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Polemische Distanzierung
ОглавлениеSind Intellektuelle Vogelscheuchen?
Eine ältere Form des Wortes „Mumpitz“ soll für ‚Schreckgestalt, Vogelscheuche‘ gestanden haben. Aus der Novemberrevolution ist der Ausspruch eines Arbeiters (am 2. Dezember 1918) überliefert: „Intellektuelle sind Mumpitz.“38 August Bebel griff zu einem weniger krassen Ausdruck. Doch deutliches Mißbehagen ließ auch er erkennen: „Seht Euch jeden Parteigenossen an, aber wenn es ein Akademiker ist oder ein Intellektueller, dann seht ihn Euch doppelt und dreifach an.“39
Nicht nur von einer Seite allerdings erfuhren die Intellektuellen und ihr Habitus Kritik. Eine erste war, wie Bebels mahnende Worte bezeugen, die Arbeiterbewegung. Eine andere der Konservatismus. Thomas Mann führte in seiner Schrift Gedanken im Kriege erst einmal das Gegenbild vor, lobend den Dichter als Verächter des Friedens, der den Krieg feiernd besingt: 1756, zu Beginn des Siebenjährigen Krieges? 1914, zu Beginn des Weltkriegs? Wie auch immer, der Autor läßt beides in einander fließen. „Wir kannten sie ja, diese Welt des Friedens und der cancanierenden Gesittung“. (Der Cancan: ein erst im 19. Jahrhundert aufgekommener Tanz.) „Wimmelte sie nicht von dem Ungeziefer des Geistes wie von Maden? Gor und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Zivilisation?“ Paukenschlag: „Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheuere Hoffnung. Hiervon sagten die Dichter, nur hiervon. … Was die Dichter begeisterte, war der Krieg an sich selbst, als Heimsuchung, als sittliche Not. Es war der nie erhörte, der gewaltige und schwärmerische Zusammenschluß der Nation in der Bereitschaft zu tiefster Prüfung …“ Und der Schriftsteller am Schreibtisch preist „den Siegeszug unseres Volksheeres bis vor die Tore von Paris“, wobei er unerwähnt läßt, daß er wirklich dorthin „vor die Tore“ kam, jedoch nicht weiter und hinein.40 Konträr die Intellektuellen. Was „die Dichter“ begeisterte, begeisterte nun eben keineswegs jene, soweit sie pazifistisch gesinnt waren. Was sie begeisterte, der Friede, begeisterte im mindesten nicht „die Dichter“. Aus Antithesen baut der Unpolitische sich seine Metaphysik des Deutschtums. In der Vorrede zu seinen Betrachtungen manifestiert er sein Fundament: „Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur.“41 Für sich selber nimmt er die erste Reihe in Anspruch: Kultur etc., um die zweite zu verwerfen: Zivilisation usw. Die Betrachtungen enthalten auch seine bellizistische, zum Pazifismus konträre Konfession zur Zeit des Weltkriegs: „Der Pazifismus war mir eine Puschel (?) gewesen … Ich fand es oberflächlich, maniakalisch und kindlich, die Welt aus dem Punkte des militärischen Friedens kurieren zu wollen; ich glaubte nicht, daß das Leben je friedlich sein könne, und auch nicht, daß die liebe Menschheit in ewigem Frieden sich wesentlich schöner ausnehmen werde, als unter dem Schwerte.“42 Freilich, in der Weimarer Republik fiel seine Vorliebe für das Leben „unter dem Schwerte“ dahin. Jetzt hieß es (1929): „Der Weltkrieg, diese Riesenexplosion der Unvernunft …“43
