Читать книгу Einführung in das Werk Wolframs von Eschenbach - Heiko Hartmann - Страница 7
I. Epoche und Literatur 1. Hofkultur und Literatur
ОглавлениеWeltliteratur
Wolfram von Eschenbach ist neben Hartmann von Aue, Heinrich von Veldeke und Gottfried von Straßburg der bedeutendste deutschsprachige Epiker des Mittelalters. Sein „Parzival“ gehört zur Weltliteratur, seine Minne- und Tagelieder setzen hinsichtlich Gehalt und Gattungsmerkmalen neue Maßstäbe, und seine hochkomplexe Poetik ist seiner Zeit weit voraus. Sowohl Wolframs Gralsroman als auch das Kreuzzugsepos „Willehalm“ sind faszinierende Werke der mittelalterlichen Literaturepoche und wertvolle Fenster in die vormoderne Kulturgeschichte. Insbesondere der „Parzival“ gehört unverändert zum literarischen Bildungskanon, u.a. durch seine Bearbeitungen für Film (H.-J. Syberberg), Musiktheater (R. Wagner) und moderne Erzählliteratur (A. Muschg). Die als erster deutscher Entwicklungsroman geltende große Dichtung ist ein fester Bestandteil des Germanistikstudiums.
Komplexe Erzähltechnik
Wolframs Werke zeichnen sich allerdings auch durch eine besondere Komplexität aus (vgl. Kap. IV.4). Sie sind gekennzeichnet durch eine eigenwillige Sprache, eine häufig jede Linearität bewusst vermeidende Erzählweise und ungewöhnliche Metaphern und Vergleiche. Hinzu kommen eine außergewöhnliche Dichte an historischen und literarischen Anspielungen, komplizierte Verwandtschaftsbeziehungen der Figuren sowie die hermeneutischen Herausforderungen einer Erzähltechnik, die bewusst auf die ständige Relativierung und Perspektivierung des Erzählten abzielt. Wolframs Werke bedürfen daher der Erläuterung und Kommentierung, damit sowohl allgemein an mittelalterlicher Literatur interessierte Leser als auch akademische Rezipienten einen historisch angemessenen Zugang zu diesen gut 800 Jahre alten Texten finden.
Komplex sind nicht zuletzt die diesen Texten zugrunde liegenden literaturgeschichtlichen Rahmenbedingungen, ohne deren Kenntnis das Verständnis der hochmittelalterlichen Erzählliteratur nicht möglich ist. Über sie muss zunächst gesprochen werden, denn die großen Epen der mittelhochdeutschen Literatur sind Teil und Ausdruck der höfisch-ritterlichen Kultur des Mittelalters. Ohne diesen besonderen kulturellen Kontext hätte es für Autoren wie Wolfram und Hartmann weder geeignete Produktionsbedingungen noch ein interessiertes Publikum gegeben, das um 1200 zu jener produktiven Epoche geführt hat, die die ältere Germanistik mit den Titeln „Mittelhochdeutsche Blütezeit“ und „Staufische Klassik“ ausgezeichnet hat.
hövesch
Hövesch bedeutete ursprünglich ‚zum Hof gehörig‘ und bezog sich auf den Fürstenhof. Das deutsche Wort ist eine Lehnbildung von afrz. cortois (lat. curialis). Zum Hof gehörten neben dem Herrscher die Mitglieder der Hofkapelle (Geistliche, Beamte, Richter, der Kanzler), die Inhaber der verschiedenen Hofämter, d.h. die adeligen Vasallen (Ministerialen), die z.B. die Ehrenämter des Truchsessen (Fürsorge für die fürstliche Tafel), des Marschalls (Aufsicht über Hofhaltung und Zeremoniell), des Kämmerers (Aufsicht über die Finanzen) und des Schenken (Aufsicht über Weinkeller und Weinberge) ausübten, sowie weitere Amtsträger und Bedienstete und deren Angehörige. Hinzu kamen temporäre Gäste wie Ritter und Soldaten, durchreisende Fürsten mit ihrem Gefolge, Spielleute, Handwerker, Händler, Förster, Wächter, Pförtner usw. (vgl. Ehrismann 1995, 103f.). Man schätzt, dass ein mittelalterlicher Hof, dessen Zusammensetzung sich ständig veränderte, mehrere Dutzend (Fürstenhof) bis mehrere Tausend (Kaiserhof) Personen umfassen konnte (vgl. Bumke 1997, 71–76 u. 700–704).
