Читать книгу Fanfaren einer neuen Freiheit - Heidi Beutin - Страница 6
Einleitung
ОглавлениеAls Titel des hier vorliegenden Buchs fungiert ein Wort von Kurt Eisner, der im November 1918 vor den Soldatenräten in München sagte: „Der Ton der Fanfaren einer neuen Freiheit, das fröhliche Herz will sich wieder betätigen.“1
Es war ein Dur-Klang zu Beginn einer Ereignisfolge, in die sich bald schon, im Dezember desselben Jahres, die ersten Moll-Klänge mischen sollten und worin am 21. Februar 1919 ein hinterhältiger Attentäter den Umstürzler ermordete, der die Initiative ergriffen hatte, Bayern zum Freistaat umzuwandeln.
In Berlin trifft am 9. November 1918 Hellmut von Gerlach, Journalist, liberaler Demokrat und Pazifist, den Sozialisten Karl Liebknecht. Ungeachtet der politischen Differenzen, die zwischen ihnen bestehen und beiden bekannt sind, ist ihnen die freudige Erregung an diesem Tage gemeinsam. Liebknecht sagt: „Gerlach – endlich die Freiheit!“2
Die Pazifistinnen und Frauenrechtlerinnen Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann erinnerten sich bewegt des Auftakts der Revolution, als auch sie hoffnungsvoll in die Zukunft schauten: „Zurückdenkend erscheinen die folgenden Monate wie ein schöner Traum, so unwahrscheinlich herrlich waren sie. Das schwer Lastende der Kriegsjahre war gewichen; beschwingt schritt man dahin, zukunftsfroh! Der Tag verlor seine Zeiten, die Stunde der Mahlzeiten wurde vergessen, die Nacht wurde zum Tage, man brauchte keinen Schlaf; nur eine lebendige Flamme brannte: sich helfend beim Aufbau einer besseren Gemeinschaft zu betätigen. … Das waren Winterwochen voller Arbeit, Hoffen und Glück.“3
Gegenwärtig wird man die Novemberrevolution nicht so leicht als schönen Traum klassifizieren, wie er diese Frauen vor einem Jahrhundert begeisterte. Vielmehr ist es mittlerweile gang und gäbe, die Revolution als von Anfang an unheilvoll umwölkt zu sehen. Es hat sich eingebürgert, sie in die Vorgeschichte der NS-Ära einzuordnen und von ihrem „Scheitern“ zu sprechen. Sie fügt sich so für manche Betrachter allzu gut ein in die Reihe der – tatsächlich oder vermeintlich – mißlungenen Umwälzungen in Deutschland, vom Bauernkrieg 1525 über 1848 bis 1918/19, angeblich unwiderlegbarer Beweise dafür, daß die deutsche Bevölkerung der Fähigkeit ermangele, in einer kollektiven Aktion für das Land die fortschrittliche Staatsform zu erstreiten, die andere europäische Nationen längst verwirklichen konnten. Jörg Berlin kam bei Sichtung der Forschungsbeiträge zur Revolution von 1918/19 in seinem Buch (1979) zu dem Schluß: „Das Interesse der meisten Autoren zielt mit dem Blick auf den Sieg des Nationalsozialismus auf die Frage, welche wesentlichen Vorentscheidungen in den Revolutionsmonaten für die Möglichkeit einer demokratischen Entwicklung Deutschlands fielen.“4 Oder unterblieben, – weil nicht fielen, nämlich verpaßt wurden, gar absichtlich verhindert worden sind.