Zu den von ihm behaupteten Unterschieden u.a. von Kultur und Zivilisation gehört es, daß er eine Bezeichnung für den Verfechter von Zivilisation und Literatur schuf: „Der Typus dieses deutschen Anhängers der literarischen Zivilisation ist, wie sich versteht, unser radikaler Literat, er, den ich den ‚Zivilisationsliteraten‘ zu nennen mich gewöhnt habe, – und es versteht sich deshalb, weil der radikale Literat, der Vertreter des literarisierten und politisierten, kurz, des demokratischen Geistes, ein Sohn der Revolution, in ihrer Sphäre, ihrem Lande geistig beheimatet ist. … Frankreich ist sein Land, die Revolution seine große Zeit, es ging ihm gut damals, als er noch ‚Philosoph‘ hieß und in der Tat die neue Philosophie, nämlich die der Humanität, Freiheit, Vernunft vermittelte, verbreitete, politisch zubereitete …“44 So im Kapitel: „Der Zivilisationsliterat“, worin Mann am Schluß das von diesem angestrebte Ziel abermals verdammt: „die Politisierung, Literarisierung, Intellektualisierung, Radikalisierung Deutschlands“; mit einem Wort: Deutschlands „Entdeutschung.“45 Für sein Haßobjekt, den „Zivilisationsliteraten“, hat Mann eine weitere Schmähung parat, in Deutschland eine alte, veraltete: „Jakobiner“. So schreibt er: „… was ich mir nicht träumen ließ, das war die Auferstehung der Tugend in politischer Gestalt, das Wieder=möglich=werden eines Moralbonzentums sentimental=terroristisch=republikanischer Prägung, mit einem Worte: die Renaissance des Jakobiners.“46
Die Distanz zwischen einfachen Menschen, vor allem den Handarbeitern, und den „geistigen Arbeitern“, hielt an, und wenn sie sich in der Novemberrevolution auch vermutlich hier und da verringerte, – nach deren Ende vergrößerte sie sich neuerlich, sogar unter den gefangenen Teilnehmern an der Revolution. Ernst Toller bezeugt es. Aus der Haft in Niederschönenfeld berichtet er: „Der Haß gegen den Intellektuellen ist nicht mehr ‚Überlegungshaß‘, ist reiner Triebhaß geworden.“ (1920) Doch liege die Ursache nicht auf einer Seite allein, denn in der Geschichte machten sich die Intellektuellen „der immer gleichen Verwechslungen zwischen den Nöten der Massen“ und ihren eigenen schuldig (1922).47
Gegen Toller wütete in der Haft ein anderer Gefangener: Erich Mühsam. Sein Tagebuch verrät: „Die ‚Intellektuellen‘ also bilden hier eine Partei“ – ausdrücklich nominiert er Toller und Niekisch –, „während unsre Gruppe sich sehr scharf dagegen abhebt.“48 Zuvor bereits hatte er Tollers politische Auffassung als „Schleimrevolutionarismus“ diffamiert.49 1920 dichtete er gar einen Gesang des Intellektuellen50 mit sieben Strophen. Die erste: „R-r-revolution/macht man nur mit Liebe./Weist den Hetzer von der Schwelle./Nur der Intellektuelle/kennt das Weltgetriebe.“ Die sechste: „Folgt dem geistigen Führerrat/zu des Werkes Krönung./Einerseits die rote Fahne,/andrerseits die Buttersahne/lieblicher Versöhnung.“51 Im selben Atemzug machte er den „Politischen Rat geistiger Arbeiter“ nieder. Seine Ermahnung erging in direkter Anrede: „Proletarier, hütet euch vor ‚geistigen Arbeitern‘!“52