Residenzbildung
Könige und Fürsten waren mit ihrem Hof ständig unterwegs und übten ihre Herrschaft nicht von einem festen Regierungssitz aus aus. Zahlreiche erhaltene Pfalzen, Burgen und Reichsgüter zeugen noch heute von diesem Reisekönigtum, das auch in England und Frankreich bis ins hohe Mittelalter die übliche Herrschaftsform war. Erst im späten 12. Jahrhundert setzte allmählich eine Residenzbildung ein, als z.B. Heinrich der Löwe Braunschweig zum Mittelpunkt des Herzogtums Sachsen machte oder Heinrich II. in Wien eine neue Pfalz errichten ließ, um von dort aus das Herzogtum Österreich zu regieren. Die Bindung eines Hofes an einen festen Ort, etwa eine Burg oder eine Stadt, war eine wichtige Voraussetzung für die Entfaltung eines kontinuierlichen literarischen Betriebs, „weil der ortsfeste Fürstenhof als gesellschaftlicher und kultureller Mittelpunkt eine große Ausstrahlungskraft entfaltete. Die Ortsgebundenheit des Hofes erlaubte neue Formen der fürstlichen Repräsentation […] und auch neue Wege des literarischen Mäzenatentums“ (Bumke 1997, 76). Die Adelsburg bot den Epikern nicht nur die Möglichkeit, im Auftrag des Fürsten über viele Jahre an einem Werk arbeiten zu können, sondern hier fanden sie auch das gebildete höfische Publikum, das sich mit Geschichten von tapferen Rittern, edlen Minnedamen und prunkvollem Hofleben ebenso gerne unterhalten wie in seinem Selbstverständnis und seinen Idealen bestätigen ließ. An den Höfen fanden große gesellschaftliche Ereignisse statt, bei denen meistens auch Musiker und Dichter zugegen waren: Festmähler, Fürstenversammlungen, Hochzeiten, Krönungen und Turniere. Für die Entwicklung der volkssprachigen Erzählliteratur war diese Hofkultur von großer Bedeutung, denn indem sie Anlässe für die Produktion und den Vortrag von Minneliedern und epischen Gedichten schuf, wurde sie – wie im frühen Mittelalter die Handschriftenkultur der Klöster für die geistliche Dichtung – zum entscheidenden Antrieb für die Entwicklung und Verbreitung weltlicher Dichtung.
Ritterliche Standesideale
Die höfische Literatur war zugleich Stifter und Spiegel der Werte und Normen der höfischen Gesellschaft, die sich – vielfach inspiriert durch französische und italienische Vorbilder – durch eine aufwendige Sachkultur und spezifische Umgangsformen (hövescheit) von der nicht-adeligen Bevölkerung abzuheben suchte. Dazu gehörten die repräsentative Burgenarchitektur und aufwendige Kleidung ebenso wie das höfische Protokoll, Jagd und Turnier, glanzvolle Feste und feine Umgangsformen (zuht). Standesideale und Literatur gingen besonders dann eine enge Verbindung ein, wenn die Dichter im Auftrag fürstlicher Gönner schrieben, die ihnen die – zumeist französischen – Stoffe und Vorlagen verschafften. Die Beschäftigung mit Literatur wurde um 1200 an vielen deutschen Fürstenhöfen zu einem wichtigen Element der adeligen Lebenskultur und für die selbstbewusste laikale Oberschicht zum Instrument sozialer Distinktion. Artus- und Antikenromane, Heldenepen und Minnelieder hatten insofern immer auch „eine repräsentative, gesellschaftsstabilisierende Funktion, da die adlige Hofgesellschaft in dem poetisch überhöhten Gesellschaftsbild der Dichter eine Legitimierung ihrer eigenen gesellschaftlichen Leitvorstellungen sehen konnte“ (Bumke 1991, 1567; vgl. Goetz 1986, 169–172; Bein 1998, 44–48). Höfische Dichtung als „Symbolisierung der ritterlichen Standesideale“ (Ehrismann 1927, 24) erfüllte somit eine dreifache Funktion: Sie wollte unterhalten, gleichzeitig belehren (Didaxe) und schließlich einen Hof, einen Fürsten oder das ritterliche Ideal im Allgemeinen verherrlichen (Panegyrik).
Diese Funktionen erfüllten in ihrer Zeit auch die Epen Wolframs von Eschenbach, besonders der „Parzival“ und der „Willehalm“, die im Auftrag literaturinteressierter Fürsten wie des Landgrafen Hermann von Thüringen entstanden, dem Publikum mit ihrer Fülle an Figuren, Handlungssträngen und zuweilen exotischen Motiven ein unterhaltsames „Fest der Erzählung“ (Wehrli 1969, 209) boten und mit ihrer dominanten ethischen und religiösen Thematik auf je verschiedene Weise eine poetische Ritter-, Gesellschafts- und Glaubenslehre entfalteten. Nur in einer an volkssprachiger Literatur interessierten Hofkultur war die Entstehung eines so umfangreichen und anspruchsvollen Œuvres wie das Wolframs überhaupt möglich.