Die negative Bewertung, so Alexander Gallus, scheine zwar zunächst plausibel, allerdings nur, wenn man vom Zeitpunkt des 30. Januar 1933 auf 1918/19 schaue. Dies verbiete sich methodologisch jedoch als „unzulässige Geschichtskonstruktion“, als „eine rückwärtsgewandte Teleologie des Scheiterns“.5 Was ging im Winter 1933 vor sich? In Köln beschloß eine Clique damals einflußreicher Männer um den Ex-Reichskanzler Franz von Papen, das Amt des Reichskanzlers an Hitler zu vergeben. War es eine Intrige? Jedenfalls keine historische Notwendigkeit.6 Wäre die Republik nicht durch die Diktatur abgelöst worden, hätte die „Teleologie des Scheiterns“ sich schwerlich ausbreiten können. Aber nicht die späteren Ereignisse entscheiden darüber, ob vierzehn bis fünfzehn Jahre zuvor die Novemberrevolution gelungen war, und das Gesamturteil über die erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik, läßt sich auch nicht von deren unglücklichem Ende ableiten. Es ist ebenfalls kein Zwang vorhanden, eine Tradition gescheiterter Umwälzungsversuche im Deutschen Reich zu konstruieren.
In der Moderne existiert in allen Kreisen der Bevölkerung eine allgemeine Vorstellung von dem, was unter einer Revolution zu verstehen sei, eine ungefähre Idee zumeist, aber zumindest eine verbreitete. Der Ausdruck selber drang seit Anfang der frühen Neuzeit durch, ohne daß er gleich stets in politischem Kontext verfügbar gewesen wäre. Der Reformator Martin Luther mußte, wie bekannt, nicht für seine Lehre bluten, brachte aber sein Erwachsenenleben nach dem Thesenanschlag bald in der Erwartung zu, es dereinst wie Jan Hus auf dem Scheiterhaufen beendigen zu müssen. Dabei wurde er im Laufe der Zeit sich selber zur „Idee“, oder vielmehr: in seiner eigenen Sicht wandelte er sich in eine Idee, zur Chiffre um, eine Metamorphose, die er im gleichen Atemzug auch seinem einstmaligen Anhänger, späteren Kontrahenten Thomas Müntzer angedeihen ließ. Ohne im Besitz der Begriffe zu sein, offerierte er dennoch eine sinnvolle Bestimmung der Sachverhalte „Revolution“ hier, „Reformation“ oder „Reform“ dort. In seiner Schrift Warnung D. Martin Luthers an seine lieben Deutschen (1531) traf er zunächst die Unterscheidung zwischen dem Aufrührer (oder Eroberer, Revolutionär) und dem Gesetzesübertreter: „… der heißt ein Aufrührer, der die Obrigkeit und das Recht nicht ertragen will, sondern greift sie an und streitet wider sie und will sie unterdrücken und selbst Herr sein und Recht erlassen, wie der Müntzer tat (der Eroberer ist etwas anderes als der Übertreter).“ Ja, Müntzers Name geriet ihm schlechterdings zur Bezeichnung für ‚Revolution‘. Einmal erklärte er, selber nicht „müntzerisch“ zu sein, also kein Umstürzler, kein Revolutionär. Den Obrigkeiten empfahl er indes grundlegende Reformen, wofür er als Merkzeichen seinen eigenen Namen gebrauchte. So mahnte er die zeitgenössischen Regenten: „Wiewohl mich auch zuweilen dünkt, daß die Regierungen und Juristen wohl auch eines Luthers bedürften.“ Sie sollten sich, wünschte er, der Reform also nicht länger sperren. Jedoch schätzte er die Adressaten pessimistisch genug ein, weshalb er eine Voraussage wagte, die durch die Revolutionen der frühen Neuzeit seit den Oraniern, den Hugenotten und Cromwell – im 16. und 17. Jahrhundert – bewahrheitet worden ist: „Aber ich befürchte, sie möchten einen Müntzer kriegen.“ [Alte Wortbedeutung: „möchten“ = ‚könnten‘.]7
