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3. Die ‚großen Fragen‘ der Wolfram-Forschung

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Aus der Vielzahl der Forschungsthemen der letzten 100 Jahre können hier nur wenige exemplarisch besprochen werden. Fünf Problemkreise waren dabei besonders dominant und haben ganze Forschergenerationen beschäftigt, z.T. ausgetragen in heftigen Debatten:

Kyot und die Quelle des „Parzival“

Kyot

Wolfram konstruiert im „Parzival“ eine der rätselhaftesten Quellenberufungen der Literaturgeschichte (vgl. Kap. IV.3). Die Beglaubigung des Erzählten durch Quellenberufungen ist in vielen Epen der Zeit durchaus üblich, z.B. nennt Gottfried von Straßburg im „Tristan“ die Version Thomas’ von Britannien als seine Vorlage und Ulrich von Zatzikhoven verweist auf ein welsches Buch, nach dem er den „Lanzelet“ bearbeitet habe. Doch während Wolfram im „Willehalm“ klar von einer französischen Vorlage spricht, die ihm Landgraf Hermann von Thüringen besorgt habe (vgl. Willehalm V. 3,8–11), erzählt er im „Parzival“ eine abenteuerliche Fabel:

Der begabte provenzalische Dichter Kyot, der meister wol bekant (Parzival V. 453,11), habe die Geschichte von Parzival in Toledo in einer fragmentarischen arabischen Fassung gefunden und sie dann ins Französische übersetzt (vgl. V. 416,20–30). Für die Entzifferung musste er eine Geheimschrift (der karakter âbc; V. 453,15) lernen, denn der Verfasser des arabischen Textes, der aus Salomos Geschlecht stammende Heide Flegetanis, hatte Zauberzeichen verwendet, aus denen nur ein Christ die heilige Geschichte vom Gral herauszulesen imstande war. Flegetanis war astronomisch bewandert und hatte Namen und Schicksal des Grals in den Planetenkonstellationen geschrieben gesehen. Kyot hatte nach dem Fund des Textes weitere Forschungen in lateinischen Chroniken angestellt und entdeckte in der Chronik des westfranzösischen Geschlechtes der Anjou die Geschichte der Gralssippe bis zu Anfortas und Herzeloyde, Parzivals Mutter (vgl. V. 453,11–455,22). Mit diesem Wissen vervollständigte er – und zwar besser als Chrétien (vgl. V. 827,1–11) – sein Werk, das dann Wolfram angeblich aus dem Französischen ins Deutsche übertrug. Soweit die mehrstöckige Quellenfiktion des Romans, mit deren Hilfe Wolfram „die Wahrheit der Parzivalgeschichte“ im Vergleich zu anderen höfischen Epen „überreich dokumentiert“ (Nellmann 1973, 57), wohl nicht zuletzt um zahlreiche von ihm weitgehend unabhängig von Chrétien komponierte Partien, etwa jene über Wesen und Geschichte des Grals, zu legitimieren (vgl. ebd., 59).

Guiot de Provins

Gab es Kyot aber womöglich wirklich? Darüber war man sich in der älteren Forschung keineswegs einig. San-Marte (1861) hielt Kyot für einen realen Dichter (vgl. Bumke 2004, 245) und identifizierte ihn mit dem Provenzalen Guiot de Provins (um 1200). „Wolfram könnte versucht haben, diesem Guiot einen nicht existenten Gralsroman unterzuschieben“ (Nellmann 1994, 651). Henry und Renée Kahane meinten, Kyot in dem Spanier Wilhelm von Tudela gefunden zu haben, der eine französische Albigenserchronik verfasste (vgl. Bumke 1970, 211). Weniger spekulativ waren die Thesen Herbert Kolbs (vgl. Kolb 1963), der die Ergänzung des Gralsthemas um heilsgeschichtliche Dimensionen im „Parzival“ auf den Gralsroman eines Kyot zurückführte, da Wolfram sie bei Chrétien nicht habe finden können (vgl. Bumke 1970, 226–230). Die Forschung hat allerdings bislang keine Indizien für die Existenz eines solchen Romans finden können. Kyot bleibt „der große Unbekannte der romanischen Literatur“ (Nellmann 1994, 665).

