wann sind Sie am Sonntagmorgen aufgestanden?“

Gegen elf Uhr.“

„Haben Sie um diese Zeit eine Leiche vor der Haustür gesehen?“

Ich bin am Sonntag erst um sechs Uhr abends rausgegangen, zum Essen. Es hat am Sonntag geregnet. Da war kaum ein Mensch auf der Straße.“

Aus der Küche hörte man Rumoren. Schranktüren wurden geöffnet, Schubladen wurden rausgezogen. Frau Schwitters ging in die Küche. Sie ließ die Wohnzimmertür wieder offen. Herr Weichelt kam angelatscht, immer noch im Schlafanzug. Aus der Küche hörte man Frau Schwitters schimpfen. Bauer grinste: „Dat is‘n Besen, sach ich Ihnen.“ Er erklärte nicht, wen und was er mit Besen meinte.

Hegmann fragte auch nicht danach: „Herr Bauer, wenn wir noch weitere Auskünfte brauchen, werden Sie von uns hören.“

Hegmann war aufgestanden und zeigte jetzt Herrn Weichelt seinen Ausweis. Während der Kriminalkommissar mit einem Ohr auf die Geräusche in der Küche hörte, machte er auch hier wieder seine Routinenotizen: Name, Alter, Beruf, Adresse.

Alfred Weichelt war zweiundfünfzig Jahre alt und Drucker von Beruf. Er war arbeitslos. Er war aus der Ostzone geflüchtet. Er kam aus Leipzig. Außer der Familie Schwitters kannte er in Berlin niemanden.

„Was haben Sie in der Nacht vom Samstag zum Sonntag gemacht?“

„Kann mich nicht erinnern. Hab wohl einen über den Durst getrunken.“

Frau Schwitters kam mit Irene ins Wohnzimmer. Irene war zierlich und gut gebaut. Sie hatte ein hübsches Gesicht und langes dunkles Haar. Hegmann war zerstreut. Er wusste nicht mehr, was er Herrn Weichelt gefragt hatte: „Wann sind Sie am Sonntag nach draußen gegangen?“

Am Sonntag war ich nicht draußen, auch heute bin ich nicht aufgestanden. Ich fühle mich nicht gut. Ich habe eine Erkältung bekommen.“

Frau Schwitters mischte sich hier ein: „Es wäre besser, wenn Herr Weichelt sich wieder ins Bett legt. Es ist unangenehm, kranke Menschen in der Wohnung zu haben.“

Weichelt sah Hegmann fragend an. „Danke, das genügt, wenn ich weitere Auskünfte brauche, hören Sie von uns“, antwortete Hegmann automatisch. Er war jetzt auf Irene konzentriert. Sein Berufsinstinkt sendete ihm alle möglichen Signale. Der Kriminalkommissar wusste nur nicht, welche. Er stellte wiederum seine üblichen Fragen: Name, Alter, Beruf, Anschrift.

Irene war achtzehn Jahre alt. Sie hatte im letzten Jahr die Mittlere Reife abgeschlossen und machte jetzt eine Lehre als technische Zeichnerin. Der Trümmerhaufen von Berlin wurde wieder aufgebaut. Die Baubranche hatte Hochkonjunktur. Die gesamte Altstadt war zu Trümmerbergen zusammen gescharrt worden. Auf den Trümmerhaufen bei Lilienthal gab es sogar eine Skischule. Im Westen von Berlin wurden ganze Satellitenstädte im Märkischen Viertel ins Grüne geplant. Westdeutschland fieberte im Wiederaufbauwunder. Die DDR wollte dem nicht nachstehen, sie baute die Stalinallee und plante den Palast der Republik.

Was haben Sie in der Nacht vom Samstag zum Sonntag gemacht?“, fragte Hegmann Irene.

Alles Mögliche, so von einer Disco zur anderen. Vom Riverboat bis zum Savignyplatz haben wir alles mitgenommen. Ich kann mich nicht an alle Namen erinnern.“

„Wann sind Sie nach Hause gekommen?“

„Weiß ich nicht. Gegen sechs Uhr vielleicht.“

Haben Sie eine Leiche vor der Haustür gesehen?“

Eine was?“ Irene sah fragend von einem zum anderen: „Sie machen keine schlechten Scherze?“

Hegmann holte wieder seinen Dienstausweis hervor: „Mordkommission.“

Irene staunte: „Ist ja toll! Was für eine Leiche?“

Hegmann war verärgert. Er kam nicht von der Regenbogenpresse, um Sensationsneuigkeiten zu verkünden: „Haben Sie eine Leiche gesehen oder nicht, ja oder nein?“

Nee, leider nicht. War das ein Mann oder eine Frau?“ Herbert überhörte die Frage.

Haben Sie am Wochenende ihre Geschwister gesehen?“ Er durchblätterte flüchtig seine Fragebogen: „Rita, Susanne und Lilly. Das waren doch die Namen?“

Susanne und Rita Schwitters sind meine Stiefschwestern, Lilly Naumann ist meine Halbschwester.“

Waren die am Wochenende hier in der Wohnung?“

Irene sah flüchtig ihre Mutter an, dann ging sie zum Fenster und schaute auf die Straße.

„Wenn Sie mir hier keine Antwort geben können, kommen Sie morgen früh um zehn Uhr zum Polizeipräsidium Zimmer 2043.“

Hegmann packte seine Sachen zusammen und ging. Das wurde ihm zu bunt. Als er die Wohnung verließ, hörte er hinter sich Schreien und Krachen. Irgendetwas wurde zerbrochen. Himmel, war das eine Wirtschaft! Ein Mann kam durch die Haustür. Er war total betrunken. Hegmann schätze ihn auf Anfang vierzig. Er war ungefähr ein Meter dreiundachtzig groß und korpulent. Der Mann war hochrot im Gesicht. Er schwitzte und stöhnte. Hegmann hatte einen Verdacht. Er sprach den Mann an: „Sind Sie Herr Schwitters? Ewald Schwitters?“ Der Mann atmete schwer.

Kriminalpolizei.“

Der Mann starrte ihn ausdruckslos an, setzte sich auf die Treppe, die in den ersten Stock führte, legte den Kopf ans Geländer und fing an, mit offenem Mund zu schnarchen. Die Tür zur Nachbarwohnung wurde geöffnet. Frau Elster kam ins Treppenhaus. Sie war alt, verhutzelt und mager: „Herrn Schwitters kriegen Sie so schnell nicht wach.“

„Ja so, das ist Herr Schwitters?“, Hegmann zeigte auf den schlafenden Mann.

Der trinkt wie ein Loch. Das ganze Wochenende ist er nicht nach Hause gekommen. Den kriegen sie aus der Kneipe nicht mehr raus. Sie könnten den in Stücke schlagen, der gibt keinen Piep von sich.“

Frau Elster zeigte bedeutungsvoll auf die Nachbartür und kicherte. Aus der Wohnung von Schwitters kam lautes Schreien. Hegmann hatte genug. Er ging nach draußen.

Die Schandmauer

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