Ein viertel Jahrtausend später war das Publikum in die Lage versetzt, mit der Anschauung zweier spektakulärer europäischen politischen Revolutionen den Begriff zu verbinden. Noch immer eignete ihm erst einmal die umfassende Bedeutung der ‚Änderung‘ überhaupt, spezifisch einer solchen in der Natur. So verzeichnet Adelung zum Lexem „Revolution“: „eine gänzliche Veränderung in dem Laufe oder der Verbindung der Dinge. So nennet man ungewöhnlich große Überschwemmungen, Erdbeben, welche große Landstriche verändern, Revolutionen in der Natur, die Reformation eine Revolution in dem menschlichen Verstande8. Besonders die gänzliche Veränderung in der Verfassung eines Reiches, wenn z.B. eine Monarchie in eine Republik, diese in eine Monarchie verwandelt, die Erbfolge auf eine gewaltthätige Art verändert wird. Die Englische, die Französische Revolution.“9 Ein Jahrhundert darauf findet man in einem Lexikon-Eintrag als Äquivalent des Lexems „Revolution“ zwar immer noch die ‚Umwälzung, Umdrehung‘ in der Natur (Astronomie), dann aber auch die Erweiterung: „jede gewaltsame Umgestaltung sowohl in der physischen Welt (Naturrevolution) als im politischen und sozialen Leben der Völker, insbes[ondere] die Umgestaltung einer bestehenden Staatsverfassung, welche widerrechtlich, d.h. mit Verletzung der Rechtsordnung des Staates, bewerkstelligt wird.“ Weiterhin präsentiert der Artikel an unterschiedlichen Bestimmungen: Reform im Gegensatz zur Revolution, Gewaltanwendung oder deren Fehlen, „Palastrevolution“ als Revolution ‚von oben‘ oder ‚von unten‘, Staatsstreich im Unterschied zur Revolution.10
In Nachschlagewerken der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist in der Regel ein weiteres – dann gewöhnlich vorrangiges – Definitionsmerkmal hinzugekommen, wenigstens stärker akzentuiert worden: der gesellschaftliche Umbruch, die soziale Revolution. Zwei mehr oder minder zufällig ausgewählte Beispiele: Drechsler definiert die Revolution: „Grundlegende – meist plötzliche und gewaltsame – Umwälzung der Gesellschaftsordnung; Gegensatz: Evolution.“ (Im Anschluß erweitert er seine Definition um den Bestandteil „Staats-“:) „Revolution im engeren Sinne bedeutet immer die radikale Umwälzung der bestehenden Staatsund/oder Gesellschaftsordnung.“ Der Verfasser unterscheidet an „äußeren Formen“: die gewaltsame – „als blutiger Bürgerkrieg“ – oder friedliche; die – „meist spontane – Massenaktion“, entweder „in Gestalt der klassischen Volksrevolution“ oder „als bewußte ‚Revolution von oben‘“; endlich eine, „die – über Palastrevolution und Staatsstreich hinausgehend – unter Einsatz der Machtmittel des Staates eine weitreichende Umgestaltung der politischen und/oder Gesellschaftsstruktur bewirkt“ – wobei er als Muster Bismarcks Reichseinigungskriege 1864–1871 heranzieht –.11 In dem in der DDR fast gleichzeitig entstandenen Kleinen Politischen Wörterbuch wird im Artikel „Revolution“ vor allem die soziale und sozialistische Revolution akzentuiert. Revolution sei: „grundlegende qualitative Umgestaltung der Gesellschaft als Ganzes oder einzelner, wesentlicher gesellschaftlicher Erscheinungen (z.B. die wissenschaftlich-technische Revolution, die R. auf dem Gebiet der Ideologie und Kultur usw.), eine der wichtigsten Phasen und Formen der Entwicklung. Unter einer sozialen R. versteht man einen qualitativen Sprung in der Entwicklung der Gesellschaft, in deren Ergebnis eine ökonomische Gesellschaftsformation durch eine andere abgelöst wird.“ Als deren Eigentümlichkeit erscheine: „Die sozialistische R. ist eine R. grundsätzlich neuen Typs. Ihr Ziel besteht darin, jede Form der Ausbeutung zu überwinden und die Entwicklung zur klassenlosen Gesellschaft einzuleiten.“ Von der Revolution streng zu unterscheiden seien die Konterrevolution, dazu außerdem auch Vorkommnisse wie: „bewaffneter Aufstand“ und „Bürgerkrieg“: Gelinge es der bereits entmachteten Klasse, „ihre Herrschaft zeitweilig wiederherzustellen, oder wenn sie diesen Versuch unternimmt, so spricht man von einer Konterr[evolution].“ Zahlreiche Aufstände und Bürgerkriege in der Geschichte seien nicht als Revolutionen zu bewerten, „weil sie nicht darauf zielten, eine neue sozialökonomische Ordnung zu errichten. Auf der anderen Seite sind R[evolutionen] auch ohne bewaffneten Aufstand, ohne Bürgerkrieg möglich.“12