Quellenfiktion

Heute besteht daher Konsens darüber, dass es sich um eine fiktive Quellenangabe handelt, die aus verschiedenen Gründen gut zu Wolframs sonstiger Erzähltechnik passt: Sie stellt sich möglicherweise bewusst gegen die klassischen Quellenberufungen anderer Epiker und parodiert deren Gelehrsamkeit, umgibt die Gralsgeschichte mit einer Aura des Geheimnisvollen und Rätselhaften und autorisiert signifikante Abweichungen von Chrétiens „Perceval“ (vgl. Bräuer 1990, 267–269). Der Kyot-Exkurs ist somit selbst Teil der Erzählung und wertet die Gralsgeschichte durch die Konstruktion einer besonders numinosen, geradezu mythischen Herkunft auf (vgl. Mertens 2011a, 281f.). „Durch die Rückführung auf die französische Dichtung Kyots und auf deren Quellen, die arabische Sternkunde des Flegetanis und die lateinischen Anjou-Chroniken, gewinnt das eigene Werk eine historische Dimension, die in auffälliger Weise der Geschichte des Grals entspricht“ (Bumke 2004, 247). Damit verbunden ist zugleich die weit reichende Frage, wie ernst Wolfram diese „historische Dimension“ gemeint hat, d.h., ob er die Kyot-Erzählung nutzt, um den Realitätsgehalt des Gralsstoffes zu steigern, oder ob es ihm im Gegenteil gerade um die (augenzwinkernde) Ausstellung der Fiktion geht (vgl. Nellmann 1994, 423).

Der Gral

Gralskonzeption

Ebenso rätselhaft und vieldiskutiert wie Wolframs Quellen-Konstrukt ist die Herkunft seiner Gralskonzeption. Gegenüber Chrétien hat er entscheidende Veränderungen vorgenommen: Bei Wolfram ist der Gral ein geheimnisvolles dinc (Parzival V. 235,23), ein unbestimmter Stein mit dem rätselhaften Namen lapsit exillis (V. 469,7; dazu ausführlich Nellmann 2000; Bumke 2004, 139f.). Durch die Kraft einer jeweils am Karfreitag von einer Himmelstaube auf dem Stein abgelegten Hostie (vgl. V. 470,1–20) spendet er edle Speisen in Fülle und gibt damit einen Ausblick auf die Herrlichkeit des Himmelreiches (vgl. V. 238,3–239,7). Außerdem verleiht sein Anblick ewige Jugend (vgl. V. 469,14–27); deshalb kann auch der leidende Anfortas nicht sterben (vgl. V. 480,25–29). Der Gral wurde von den neutralen Engeln auf der Erde zurückgelassen (vgl. V. 454,24–26; 471,15–29). Man kann ihn nicht aktiv aufsuchen, sondern muss – bereits als Kind – zu seinem Dienst von Gott berufen werden (vgl. V. 468,10–14; 494,5–495,12). Offenbart wird die Berufung durch eine geheimnisvolle Inschrift (epitafum; V. 470,24) auf dem Stein, der auf der mächtigen Gralsburg Munsalvaesche von Gralsrittern (templeisen; V. 468,28) aus vielen Ländern, einer sündelosen und keusch lebenden rîterlîchen bruoderschaft (V. 470,19; vgl. V. 473,5–11), bewacht wird. Nur die Mitleidsfrage eines Berufenen, d.h. Parzivals, kann Anfortas, den schwerkranken Gralskönig, heilen (vgl. V. 483,20–484,12).

Chrétien

Bei Chrétien, Wolframs Hauptquelle, findet sich von alledem nichts. Im „Perceval“ ist der Gral eine goldene Schale, in der dem Vater des Fischerkönigs eine lebensverlängernde Hostie gebracht wird. Wichtige Details der rituellen Gralsprozession (vgl. V. 231,15–240,30) gestaltet und motiviert Wolfram ganz neu (vgl. Nellmann 1994, 573–575). In beiden Romanen geht es jedoch – wenn auch mit anderer Nuancierung – um eine Erlösungsfrage (vgl. Bumke 2004, 137f.).

