Читать книгу Fanfaren einer neuen Freiheit - Heidi Beutin - Страница 16
Arten der Betätigung Intellektueller in der Revolution
ОглавлениеIn der DDR erschien 1960 die Anthologie Vorwärts und nicht vergessen, mit dem Untertitel: „Erlebnisberichte aktiver Teilnehmer der Novemberrevolution 1918/19“.58 Es sind mit wenigen Ausnahmen weithin ‚Namenlose‘, die hier mit ihren Erfahrungen zu Wort kommen, Arbeiter und ehemalige Soldaten, die sich an Räten beteiligten und an Kämpfen, darunter z.B. ein Matrose der Volksmarinedivision, und Initiatoren und Verteidiger der Räterepubliken.
So interessantes Material in dem Band geboten wird, der Kreis „aktiver Teilnehmer“ ist allzu eng gezogen, er wäre zu erweitern. Gerade auch um die verschiedenen Gruppierungen Intellektueller. Versucht man eine Übersicht über die Arten ihrer Betätigung in der Revolution, so hebt sich einmal schon eine aufschlußreiche Antithese heraus: hier die Aktiven – dort die interessiert Zuschauenden; wobei außerdem zugleich vorhanden sein können: der beobachtende Teilnehmer ebenso wie der Beobachter im Übergang zum Handeln. Dazu sind neben den Revolutionären deren Feinde zu berücksichtigen, die Konterrevolutionäre. Denkende und Schreibende aller Kategorien in der Revolution waren unermüdlich, sich mit sich selber und mit anderen über ihren Status zu verständigen, wobei es meistens Aktive waren, die sich über die bloß Zuschauenden mokierten, während diese sich manchmal dafür rechtfertigten, daß sie passiv blieben. Franz Jung (1888–1963), ein Beweglicher, der gern unterwegs war, darunter in Rußland, gestand (1920): „Ich hasse die Leute, die hinterm Schreibtisch sitzen und durch Hornbrillen sich die Ereignisse belesen.“59 Stefan Großmann (1875–1935) ekelte sich vor den Enthusiasten der Revolution, die ruhig im Saal saßen und selber keine Hand rührten (1919): „Nichts Widerwärtigeres als diese jähe Revolutionsseligkeit der passiven Mitbürger, die bis nun von den Samtstühlen ihrer Zuschauerloge dem Ringen der anderen zugeschaut hatten.“ Er wählte für seine Einsicht die Formel: „Nie wird der eine revolutionäre Wirklichkeit meistern, der nur denkend am Ufer steht.“60
Leo Trotzki, in Rußland einer der energischsten Protagonisten, identifizierte spöttisch die Passiven mit den Opportunisten: „Während der Revolution ist der Aufenthalt auf der Mauer mit großen Gefahren verbunden. Im übrigen pflegen in unruhigen Augenblicken die Priester der ‚ausgleichenden Gerechtigkeit‘ gewöhnlich in ihren vier Wänden zu hocken und abzuwarten, auf wessen Seite der Sieg sein wird.“ Und sich selber stellte er bescheiden als Schreibenden vor, der sich in der Revolution betätigt hatte und sorgsam der Autorenpflicht genügte: „Der Umstand, daß der Autor Teilnehmer der Ereignisse war, enthob ihn nicht der Pflicht, seine Darstellung auf streng nachgeprüften Dokumenten aufzubauen.“61 In Deutschland intendierte Rosa Luxemburg, sie möchte „Teilnehmerin sein“, wie sie im Streit mit Kautsky bekannte (schon 1907), während dieser im Kontrast zu ihr darauf beharrte, er „wollte Zuschauer bleiben“.62 Graf Kessler amtierte während der Revolution kurzzeitig als deutscher Botschafter in Polen, und er hoffte, daß „man mich aber bei den polnischen Dingen auch heranziehen“ müsse: „Hier sitzen und nichts tun sei nicht meine Sache.“63 Über Eisners Einstellung vermerkte Helene Stöcker aus persönlicher Bekanntschaft, dieser so oft „verhöhnte Mann“ gehörte „zu den wenigen, die begriffen, was nottat“: „Immer wieder kam er von München nach Berlin herüber, um hier zu Klarheit und Mut anzufeuern, um der Erkenntnis, daß wir uns nicht länger durch Dulden und Stillschweigen, durch Tatenlosigkeit mitschuldig machen dürften, zum Sieg zu verhelfen.