Zumindest unter einem Aspekt existiert in den umstürzenden Vorgängen in Deutschland indessen eine Gemeinsamkeit: In allen ist die Mitwirkung Intellektueller bezeugt. Im Bauernkrieg befanden sich unter den Parteigängern der Aufständischen Wendel Hipler (um 1465–1526); Michael Gaismair (1532 ermordet); der zugleich predigend und dichterisch tätige Theologe Thomas Müntzer (um 1490–1525, hingerichtet) sowie einer der großen bildenden Künstler der Epoche, der Schöpfer von Schnitzaltären und Steinbildhauer Tilman Riemenschneider (um 1460–1531). An der Revolution von 1848/49 beteiligten sich Gelehrte aller Disziplinen in bedeutender Anzahl, darunter einige der bekanntesten Forscher der Epoche. Nicht wenige von ihnen wurden in die Deutsche Nationalversammlung gewählt, die in der Frankfurter Paulskirche tagte. Neu war 1918/19 gegenüber der älteren Zeit bloß, daß man sie nun regelmäßig mit dem seit etwa der Jahrhundertwende geläufig gewordenen Begriff als „Intellektuelle“ bezeichnete.
Der Untertitel des vorliegenden Buches lautet: „Deutsche Intellektuelle und die Novemberrevolution“. Es soll Aufschluß geben über die Partizipation von Männern und Frauen einer herausgehobenen soziologischen Schicht in einem bestimmten historischen Zeitraum und in einem nationalen Wirkungsbereich. Beabsichtigt ist nicht eine Monographie über ein historisches Ereignis, sondern es soll versucht werden, auf der Folie der Geschichte ein Tableau beteiligter Intellektueller zu entwerfen. Es ist als Beitrag gedacht zur schärferen Konturierung der Ereignisfolge vom Herbst 1918 bis zur Jahresmitte 1919 in Deutschland. Zu fragen ist: Wie spiegelt sie sich in Aktion, Gedankenwelt und Niederschrift zeitgenössischer intellektueller Persönlichkeiten wider? Der Fokus liegt primär auf denjenigen unter ihnen, die sich in den vielfältigen Vorgängen als Akteure hervortaten. Unter den zeitgenössischen Intellektuellen, die passive Zeugen der Revolution waren, wie auch unter den Akteuren sind seinerzeit einzelne zu Geschichtsschreibern der Vorgänge geworden.
Ferner wäre dasselbe Tableau als Beitrag zur „Intellektuellenfrage“ zu denken, zu einer älteren Diskussion also oder vielleicht sogar alten, antiken13. Sie ist gegenwärtig, zu Beginn des 21. Jahrhunderts erneut aufgeflammt. Im Juni 2007 brachte die Zeitschrift „Z“14 eine Auswahl von Abhandlungen zum Thema: Intellektuelle im Neoliberalismus. In seiner Untersuchung Der Intellektuelle der sozialen Frage erinnert hier David Salomon daran: „Der moderne Intellektuelle ist ein genuines Produkt des Bürgertums und seines Aufstiegs.“ Die „geistige Haltung“, die dem Intellektuellen zugeschrieben werde, habe Kant in die Formel gepreßt: „sapere aude“, ein Imperativ: habe den Mut, dich deines Verstandes „ohne Leitung eines anderen zu bedienen“.15 In der weiteren Geschichte zeige sich dann „als erste konsequente Erscheinungsform eines Intellektuellen der sozialen Frage“ der „Intellektuelle der Arbeiterklasse“, „der das Kantsche sapere aude aus seiner bürgerlichen Beschränktheit gelöst“ habe.16