Quellenkombination

Die ältere Forschung hat intensiv nach den Quellen gesucht, die Wolfram dazu gebracht haben, aus einer Goldschale einen Stein zu machen (vgl. u.a. Burdach 1938; Ranke 1946; Mergell 1951). Sicher ist nur: „Die Herkunft von Wolframs Gralsvorstellung bleibt ein Rätsel“ (Nellmann 1994, 422). Alle Versuche, die Gralskonzeption im „Parzival“ aus keltischen, orientalischen, spanischen, flämischen, lateinischen oder altfranzösischen Nebenquellen herzuleiten, sind letztlich spekulativ geblieben (vgl. den Überblick bei Bumke 1970, 198–235). Am Ende der Sammlung relevanter Motivparallelen bleibt zudem stets die Frage, wie Wolfram zu den teilweise entlegenen astrologischen und esoterischen (größtenteils fremdsprachigen) Texten überhaupt Zugang erhalten haben könnte. Die neuere Forschung geht daher davon aus, dass hier – wie auch in anderen Partien des Romans (z.B. Herzeloydes Drachentraum, vgl. V. 103,25–104,30) – eine im Detail unauflösbare „kühne Quellenkombination“ (Wehrli 1997, 306) vorliegt, durch die Wolfram ein universales „interreligiöses Symbol“ (Mertens 2011a, 282) erschafft, „das die verschiedenste Seelen-, Lebens-, Himmels- und Kosmossymbolik angereichert hat“ und in dem sich „feste Überlieferung immer wieder mit spontaner ‚archetypischer‘ Mythenbildung verbindet“ (Wehrli 1997, 313).

Das religiöse Problem: Parzivals Schuld

Parzivals dreifache Schuld

Am intensivsten hat die Forschung aber über Parzivals Schuld diskutiert, denn es ist nicht klar, worin sie eigentlich besteht (vgl. Kap. IV.5). Dieses Problem war von Anfang an eng verknüpft mit der Frage nach der theologischen Botschaft des Romans. Aufgeworfen hat sie Julius Schwietering (1944): In Anlehnung an Trevrizents Sündenregister (vgl. V. 465,7–18; 499,20–25; 501,1–5) unterscheidet er 1. Parzivals Schuld am Tod der Mutter, 2. den Mord an Ither (Verwandtenmord und Leichenraub), 3. die versäumte Frage auf der Gralsburg und 4. die Abkehr von Gott. All diese Sünden beruhen jedoch auf unbewusstem Versagen aus Nichtwissen, für die Parzival nur bedingt verantwortlich gemacht werden kann. Anders als bei Chrétien dreht er sich bei seinem Aufbruch nicht noch einmal um und erfährt daher erst von Trevrizent, dass Herzeloyde tot ist. Dass Ither sein Verwandter ist, weiß Parzival während des Kampfes gegen den rôten ritter noch nicht, und anders als bei Chrétien ist der Tod Ithers eher ein Unfall infolge der tumpheit des unerfahrenen Jungritters. Als Parzival auf Munsalvaesche nicht fragt, hält er sich nur an ein Gebot seines Erziehers Gurnemanz.

Triuwe

Wie vor ihm schon Mockenhaupt (1942) sieht Schwietering in der Verletzung der triuwe zu Gott (im Sinne der Liebe zum gekreuzigten Erlöser und des daraus entspringenden Mitgefühls für alles menschliche Leid) Parzivals größte Schuld, deren verhängnisvoller Ausdruck die Unterlassung der erlösenden Frage im Angesicht des von Leid gezeichneten Gralskönigs sei (vgl. Schwietering 1969). Andere Philologen sind zu abweichenden Gewichtungen gekommen (vgl. Maurer 1950; Mohr 1951/52; Wapnewski 1982).