“ Man habe den Eindruck gewonnen, „daß hier ein Mann stand, der bereit war, für seine Erkenntnis auch sein Leben einzusetzen: eine Bereitschaft, die wir nicht bei allen Geisteskämpfern finden.“64 Erich Mühsam zeigte sich in seinem Rechenschaftsbericht Von Eisner bis Leviné als „einer von denen, die die Revolution in München vom ersten Tage an mit erlebt und zum Teil wohl auch in ihrem Verlauf beeinflußt haben …“; auch kokettierend schlicht als ein „mitwirkender Zeitgenosse“.65 Toni Sender bekannte, daß sie in der Revolution „im öffentlichen Leben eine aktive Rolle“ innehatte. Sie verlangte diese von den Frauen insgesamt: „Es ist immer meine Überzeugung gewesen, daß in einer freien Gesellschaft ohne die Mitarbeit der Frauen, zumindest ohne ihre Sympathie, keine tiefgreifenden sozialen Umwälzungen bewirkt werden können.“66 Für Ossietzky war „Herr Durchschnittsmensch“ förmlich ein Greuel: „Er hat alle Erschütterungen der Weltgeschichte überlebt, ist immer Gaffender gewesen, niemals Erlebender, immer Zeuge, niemals Blutzeuge.“67
Welches Motiv hätte der Beobachter? Entweder muß er von der Wahrheit dessen, was er sieht, überzeugt sein, oder von der Relevanz des Gesehenen und Erlebten, was ihn zum Niederschreiben drängt. Peter Martin Lampel antwortete, von seinem Chef befragt, was er beabsichtige (1921): „Nur immer schreiben, was ich wirklich sehe und was ich glauben kann. Nur das schreiben, was wahr ist.“68 Philipp Loewenfeld meint, was er vorlege, sei etwas wie „ein einzelner Zeugenbericht“, der dadurch seinen Wert erlange, daß „der Verfasser an einem Beobachtungsposten“ weilte, „an dem man zu gewissen Zeiten mehr Zusammenhänge sehen konnte, als an den meisten anderen Punkten der Welt, München …“69 Marcel Martinet redet in seinem Poem Dichter Deutschlands, o ungekannte Brüder … diejenigen an, die leiden „ins Dunkel geduckt“, weil „Euerer Seele Flügel gebrochen und gefesselt“ sind, „– Doch eure Augen sahen.“70 Im Geleitwort zu seiner Darstellung „Bilder aus dem Zuchthaus“ avisiert Felix Fechenbach: „Aber ich habe Augen und Ohren. Und was ich beobachtet, geschaut und erlebt habe, erzählen … diese Blätter.“71 Toller liest in der Haft Briefe von Männern, Frauen und Kindern und notiert, „ich beobachte ihre Nöte und ihre Freuden, ihre Schwächen und ihre Tugenden, wie herrliche Kräfte sind hier verschüttet.“72 Victor Klemperer kam zu dem Ergebnis (1920), „daß man nicht gleichzeitig bloßer Zuschauer sein kann, wenn man Deutscher ist.“73 Bei Beurteilung der Verhaltensweise eines Zeitgenossen, Hans Meyerhof, produzierte er eine innovierende Kategorie des Zuschauers: die Rolle, „um es paradox und doch am genauesten auszudrücken, eines aktiven Zuschauers“.74 Im Titel der „Spektator=Briefe“ von Ernst Troeltsch erscheint die lateinische Vokabel für die Tätigkeit des Beobachters (1918/20).
Endlich existiert noch die Position derer, die weder teilnehmen noch auch nur beobachten, die kein Ereignis zu sehen, keines zu wissen wünschen. Helene Stöcker richtete ihre Aufmerksamkeit am Jahrestag des 9. November (1919) auf eine Politik, die sich von der gegenwärtigen Entwicklung abwende, anstatt sie gestalten zu helfen: „So wissen wir heute, daß eine Vogelstraußpolitik uns nicht helfen kann, die an eine gesonderte Spezialarbeit, wie vor dem Kriege, glaubt und den Lauf der Welt ignorieren zu können meint.“75 Wenn ein Weg nicht beschritten werde, der aus der vorhandenen Situation herausführt, seien daran diejenigen schuld, die sich weigerten, von der Krise der Zeit Kenntnis zu nehmen: „Viel furchtbarer als alle Qual, alle Not dieser Tage scheint die Tatsache, daß ein so großer Teil der Menschen sich dessen, was sich begibt, gar nicht bewußt zu sein scheint. Aus diesem Nichtwissen, ‚Nichtmiterleben‘, vielleicht oft ‚Nichtwissenwollen‘ stammt sicherlich ein großer Teil unserer unseligen Verwirrung.“76