Indessen treten von Zeit zu Zeit Kritiker auf, die in merkwürdiger Verwerfung ihres eigenen, doch auch intellektuellen Habitus die Legitimität des Intellektuellen anzweifeln, überhaupt dies Phänomen an sich. Wie vor einem Jahrhundert Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen, so ähnlich jetzt noch einmal der Schriftsteller Botho Strauß. Er prophezeit: „Alle Zukunftsträume, den Typus des Intellektuellen betreffend, sind schon deshalb Schäume, weil Intellektuelle von der Mutter aller Revolutionen zur Welt gebracht wurden und nun im Alter von über 200 Jahren als verbraucht und überlebt angesehen werden müssen; sie werden also wieder aus der Geschichte verschwinden.“ Intelligenz wäre in summa eine abgetane Sache: „die kritische, die durch Kommunikation ausgeleierte, erschöpfte, die immer im Ganzen überblickbare, die nie und niemanden überraschende Intelligenz“. Daraus ergibt sich für ihn seine antihumanistische Konfession: es solle Schluß sein mit dem „Kitsch der Toleranz, Kitsch des Weltweiten, Humankitsch, Kitsch der Minderheiten und der Menschenrechte, Klima-Kitsch und Quoten-Kitsch“.17 Damit bestätigt sich die historische Erkenntnis, die Peter Stein formulierte: „Es spannt sich also ein Bogen von den Debatten über die Neuheit und die Berechtigung des (später) sog. ‚universellen Intellektuellen‘ zur Zeit der Jahrhundertwende 1900 bis zu den Debatten über das Altgewordensein und über die Berechtigung, diesen Typus zum Jahrhundertende verabschieden zu können.“18
Einen zunächst von der Intellektuellenfrage getrennten Gegenstand, einen in der Öffentlichkeit, insbesondere in der Publizistik, Historiographie und Politologie vielfach erörterten bildet „die Revolution“, bilden sowohl die historische Erscheinung an sich als auch die einzelnen Fallbeispiele, dazu die Revolutionen ‚des Geistes‘, die „révolutions de l’esprit“, wie D’Alembert sie benannte, und wofür er zum Beleg die Renaissance, die Reformation, die moderne Philosophie seit Descartes und die Aufklärung anführte. Es sind die Perioden großer Umschwünge, worin beide Phänomene einander kreuzen, einander auffällig begegnend, die Revolution und die Intelligenz, in der Weise, daß Intellektuelle sich gefordert fühlen, mit der Revolution zu gehen, oder, diese abwehrend, die Konterrevolution aufzurüsten. Ein Kreuzungspunkt dieser Art war ebenfalls die Novemberrevolution in Deutschland.
Neu sind darin mehrere Aspekte. Einmal schon die größere Menge von Menschen aus geistigen Berufen, deren Auftreten durchaus nicht von allen Seiten mit Fassung wahrgenommen wurde, so wenn ein namhafter Wissenschaftler, Max Weber, gegen die involvierten „Literaten und Glaubenskämpfer“ polemisierte19. Als „Glaubenskämpfer“ karikiert Weber vermutlich in erster Linie diejenigen Intellektuellen, die sich der Arbeiterbewegung verpflichten sowie der sozialistischen Doktrin, die er als ‚Glaubensbekenntnis‘ betrachtet, und mit dem Wortbestandteil „-kämpfer“ rügt er ihre Streitbarkeit im Namen des Marxismus. Eine überproportionale Beteiligung von Künstlern monierten ihre Gegner insbesondere in der Bayerischen Räterepublik. Gern attackierte man die Trias Toller – Landauer – Mühsam, wie zuvor schon Eisner und seine Gründung des Freistaats. Worüber Thomas Mann – zu diesem Zeitpunkt einer ultrakonservativen Weltanschauung anhängig – am 8. November 1918 in seinem Tagebuch notierte: „München, wie Bayern, regiert von jüdischen Literaten.“20 Die größere Quantität erklärt sich aus dem Anwachsen der Schicht der Intelligenz seit etwa der Reichsgründung sowie der Zunahme der Künstlerschaft, spürbar in der Reichshauptstadt, aber vor allem auch in München.
