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5. Aufführung und Verbreitung

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Orale Literatur

Höfische Epen wie Wolframs „Parzival“ wurden in der Regel vorgetragen, d.h., das Gros des Publikums hat die Erzählungen gehört, nicht in der Stille gelesen. Das ist ein wichtiger Unterschied zur üblichen Rezeptionssituation in späteren Jahrhunderten, als die Volkssprache als Literatursprache längst etabliert und in der Schriftliteratur weit verbreitet war – und es viel mehr Leser gab, die des Lesens und Schreibens überhaupt mächtig waren. In Wolframs Zeit besaßen zwar viele französische Fürsten (und insbesondere die Frauen am Hof) eine lateinische Bildung, aber in Deutschland waren viele Adelige, sogar Kaiser und Könige, oft Analphabeten. Die schriftgestützte Bildung lag noch weitgehend bei den Geistlichen. Viele im Mittelalter weit verbreitete Stoffe, z.B. Märchen, Legenden und Heldensagen, kamen aus einer jahrhundertealten mündlichen Tradition und wurden erst in der höfischen Zeit, also um 1200, zum ersten Mal aufgeschrieben. Es gab also auch zuvor eine reiche epische Überlieferung, nur war sie schriftlos (vgl. Bumke 1997, 596–617). „All das führt im Mittelalter zu einer kaum mehr vorstellbaren Bedeutung der mündlichen, akustischen Kommunikation, im täglichen Leben wie auch in der Überlieferung von Generation zu Generation“ (Wehrli 1984, 58).

Analphabetismus

Analphabetismus bedeutete keineswegs Kulturlosigkeit: Der Laien-Adel war durchaus an Heldenepik und geschichtlichen Stoffen interessiert. Nur gehörten Lesen und Schreiben noch nicht zwingend zum Kanon standesgemäßer adeliger Bildung. Wolfram verfasste seine Romane in einer noch weitgehend oralen Kultur. Nicht zuletzt deshalb konnte er sich selber als Analphabeten bezeichnen, was nichts Ehrenrühriges war, da er sich damit als ein seinem adeligen Publikum ebenbürtiger Ritterdichter auswies. Der „Parzival“ und der „Willehalm“ werden von einzelnen Gebildeten, insbesondere Damen, sicher auch in stiller Privatlektüre rezipiert worden sein, aber die Grundsituation blieb noch lange der öffentliche Vortrag (auf der Grundlage einer schriftlichen Vorlage) als „Hörliteratur“ (Wehrli 1984, 63).

Mittelalterliche Textrezeption

Diese Tatsache gilt es zu beachten, wenn mittelalterliche Literatur heute auf der Grundlage gedruckter Editionen interpretiert wird. Die zeitgenössischen Zuhörer konnten in der Regel nicht vor- und zurückblättern. Sie konnten den Text nicht wieder und wieder lesen und waren bei der Rezeption auf ihr Gedächtnis angewiesen (das besser gewesen sein dürfte als unser heutiges in einer Epoche des information overload). Zudem werden sie ein Tausende von Versen umfassendes Großepos kaum je ganz gehört haben. Zum einen dauerte es Jahre, bis es fertig war. Für Wolframs „Parzival“ geht man von ca. 10 Jahren aus (vgl. Nellmann 1994, 414; Bumke 1997, 679–685), d.h., über längere Zeit konnten überhaupt nur einzelne Partien stückweise vorgetragen werden, die womöglich nicht einmal in chronologischem Zusammenhang standen (vgl. Bumke 1997, 720). Zum anderen dauerte es gut zwei Wochen, um einen Roman wie den „Parzival“ an mehreren Abenden komplett aus einer Handschrift vorzulesen, wenn er denn überhaupt jemals vollständig dargeboten wurde. Manche werden mit dem Text auch nur punktuell bei Hoffesten o.Ä. in Berührung gekommen sein (vgl. ebd., 721–725). Schließlich brachte es der mündliche Vortrag mit sich, dass Texte je nach Aufführungssituation und -anlass variiert werden konnten, d.h. unfest waren, und dass das Publikum unmittelbar auf den Vortrag reagieren konnte, z.B. durch Fragen oder Zwischenrufe. Möglicherweise war manchmal bereits der Entstehungsprozess „ein fortlaufender Dialog des Autors mit seinem Publikum“ (ebd., 706).

Die mittelalterliche Seinsweise der Epen war somit eine völlig andere als die heutige Lektüre einer „Parzival“- oder „Willehalm“-Edition in Buchform. Die Texte waren als aufgeführte Texte dynamischer als fixierte Schrifttexte, und sie waren keine Privatangelegenheit. „Denn höfische Literatur war eine gesellige Veranstaltung; ihr Sinn lag in ihrer gemeinschaftsstiftenden und gemeinschaftsbestätigenden Funktion“ (ebd., 718). Diese Spezifik mittelalterlicher Literatur sollte Philologen u.a. davor warnen, mit subtilsten Theorien und abstraktesten hermeneutischen Konzepten an vormoderne Texte heranzutreten, die in einer flüchtigen mündlichen Kultur ihren Platz hatten und primär hörend und meistens lediglich fragmentarisch aufgenommen wurden.

Textproduktion

Die Forschung stellt sich die Genese der Werke Wolframs heute so vor, dass er den Grundtext zunächst auf Wachstafeln entwarf (oder diktierte; vgl. Gerhardt 2011, 596f.) und dieser dann nach und nach von einem Schreiber auf das wertvolle Pergament übertragen wurde. Möglicherweise erklärt sich so auch die Wolframs Epen kennzeichnende Textgliederung in Gruppen von 30 Versen, weil das genau die Textmenge war, die auf eine Tafel passte (vgl. Nellmann 1994, 415f.; Bumke 1997, 719f.). Ob die Handschriften nur in Klöstern und an Bischofssitzen oder auch an den Adelshöfen geschrieben worden sind, d.h. in den fürstlichen Kanzleien, ist unbekannt (vgl. Bumke 1997, 734–751). Die bei beliebten Autoren wie Wolfram sehr reiche Überlieferung beweist aber, dass die Handschriften, womöglich auf dem Weg der Ausleihe, im Auftrag wohlhabender Besteller vielfach abgeschrieben und die Texte so verbreitet worden sind. „Gemessen an der kleinen Zahl weltlicher Höfe, an denen der Literaturbetrieb schon vor 1200 begann, ist die Zahl der erhaltenen Handschriften aus dieser Zeit überraschend groß. […] Einige Epen sind offenbar weit gewandert. […] Die Förderer dieses literarischen Verkehrs dürften in erster Linie die fürstlichen Gönner und Auftraggeber gewesen sein“ (ebd., 738f.).

Einführung in das Werk Wolframs von Eschenbach

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