Nicht zufällig erinnerte Richard Müller in seinem historiographischen Werk an die sog. „Professoreneingabe“ von 1915, einen Text im Umfang von ca. 10 Seiten, der von zahlreichen Intellektuellen unterzeichnet wurde. Darunter waren: 325 Hochschullehrer, 148 Juristen, 145 Bürgermeister und höhere Verwaltungsbeamte, 158 Geistliche, dazu Parlamentarier und ranghohe Militärs. Müller merkt an, daß der Text 1915/16 unter den Arbeitern verbreitet worden sei zwecks revolutionärer Propaganda als Dokument, mit dessen Hilfe Stimmung gegen den Krieg und die Masse der Kriegsbefürworter gemacht werden konnte. Im Anhang druckt Müller den Text komplett ab, teilt dazu aber mit, daß er ihn bewußt nicht kommentiere. Er läßt ihn für sich selber sprechen. Von den „Feinden“ sagen die Unterzeichner, daß deren Pläne „bis zur Vernichtung des Deutschen Reiches gingen. Da haben wir Deutschen, einmütig vom Höchsten bis zum Geringsten, uns erhoben in dem Bewußtsein, nicht nur unser äußeres, sondern vor allem auch unser inneres, geistiges und sittliches Leben, Deutschlands und Europas Kultur verteidigen zu müssen gegen die Barbarenflut aus dem Osten und die Rache- und Herrschaftsgelüste aus dem Westen. …“ Es folgt der Katalog der vom Reich zu annektierenden Länder und Provinzen!53
Gertrud Bäumer warf damals den Intellektuellen vor, nicht die Aufgabe erfüllt zu haben, der Masse gerecht zu werden. In ihrer Selbstlebensbeschreibung zitiert sie aus dem Jahrgang 1919 ihrer Zeitschrift „Die Hilfe“ einen Beitrag, worin es heißt, die vergangene Gesellschaftsordnung habe „den Fluch der Masse“ herbeigeführt, und die Schuld treffe auch die „Führerschaft“, die den Massenmenschen „verkauft“ habe: „Eine doktrinäre Führerschaft hat seine dunkle Sehnsucht an ein äußeres Ziel verkauft, hat ihm die vertrocknende Seele mit dem Messer ihres programmatischen Materialismus schmerzlos entfernt, statt sie zu erquicken und wachsen zu machen. Die ‚Gebildeten‘, Geistigen sind in eine Welt verkapselt gewesen, aus der nur wenige die Liebe hinübertrug zu den anderen. Sie haben die Masse peinlich gefühlt, analysiert, gehaßt, verachtet, zuweilen gefürchtet, beklagt, gebrandmarkt – aber nicht überwunden.“54 Die verquollene Stilgebung des Texts läßt immerhin so viel erraten, daß der Vorwurf auf die sozialdemokratisch-sozialistischen Intellektuellen gemünzt ist; Lexeme wie „doktrinär“ und „programmatischer Materialismus“ deuten darauf hin.
In seinem propagandistischen Werk Mein Kampf poltert Adolf Hitler mehrfach gegen die „Intelligenz“. Für 1918 zeichnet er ein Bild, wonach das Volk in zwei Teile „zerrissen“ sei, „die breite Masse der handarbeitenden Bevölkerung“ sowie eine „weitaus kleinere“, „die Schichten der nationalen Intelligenz“ umfassend. Er beklagt: „Die sogenannte ‚Intelligenz‘ sieht ja ohnehin immer mit einer wahrhaft unendlichen Herablassung auf jeden herunter, der nicht durch die obligaten Schulen durchgezogen wurde und sich so das nötige Wissen einpumpen ließ.“55 Die Intellektuellen widerständen auch nicht den übelsten Zeichen der Zeit, der „Judenkrankheit“, der „Kulturschande“. „Da aber konnte man so recht die jammervolle Feigheit unserer sogenannten Intelligenz studieren, die sich um jeden ernstlichen Widerstand gegen diese Vergiftung des gesunden Instinktes unseres Volkes herumdrückte …“56 Was heißt bei ihm „Judenkrankheit“? Die Intelligenz ordne der Ausbildung des Körpers die intellektuelle über, die Bevölkerung degeneriere dann, wodurch in bestimmten Regionen der Boden für „die bolschewistische Welle“ geschaffen ist.57 Kaum vorstellbar, daß ein Autor dies hat drucken lassen können in der Meinung, eine so krude Auseinandersetzung mit der Intellektuellenfrage würde als seriöser Beitrag dazu in Betracht kommen.