Mit Hilfe welcher Kategorien können die beteiligten zeitgenössischen Intellektuellen und ihre damaligen Positionen beschrieben werden? Ein vergleichbares Problem ergibt sich in der Darstellung wichtiger Protagonisten jeder größeren historischen Bewegung, der Träger einer wechselhaften Ereignisfolge. Zuweilen wird nach dem Muster der Bildergalerie verfahren, indem eine Anzahl einzelner Porträts angefertigt wird. Sollten die Historiker, auch Literatur- und Kunsthistoriker, sich mit der bewährten Arbeitsweise begnügen und separat die Biographien jeweils einzelner wesentlichen Persönlichkeiten abfassen? Für eine Anzahl der an der Novemberrevolution Beteiligten gibt es sie. Aber für manche, über die man gern Näheres erfahren würde, ist das Fehlen zu beklagen, wie es Gerhard Engel im Fall des Matrosenführers Eugen Lieby feststellte. Lieby agierte in den Räterepubliken Cuxhaven und Bremen außerordentlich umsichtig, sehr kraftvoll, so daß ihm die Verteidiger der Hansestadt den Oberbefehl über ihre Streitkräfte übertrugen. Detaillierte Untersuchungen über Lieby und andere wären von großem Wert, so Engel, „da man aus dem biographisch erhellten Mikrokosmos Einzelner bedeutende Einblicke in den Makrokosmos der Entwicklungen während ihrer Lebenszeit zu gewinnen vermag.“21
Wer die systematisierende Analyse anstrebt, setzt sich leicht dem Vorwurf der Pedanterie aus. Und sie mißlingt oft. Ein Autor z.B. wie Kurt Hiller: bürgerlicher Herkunft, sein Leben lang kritisch den Arbeiterparteien gegenüber, wird in der Revolution in Berlin der Vorsitzende des Politischen Rates geistiger Arbeiter, etabliert sich danach als Pazifist, nennt sich selber Sozialist. Einer also, der in manche Schublade gepaßt hätte, doch in eine für sich gehört. Zweites Beispiel: Ernst Toller; ebenfalls bürgerlicher Herkunft, als Sozialist Mitglied der USPD, führend in der Münchener Räterepublik, als Pazifist zum Kommandeur der Räte-Armee in Bayern geworden, später in der „Gruppe Revolutionärer Pazifisten“ (GRP) aktiv, die Kurt Hiller führte. Sozialist, Räterepublikaner, Heerführer, Pazifist? Persönlichkeiten gleich diesen sperren sich augenscheinlich gegen jede Einordnung.
Dennoch, am weitesten scheint der Vorsatz zu führen, die zeitgenössischen Intellektuellen, die in der Novemberrevolution tätig wurden, experimentell in Gruppen zusammenzudenken, welche mit geschichtlichen, nachweislich institutionalisierten in eins fallen können, aber nicht müssen. Soweit sich Intellektuelle in der Tat den in der Realität existierenden Gruppen, Bünden, Vereinigungen oder Parteien usw. anschlossen, ist diese Zugehörigkeit ein Kriterium. Es kann jedoch nicht für sich allein in Betracht kommen, da auch andere Merkmale von Wichtigkeit sind, z.B. die politisch-philosophische Lehre des Protagonisten. Als Quellen eignen sich vorzüglich: Autobiographien und Biographien – darunter am wichtigsten: die zeitnah verfaßten –, Tagebücher, Briefwechsel, andere Niederschriften, gedruckte Artikel.
Die Befassung mit der Intellektuellenfrage schließt die Bemühung ein, zu erkunden wer oder was das ist, ein Intellektueller. Es existiert nicht ein Idealtypus mit einem gestanzten Lebenslauf, ein Musterexemplar, welches dann in der Regel dem Bürgertum entstammen sollte, um die konventionelle Laufbahn zu beschreiten: am liebsten aus ‚guter Familie‘, Gymnasium, Abitur, Universitätsstudium, Übernahme eines geistigen Berufs. Notwendig ist es daher zunächst, eine differenzierte Vorstellung des Intellektuellen zu gewinnen. In den Jahrzehnten um 1900 kommt einmal bereits der ausgebildete „Intellektuelle der Arbeiterklasse“ auf. Es gibt den Arbeiter aus Arbeiterfamilie, der sich – meist autodidaktisch – bildet und zum Intellektuellen ‚hinaufarbeitet‘. Daher entscheiden über die Zugehörigkeit zur Intelligenz nicht die Anfänge eines Menschen. Nicht die Stationen seiner Ausbildung bestimmen die Zugehörigkeit, sondern in erster Linie der erlangte persönliche Status in Verbindung mit einer mehr als durchschnittlichen individuellen Leistung.
