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II. Forschungsbericht 1. Die Anfänge der Wolfram-Forschung

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J.J. Bodmer

Wolframs Romane wurden vom mittelalterlichen Publikum überaus geschätzt. Das beweist die ungewöhnlich große Zahl überlieferter Textzeugen, die nur ein spärlicher Rest der einst im Umlauf befindlichen Handschriften sein dürften: „Parzival“ fast 90, „Willehalm“ fast 80. Um 1500 versiegte die handschriftliche Produktion, und gut 250 Jahre lang interessierte sich niemand mehr für Wolfram und seine Werke. (Literatur-)Geschichte verläuft eben nie linear, sondern sie unterliegt den Interessen und Vorlieben des jeweiligen Publikums. Erfolgreiche Bestseller-Autoren können nach kurzem Höhenflug für immer in der Versenkung verschwinden, längst vergessene Werke wiederum können eine Renaissance erleben, wenn eine spätere Zeit sie erneut ‚braucht‘. Dieses Schicksal teilt Wolfram mit zahlreichen heute berühmten mittelalterlichen Werken, z.B. mit dem „Nibelungenlied“. Er wurde erst im 18. Jahrhundert im Kontext des neu erwachten Interesses für das ‚deutsche Altertum‘ und seine ursprüngliche‘ Poesie wiederentdeckt (vgl. Bumke 2004, 255–257; Mertens 2011): 1748 veröffentlichte Johann Jakob Bodmer seine „Proben der alten schwäbischen Poesie des Dreyzehnten Jahrhunderts“, in denen er auch Auszüge aus Wolframs Tageliedern abdruckte. 1753 brachte er die (neuhochdeutsche) Nachdichtung „Der Parcival, ein Gedicht in Wolframs von Eschilbach Denkart, eines Poeten aus den Zeiten Kaiser Heinrichs IV.“ heraus, die sich auf den Straßburger Druck des Romans von 1477 stützte (vgl. Flood 1989) und nach den Vorbildern Homers und Klopstocks in Hexametern verfasst war, zwei Jahre später den „Gamuret“, 1774 dann die „Willehalm“-Bearbeitung „Wilhelm von Oranse“ (vgl. Gibbs 1989). 1784 gab Bodmers Schüler Christoph Heinrich Myller seine „Sammlung deutscher Gedichte aus dem XII., XIII. und XIV. Jahrhundert“ heraus, die neben anderen Epen auch den „Parzival“ in der Fassung der St. Galler Handschrift enthielt.

K. Lachmann

Für Jahrzehnte blieb dies die einzige Ausgabe des Gralsromans, bis 1833 der Berliner Altphilologe und Germanist Karl Lachmann (1793–1851) seine bahnbrechende Wolfram-Ausgabe auf der Grundlage der von ihm entwickelten historisch-kritischen Methode veröffentlichte, die bis heute – ungeachtet anderer Editionen, u.a. von Karl Bartsch (1870/71) und Albert Leitzmann (1902–1906), und partiell modifiziert durch Eberhard Nellmann (1994) und Bernd Schirok (2003) – die maßgebliche Standardedition geblieben ist (vgl. Schirok 2003, LXIX–LXXXI). Von Lachmann stammt u.a. die Einteilung der Epen in ‚Bücher‘, die Verszählung (Dreißiger-Abschnitte), die Aufgliederung der „Parzival“-Überlieferung in zwei Klassen (D, St. Galler Hs. Cod 857, u. G, Münchner Hs. Cgm 19) und die orthographische und metrische Normierung des mittelhochdeutschen Textes, oft gegen die Handschriften, was u.a. zu vielen, das Verständnis erschwerenden Kontraktionsformen geführt hat (z.B. im für ich im, sâbnts für des âbents usw.; vgl. Schirok 2003, LXXXII–LXXXVIII). Lachmanns Edition ist dennoch bis heute die Grundlage der gesamten Wolfram-Forschung. Nach seiner Verszählung wird zitiert, und alle neueren Übersetzungen und Ausgaben gehen von seinem Text aus, obwohl die Forschung um die Defizite weiß: „Insgesamt bleibt für eine Revision von Lachmanns Text noch viel zu tun. Solange indes ein großer Teil der Überlieferung gar nicht erschlossen ist, ist alles Bessern am Text nur Stückwerk“ (Nellmann 1994, 430).

Berner „Parzival“-Projekt

Erstmals seit Lachmanns Tagen wird derzeit an der Universität Bern unter der Leitung von Michael Stolz eine neue kritische Edition des „Parzival“ mit Hilfe philologischer und phylogenetischer Verfahren erarbeitet, die neben dem kritischen Lesetext auch digitale Faksimiles der Handschriften bietet (http://www.parzival.unibe.ch/home.html). Es wird aber voraussichtlich noch Jahre dauern, bis Lachmanns Text von dieser Neuedition abgelöst wird, und sie wird hoffentlich nicht nur eine komplexe, alle Varianten dokumentierende Spezialisten-Datenbank hervorbringen, sondern auch eine zuverlässige (zweisprachige) Leseausgabe in Buchform.

