Читать книгу Einführung in das Werk Wolframs von Eschenbach - Heiko Hartmann - Страница 10
4. Die höfische Dichtersprache
ОглавлениеMittelhochdeutsch
Die Feststellung, dass die höfischen Epen auf Mittelhochdeutsch abgefasst wurden, ist erklärungsbedürftig, denn das Mittelhochdeutsche als überregionale Einheitssprache, wie sie uns in den einschlägigen Textausgaben Karl Lachmanns u.a. begegnet, hat es so nie gegeben. Mit mittelhochdeutsch wird die historische Sprachstufe des Deutschen zwischen ca. 1050 bis 1350 bezeichnet, die alle deutschen Dialekte umfasst, die an der Zweiten oder Hochdeutschen Lautverschiebung teilgenommen haben. Dies sind das Bairische und Alemannische sowie das Ost-, Rhein- und Mittelfränkische, d.h. alle südlich der Benrather Linie (maken/machen) gesprochenen Dialekte in Abgrenzung vom Niederdeutschen im norddeutschen Raum, zu dem das West- und Ostniederdeutsche sowie Westfälisch, Ostfälisch und Ostfriesisch gehören (vgl. Schmid 2009, 29–37 u. 51–56).
„Phantomsprache“
Wolfram hat vorwiegend die oberdeutsche Reimsprache (Fränkisch) verwendet, zuweilen finden sich bei ihm aber auch bairische Formen (vgl. Bumke 2004, 21f.). Wie andere höfische Autoren hat er damit einen Beitrag zur Ausprägung einer ‚höfischen Dichtersprache‘ geleistet, die ungeachtet der regionalen Zersplitterung des oberdeutschen Sprachraumes auf vorwiegend alemannisch-rheinfränkischer Grundlage einen gewissen Standard für die Schriftliteratur der Oberschicht setzte und durch die Vermeidung extremer Dialektformen vereinheitlichend wirkte. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass das Mittelhochdeutsche, wie es uns in den höfischen Epen begegnet, eine von ästhetischen Motiven geprägte stilisierte Kunstsprache ist, die zusätzlich dadurch relativ homogen erscheint, dass die Herausgeber des 19. und frühen 20. Jahrhunderts die in den oft erst Jahrzehnte nach der Abfassung der Texte geschriebenen Handschriften aufgefundenen Lautstände und Schreibweisen in ihren Editionen korrigiert haben, um so die ‚Originale‘ wiederzugewinnen. Das Ergebnis war ein normalisiertes Mittelhochdeutsch, das es so im Mittelalter gar nicht gegeben hat, aber dann wiederum Grundlage für Wörterbücher und Grammatiken wurde. Die moderne Linguistik spricht daher von einer „Phantomsprache“ (Schmid 2009, 34), deren von der frühen Germanistik (Jacob Grimm) angenommene allgemeine Geltung und Verbreitung eine „romantische Fiktion“ gewesen sei (Fleischer et al. 2001, 558).
Funktionsgebundener Soziolekt
Denn bereits ein Blick in wenige Wolfram-Handschriften zeigt, wie inhomogen die sprachliche Überlieferung hinsichtlich Graphie, Phonetik und Morphologie in Wahrheit ist. Am ehesten lässt sich noch im Bereich des Wortschatzes, des Satzbaues und der Stilistik von einer Einheitlichkeit der höfischen Dichtersprache reden. Sie blieb aber stets ein funktionsgebundener Soziolekt (vgl. Schmid 2009, 34), durch den sich die Hofgesellschaft von den nichtadeligen Gesellschaftsschichten abgrenzte und den die Dichter verwandten, um „überregionale Geltung“ zu erlangen und „überregionales Verstandenwerden“ zu gewährleisten (König 1983, 78). Die mittelhochdeutsche Literatursprache war insofern „das Kunstprodukt einer kleinen Gruppe von höfischen Literati“ (Robinson 2007,152) und kann daher nicht als Vorläuferin einer deutschen Standard- oder Hochsprache gelten, sondern blieb an die Ritterkultur gebunden, mit deren Ende auch sie wieder im Archiv der Sprachgeschichte versank (vgl. Bumke 1990, 27–30).
Wortschatz
Der Wortschatz der Dichtersprache ist neben dem Verzicht auf dialektale und alltagssprachliche Wörter sowie auf Bezeichnungen aus der älteren Tradition der (mündlich tradierten) Heldenepik vor allem gekennzeichnet durch eine Vielzahl französischer Lehnwörter und Lehnbildungen für zentrale Bereiche der ritterlichen Kultur, den Rückgriff auf den als vornehm geltenden mittelniederländischen Wortschatz, den Schmuck der Verse mit poetischen und rhetorischen Stilmitteln, die Vorbilder in der lateinischen Dichtung hatten, sowie die semantische Neubesetzung älteren Wortgutes im Sinne des höfischen Tugendkanons, z.B. Þre, mâze, sælde, triuwe usw. (vgl. Bumke 1990, 27f.; Bentzinger 1990; Schmid 2009, 248–252).