Zur Ausstattung der Intelligenz rechnet der Besitz eines Bilds der Welt sowie eines Selbstbilds, eingeschlossen das Verständnis der Rolle in den Zeitverhältnissen, rechnet eine gewisse Autonomie im Tun – das kantische Postulat: sich seines Verstandes „ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, eventuell mit der zusätzlichen Funktion, andere zu leiten. Als Merkmal des Intellektuellen kommt häufig sein energisch eingreifendes Handeln in Betracht, das sich anfänglich meist als Kritik an ungerechten Beschlüssen von Institutionen sowie an der Praxis staatlicher Autoritäten äußert. Diesen Gesichtspunkt heben Drechsler u.a. in ihrem Lexikon unter dem Lemma „Intellektuelle“ hervor: „Häufig werden alle Personen als Intellektuelle angesehen, die einen geistigen Beruf ausüben. In der politischen Diskussion wird diese Bezeichnung jedoch vorwiegend auf jene Personen angewandt, die als Kritiker der Gesellschaft auftreten und dabei meist eine radikaldemokratische Position einnehmen. Viele von ihnen sind Schriftsteller und Wissenschaftler.“22 Maßstäbe setzten etwa Voltaire, der mit geistigem Elan die Gerichte Frankreichs zwang, das – bereits vollstreckte – Todesurteil gegen den nachweislich unschuldigen Jean Calas, das Opfer eines Justizmords, aufzuheben (Rehabilitation 1765), und später Émile Zola, der den Richtern, die das Unrechtsurteil gegen Dreyfus ausgesprochen hatten, sein „J’accuse“ entgegen schleuderte. Zu dem allen kommt als spezifisch für die Intelligenz hinzu: die Gewandtheit im sprachlichen Ausdruck, die überlegene Fertigkeit im Sprechen und Schreiben. In der deutschen Revolution 1918/19 zählten deshalb zu den bekanntesten Intellektuellen: Journalisten, Publizisten, Künstler, politisierende Schriftsteller und schriftstellernde Politiker (das Beispiel Walther Rathenau). Besonders zeichnete sich die Mentalität der am stärksten an den Ereignissen beteiligten Intellektuellen durch die Komponente außergewöhnlichen Mutes aus. Er manifestierte sich in ihren revolutionären Aktivitäten, wie überhaupt in der Opposition gegen überlebte politisch-gesellschaftliche Zustände, und in der raschen Aufnahme konstruktiver Tätigkeiten, u.a. in Form der Ausübung eines Mandats in Arbeiter- und Soldatenräten oder eines Amts in einer der aus dem Umsturz hervorgegangenen Regierungen. Im Ausnahmefall sogar in militärischer Tätigkeit (Ernst Toller, Friedrich Wolf, Max Hoelz).
Mit unscharfer Abgrenzung zur Intelligenz, als deren künstlerisches Seitenstück etablierte sich in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert die Bohème. Ein Anteil von ihr stellte sich an die Seite der Revolutionäre. Deshalb gehören einige Künstlerinnen und Künstler in das Tableau. Außerdem wirkten im politischen Milieu der Revolution und der nachrevolutionären Ära diverse Halb- oder Pseudo-Intellektuelle bzw. Personen mit angestrebtem, aber verwehrtem Künstlerdasein, als deren Prototyp ein Adolf Hitler gelten kann.