Erbsünde

Hier wird man kaum je zu einer eindeutigen Entscheidung kommen können, sondern sich besser an die Aussagen des Textes selber halten: Trevrizent deutet im großen Religionsgespräch des 9. Buches Parzivals Sünden als Folge der Erbsünde, die die Menschen, sei es wissentlich oder unwissentlich, zwangsläufig schuldig werden lasse: von Adâmes künne/huop sich riwe und wünne,/sît er uns sippe lougent niht,/den ieslîch engel ob im siht,/unt daz diu sippe ist sünden wagen,/sô daz wir sünde müezen tragen (V. 465,1–6). Der schwache Mensch bleibe daher stets auf Gottes Gnade angewiesen, denn diu menscheit hât wilden art (V. 489,5), und er erlange sie durch Reue und Demut. So sieht es auch die neuere Forschung (vgl. Nellmann 1994, 421f.; Bumke 2004, 126–134), die zudem betont, dass die ethische Bewertung Parzivals aufgrund der genuinen Multiperspektivität des Romans, die dem Rezipienten in der Vielfalt konkurrierender Stimmen (Sigune, Cundrie, Trevrizent, Erzähler) die Suche nach einem eigenen Standpunkt abverlangt, grundsätzlich ohnehin jeder eindimensionalen Festlegung entzogen ist (vgl. Schirok 2011c, 417–425; Hartmann 2011, 193–196).

Die ‚Fehde‘ zwischen Wolfram und Gottfried

Gottfried als Antipode

Die ältere Forschung hat gerne Fehden zwischen mittelalterlichen Dichtern konstruiert, so auch im Falle Wolframs: Der hoch gebildete Stilist Gottfried von Straßburg und der fränkische Autodidakt hätten über ihre Texte eine poetische Konkurrenz, ja, sogar Feindschaft ausgetragen und sich gegenseitig zu übertrumpfen versucht (vgl. Klein 1954; Schröder 1957; Schröder 1958; Wapnewski 1963; dazu kritisch Ganz 1967; einen Forschungsüberblick bieten Bumke 1970, 81–88; Nellmann 1988; Nellmann 1994a).

Bickelworte

Auf welchen Hinweisen fußt die Fehde-Theorie? Im „Tristan“ lobt Gottfried in seinem Literaturexkurs Hartmann von Aue wegen seiner hohen Dichtkunst und sprachlichen Klarheit und erkennt ihm metaphorisch den Lorbeerkranz zu (vgl. Tristan V. 4621–4637; ed. Ranke). Von Hartmann grenzt Gottfried dann scharf effekthascherische Autoren ab, die wie ein Hase uf der wortheide/hochsprünge und witweide/mit bickelworten (,Würfelworten‘; V. 4639–41) vollführen, sich als betrügerische vindære wilder mære (,Erfinder regelloser Erzählungen‘; V. 4665) erweisen und dem Publikum eigentlich tiutære (,Ausleger‘; V. 4684) mitgeben müssten, damit es deren kryptische Texte ohne Zuhilfenahme von Geheimglossaren (swarzen buochen; V. 4690) überhaupt verstehen kann. Namen nennt er nicht.

Gottfrieds Stilkritik

Möglicherweise spielt Gottfried, dessen „Tristan“-Fragment die Forschung auf 1210 datiert, hier auf den sprunghaften Stil und die originellen Wortkreationen Wolframs an. Einzelne Wörter könnten sogar direkte Anspielungen auf den „Parzival“ sein, z.B. auf den Prolog, in dem Wolfram all jene verspottet, die seinem wie ein hakenschlagender Hase gedanklich umherspringenden Elsterngleichnis (vgl. Parzival V. 1,15–19) nicht zu folgen vermögen, oder auf den schon erwähnten Kyot-Exkurs, in dem es heißt, der Gelehrte habe die Gralsgeschichte in Toledo, der „Hochburg der Zauberei“ (Nellmann 1994, 665), in einer arabischen Urfassung gefunden und diese – allerdings ohne (!) Zuhilfenahme schwarzer Künste (ân den list von nigrômanzî; V. 453,17) – zu entziffern gelernt. Gottfried würde dann subtil auf den „Parzival“ reagieren und Wolframs „Erzählform des Verschweigens und späteren Enthüllens, die er zum Teil provozierend handhabt und an einer Stelle auf Kyot zurückführt“ (Nellmann 1988, 67), kritisieren. Die neuere Forschung schließt daher ein „wechselseitiges Reagieren der beiden Konkurrenten aufeinander“ aus und postuliert, dass Wolframs Roman „weitgehend (wenn nicht vollständig) fertig [war], als Gottfried darauf reagierte“ (Nellmann 1994a, 466). Es gab also keine Fehde, die polemische Distanzierung war einseitig (vgl. Hartmann 2011, 212). Das „Bild eines großen menschlichen Dramas“ (Bumke 1970, 82), das die ältere Forschung noch gezeichnet hatte (bes. Klein 1954), muss als überholt gelten.