Wolframs Stil
Wolfram greift in seinen Werken all diese Tendenzen auf, nutzt sie aber zur Ausprägung eines sehr individuellen Stils (vgl. Bumke 2004, 21–29; Hartmann 2011, 146–161). So verwendet er z.B. viel häufiger als andere zeitgenössische Dichter heldenepisches Vokabular wie helt, degen, recke usw., möglicherweise um sich stilistisch von den gelehrten Kollegen abzugrenzen. Andererseits beherrscht er die französische Hofterminologie vollkommen. In der Verwendung von Fachwörtern des Turniers (vesperîe, poinder, rabbîn usw.), adeliger Textilien und Kleidung (zindâl, stivâl, kulter) etc. steht er Hartmann und Gottfried in nichts nach (auch wenn er – verständlich in einer Zeit ohne Wörterbücher – manchen französischen Terminus oder Namen falsch – oder gezielt originell? – einsetzt). Gerne streut Wolfram mittelniederländische Wörter ein (z.B. trecken, härsenier, gehiure) und erhebt alte Tugendbegriffe zu bedeutungsschweren Leittermini der Erzählung, besonders kiusche, riuwe und triuwe. Er gefällt sich in der Schöpfung neuer Wörter, die sonst nirgends belegt sind, z.B. gehundet (,mit einem Hund versehen‘, Titurel V. 136,2) oder selpschouwet (,offenkundig‘, Parzival V. 148,23) und erweist sich so immer wieder als Sprachkünstler, dessen Wortwitz oft nicht nur eine humoristische Intention erkennen lässt, sondern offenbar ganz gezielt Pointierungen, Visualisierungen und Mehrdeutigkeit stiften soll. Dazu passt auch Wolframs sprunghafte Syntax, die seinen ‚krummen‘ Stil (vgl. Willehalm V. 237,11) ausmacht, weil er, anders als etwa Gottfried von Straßburg, weniger Wert auf Eleganz legt als auf die Stiftung neuer Zusammenhänge und Bedeutungen, z.B. mit Hilfe von Ellipsen (unvollständigen Sätzen), Parenthesen (ergänzenden Einschüben) und Anakoluthen (Satzbrüchen).
Rhetorik
Die Lehren der Rhetorik beherrschte Wolfram durchaus, auch wenn er „den rhetorisch geschliffenen Stil verschmäht“ (Nellmann 1994, 415). Er konnte ihre Stilmittel, z.B. topische Beglaubigungs- und Brevitas-Formeln, bei Hartmann von Aue und Heinrich von Veldeke studieren. Gerne verwendet er etwa Pars-pro-Toto-Formulierungen (Synekdochen) vom Typ sîn ouge ninder hûs dâ sach (,sein Auge [er] sah dort nirgends ein Haus‘; Parzival V. 60,5), pointierende Umschreibungen (Periphrasen) für Figuren unter Auslassung des eigentlichen Namens wie ein wurzel der güete/und ein stam der diemüete (Herzeloyde; ebd. V. 128,27f.) oder den man noch mâlet für das lamp,/und ouchz kriuze in sîne klân,/den erbarme daz tâ wart getân (Christus; ebd. V. 105,22–24), die Reihung von Wörtern des gleichen Stammes (annominatio) wie der klingen alsus klungen (ebd. V. 69,16) oder die constructio apokoinu, bei der sich das mittlere Satzglied zugleich auf den vorausgehenden wie auf den nachfolgenden Satzteil bezieht (die wende gar behangen/mit spern al umbevangen, ‚[Er sah dort kein Haus,] bei dem die Wände nicht gänzlich mit Lanzen behangen und von diesen völlig umringt waren‘; ebd. V. 60,7f.). Besonders interessant sind die Beschreibungen (descriptiones) bei Wolfram, die er immer wieder durch Erzählerkommentare, Fragen an das Publikum, scheinbar unpassende Assoziationen usw. unterbricht und so jede Linearität und Einsinnigkeit kalkuliert unterläuft. Er beherrscht zweifellos alle Techniken, die die zeitgenössische Poetik und Rhetorik bereitstellt (und fordert), geht jedoch sehr frei mit ihnen um und variiert und modifiziert sie, um das Publikum konstruktiv zu irritieren und ihm abzuverlangen, aufmerksam einen verschlungenen erzählerischen Weg mitzugehen, der letztlich – im Einklang mit der sukzessiven Entfaltung und Reifung der Romanhelden – ein Erkenntnisweg ist (vgl. Nellmann 1973, 165–180).
Wolframs Verstechnik
Wenn Wolfram in den Sprachgeschichten also zu den Repräsentanten der ‚höfischen Dichtersprache‘ gezählt wird, dann müsste wenigstens ergänzt werden, dass er der eigenwilligste und originellste unter ihnen ist. Das lässt sich abschließend auch an seiner Verstechnik verdeutlichen (vgl. Kap. IV.4). Grundsätzlich verwendet Wolfram im „Parzival“ und im „Willehalm“ den vierhebigen höfischen Reimpaarvers, wie ihn vor ihm schon Veldeke und Hartmann gebraucht hatten. Aber er ordnet die Eleganz der Verse oft seiner Aussageabsicht unter, wenn er z.B. die Reinheit des Reims aufgibt, um interessante Wörter (und Bedeutungen) zusammenzuführen, wenn er exotische Namen, z.B. von Schlangen und Steinen, als Reimwörter wählt, um dadurch eine fremdartig-faszinierende Atmosphäre zu erzeugen, wenn er überfüllte, d.h. zu silbenreiche, Verse konstruiert oder mit harten Enjambements wirkungsvoll die Versgrenzen sprengt wie in getriwe und ellenthaft ein man/was Keie: des giht mîn munt (Parzival V. 296,22f.). Wolframs Reimsprache ist nicht immer regelkonform im Sinne der Schulpoetik, aber höchst effektiv im Sinne seiner Intention, „die Form in den Dienst des Inhalts, der Aussage, zu stellen“ (Hartmann 2011, 162).