Lachmann hatte die Wolfram-Philologie mit seiner Ausgabe der drei epischen Werke und der Lieder auf eine solide Grundlage gestellt. Nun konnte auch die hermeneutische Arbeit beginnen, und sie hat in den letzten Jahrzehnten zu einer so reichen Forschungsliteratur geführt, dass sie ganze Bibliotheken füllen würde und von niemandem mehr überblickt wird. Der Leser findet am Ende dieses Bandes eine Auswahlbibliographie, die zur ersten Orientierung alle wesentlichen Editionen und Kommentare sowie wegweisende Monographien und Aufsätze verzeichnet.

Bibliographien

Die derzeit aktuellste Gesamtbibliographie – mit weit über 2000 Titeln! – bietet das Wolfram-Handbuch von Joachim Heinzle (vgl. Heinzle/Decke-Cornill 2011). Die Reihe „Wolfram-Studien“ der Wolfram-von-Eschenbach-Gesellschaft (1970ff., bisher 23 Bde.) enthält seit 1988 in jedem Band eine fortlaufende Bibliographie mit sämtlichen neu erschienenen Arbeiten. Ebenfalls hilfreich sind die Stellenbibliographie zum „Parzival“ von David Yeandle, die online zur Nutzung bereitsteht und den Zeitraum von 1753 bis 2004 erfasst (http://wolfram.lexcoll.net/index-CDversion.htm), sowie die stets aktuell gehaltene Literaturdatenbank der „Regesta Imperii“ (http://opac.regesta-imperii.de). Eine umfassende systematische Auswertung der älteren Forschung, besonders seit 1945, hat Joachim Bumke vorgelegt (Bumke 1970). Orientierende Auswahlbibliographien finden sich auch in der von Bernd Schirok herausgegebenen „Parzival“-Ausgabe (Schirok 2003, CXXXIX–CLVII), im Artikel ‚Wolfram von Eschenbach‘ des neuen „Killy Literaturlexikons“ von Christian Kiening (Kiening 2011), im einschlägigen Wolfram-Band der „Sammlung Metzler“ von Joachim Bumke (Bumke 2004) sowie in Bumkes Artikel ‚Wolfram von Eschenbach‘ im 10. Band des „Verfasserlexikons“ (Bumke 1999).

Literatur für Einsteiger

Für den Einstieg in Wolframs Dichtung empfiehlt sich vor der Lektüre des (sprachlich sehr anspruchsvollen) mittelhochdeutschen Originals zunächst die Annäherung über eine der aktuellen Übersetzungen. Die derzeit besten Übersetzungen des „Parzival“ stammen von Peter Knecht und Dieter Kühn, die sich in den zweisprachigen Ausgaben von Bernd Schirok (2003) bzw. Eberhard Nellmann (1994; jetzt wohlfeil als Taschenbuchausgabe im Deutschen Klassiker Verlag) finden. Der „Willehalm“ ist in einer hervorragenden Übersetzung von Joachim Heinzle (Heinzle 1991; jetzt ebenfalls als Taschenbuch) oder von Dieter Kartschoke (in Schröder/Kartschoke 2003) greifbar. Der „Titurel“ erschließt sich am besten mit der zweisprachigen Studienausgabe von Helmut Brackert und Stephan Fuchs-Jolie (2003). Sechs Lieder Wolframs hat Ingrid Kasten in ihrer Anthologie „Deutsche Lyrik des hohen und späten Mittelalters“ (Kasten 1995; ebenfalls inzwischen als Taschenbuch erhältlich) übersetzt und kommentiert. Um die Kontexte der Werke Wolframs zu verstehen, empfiehlt sich neben der Konsultation der bekannten literaturwissenschaftlichen Lexika („Verfasserlexikon“, „Killy Literaturlexikon“) das Studium wenigstens einer einschlägigen neueren Literaturgeschichte, z.B. „Die höfische Literatur der Blütezeit“ von Leslie Peter Johnson (Johnson 1999, bes. 324–365) oder Horst Brunners kompakter „Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters im Überblick“ (Brunner 2013, 206–219) bei Reclam. Als Sprungbrett in die speziellere Forschung seien dann neben der hier vorgelegten Einführung das bereits erwähnte Metzler-Bändchen von Joachim Bumke in der letzten noch von ihm selbst überarbeiteten Auflage (Bumke 2004) und das umfangreiche Handbuch zu Wolfram von Eschenbach von Joachim Heinzle in der günstigen einbändigen Taschenbuchausgabe (Heinzle 2014) empfohlen. Damit wäre ein erstes solides Fundament geschaffen, um tiefer in die komplexen Werke Wolframs, ihre Quellen und Entstehungsgeschichten sowie in Detailfragen der Interpretation einzusteigen.

Einführung in das Werk Wolframs von Eschenbach

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