Wie für die Intellektuellen, so für die Revolution: Vermieden werden muß die Ansetzung eines Ideals, welches dann den Maßstab abgäbe dafür, was eine Revolution sei. So wurde vielfach die Französische Revolution als das überzeitliche Modell benutzt, um daran die folgenden Revolutionen zu messen, sogar auch frühere. Mit Abwandlung eines Hinweises von Sigmund Freud, man könne nicht sagen, was „die Frau“ ist, allerdings ermitteln, wie sie geworden sei: Man wird darauf verzichten müssen, a priori festzulegen, was „die Revolution“ wäre, dafür allerdings zu ermitteln suchen, wie ein revolutionäres Ereignis oder eine umstürzende Ereignisfolge zustande kam, wie diese verlief und welches Ergebnis sie zeitigte. Als Kategorien der Untersuchung bieten sich an: Revolution von oben oder Revolution von unten, Putsch, politische und soziale Revolution, bürgerliche oder Räterepublik, Aufstand, Gegenrevolution. Ob nun ein gewissermaßen punktuelles Ereignis eintrat, ob eine Sequenz mit mehreren unterschiedlichen Stufen, üblich ist, trotz aller Verschiedenheit im einzelnen den Geschehnissen die einebnende Bezeichnung „Revolution“ aufzuprägen.
Der Umsturz in Deutschland 1918 bildete nicht ein isoliertes Ereignis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er gehört in den Gesamtzusammenhang, den Eric Hobsbawm als „Das Zeitalter der Extreme“ charakterisierte, so wie auch die russische Revolution – die sich in Wirklichkeit in drei zerlegte: eine 1905, zwei im Jahre 1917 –. Um das Tätigkeitsfeld zu umreißen, auf dem sich die Intellektuellen bewegten, von denen die Rede sein soll, wird im I. Kapitel eine Übersicht über die Grundzüge der deutschen Revolution von 1918/19 vorangestellt. Äußerungen der Intellektuellen und zeitgenössische Beschreibungen der Vorgänge werden nach Möglichkeit den Quellen entnommen. Nicht anders in den nächsten Kapiteln. Vergleichend sind Ergebnisse der späteren Forschung und historische Darstellungen herangezogen worden. Allerdings kann kein Historiker bei der Fülle des Quellenmaterials und dem Ausmaß der wissenschaftlichen Literatur eine Vollständigkeit erreichen, nicht einmal eine annähernde. Das II. Kapitel enthält eine kursorische Auseinandersetzung mit den Aspekten der Intellektuellenfrage in der Diskussion zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
In den darauf folgenden Kapiteln wird es darum gehen, eine Auswahl der in der Revolution und Gegenrevolution mitwirkenden Intellektuellen gemäß ihrem vornehmlichen Wirkungsfeld und auch ihrem politischen Impuls zu präsentieren. Wegen der vorhandenen Materialmenge ist es unvermeidlich, in den Ausführungen nur bei einer Anzahl herauszuhebender Persönlichkeiten länger zu verweilen, bei den übrigen kürzer. Es ergeben sich vier größere Gruppierungen:
Kapitel III. Unterschiedliche Abschattungen: Intellektuelle in den bürgerlich-demokratischen und sozialdemokratischen Parteien, interessiert beobachtende Personen, Künstlerinnen und Künstler, Intellektuelle auf Seiten der Konterrevolution.
IV. Intellektuelle in Verbindung mit dem Aktivismus und Pazifismus.
V./VI. Radikale Vorstöße: Intellektuelle im Spartakusbund sowie in dessen Umkreis. Intelligenz im Verhältnis zu den Räten, die Räterepubliken und die Errichtung der Betriebsräte.
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Wir widmen dies Buch dem Andenken an hervorragende Persönlichkeiten aus der wissenschaftlichen Forschung, die verstarben. Dankbar sind wir der nachfolgend genannten Kollegin und den Kollegen, mit denen wir intensiv zusammengearbeitet haben:
Till Böttger, Leipzig; Walter Grab, Tel Aviv; Eberhard Hilscher, Berlin; Ursel Hochmuth, Hamburg; Thomas Höhle, Halle/Magdeburg; Ulrich Müller, Salzburg, und Gerhard Wagner, Berlin.