Das ‚humane‘ Heidenbild im „Willehalm“

Heiden und Christen

Wolfram gilt in sprachlicher und poetischer Hinsicht als besonders eigenständiger mittelalterlicher Dichter, und dies lässt sich auch für ein zentrales Thema des „Willehalm“ sagen: für die ungewöhnlich respektvolle Bewertung der Heiden und ihrer Religion, für die die Forschung sogar den modernen Begriff ‚Toleranz‘ bemüht hat (vgl. Kap. VI.5). In der Tat ungewöhnlich ist die ritterliche und menschliche Ebenbürtigkeit zwischen Heiden und Christen, die Wolfram etwa im Vergleich zum „Rolandslied“ in seinem Kreuzzugsepos, aber auch schon im „Parzival“ (vgl. die Feirefiz-Figur), ausdrücklich hervorhebt. Die Heiden pflegen hier ähnliche Tugenden, schätzen dieselbe feudale Prachtentfaltung und sind ebenso tapfer und kampferprobt wie die Christen, auch wenn Wolfram am Ende keinen Zweifel daran lässt, dass ihre Religion, der (von ihm als Polytheismus beschriebene) Islam, verdammenswert ist (vgl. Hartmann 2013). Besonders beschäftigt hat die Forschung insbesondere die sog. ‚Toleranzrede‘ Gyburgs, der zum Christentum konvertierten Frau Willehalms (vgl. Willehalm V. 306,2–310,29). Gyburg ermahnt darin die Christen, die Heiden in der Schlacht zu schonen, denn auch sie seien gotes hantgetat (,Geschöpfe aus der Hand Gottes‘; V. 306,28), und auch die großen Gestalten des Alten Testaments (Adam, Noah, Hiob usw.) seien schließlich allesamt Heiden gewesen: wir waren doch alle heidnisch e (V. 307,25).

Humanismus im Mittelalter?

Die Forschung hat lebhaft darüber diskutiert, ob dieses heilsgeschichtlich begründete Schonungsgebot bereits als mittelalterlicher Humanismus gedeutet werden kann. Vor allem die ältere Germanistik meinte, in Wolfram einen frühen Kämpfer für eine die Religionen übergreifende christliche Humanität zu erblicken (vgl. Richter 1956, 23–33; Wentzlaff-Eggebert 1960, 247–277; Wehrli 1997, 321–323). Joachim Heinzle hat – wie zuvor schon Alois Haas (vgl. Haas 1964) und Karl Bertau (vgl. Bertau 1983) – dagegen deutlich ausgesprochen, dass Gyburgs Appell nicht als „Bekenntnis zu Pazifismus und Toleranz im modernen Sinn“ gelesen werden darf, sondern lediglich „verlangt, die Heiden als Menschen – als ritterliche Gegner – zu achten und im und nach dem Kampf entsprechend zu behandeln, d.h. sie nicht nach traditioneller Kreuzzugsideologie niederzumachen wie ‚Vieh‘“ (Heinzle 1991, 1023). Noch dezidierter äußerte sich jüngst Jerold C. Frakes, der jedwede Rede über humanistische Toleranz im Mittelalter ablehnt und Wolfram gar Rassismus vorwirft (Frakes 2011, 61). Im Kern geht es bei der Debatte um die Frage, ob es Wolfram bereits möglich (und von ihm intendiert) war, den Begriff der Gotteskindschaft gegen die theologische Lehre seiner Zeit auch auf die Heiden auszudehnen (vgl. Schnell 1993; Knapp 1993; Heinzle 1994; Knapp 2000). Timothy McFarland hat zu Recht davor gewarnt, diese große geistesgeschichtliche Frage ohne Berücksichtigung der eigentlichen narrativen und poetischen Funktion des Schonungsgebotes und seines Ortes im Text zu erörtern, denn primär geht es Gyburg ja nicht um Theologie, sondern um den Schutz ihrer Verwandten, und insofern hat ihre Rede zutiefst persönliche und emotionale Motive (vgl. McFarland 2002).

Einführung in das Werk Wolframs von Eschenbach

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