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2. Perioden der Wolfram-Forschung
ОглавлениеAnsätze zu einer Forschungsgeschichte
Es ist nicht leicht, einen konzisen Überblick über die Wolfram-Forschung zu gewinnen. Dies hat mit der Fülle der in den letzten Jahrzehnten diskutierten Themen zu tun, aber auch mit Besonderheiten, die Joachim Bumke bereits 1970 in seinem Forschungsbericht benannt hat: Seiner Einschätzung nach „scheint sich die Wolframforschung einer historischen Deutung nicht gerade zu bequemen, weil sie viel weniger von dem Kampf um die Entwicklung der wissenschaftlichen Methoden bestimmt worden ist als die Nibelungenforschung und weil in ihr die großen Einschnitte nicht so deutlich hervortreten wie etwa in der Waltherforschung. Es ist kein Zufall, dass es zu einer Geschichte der Wolframforschung – die eine lohnende Aufgabe bleibt – nur erst Ansätze gibt“ (Bumke 1970, 10). Diese Aussage gilt noch heute unverändert. Erschwerend kommt hinzu, dass die frühe Wolfram-Forschung primär „Parzival“-Forschung war; der „Titurel“, der „Willehalm“ und die Lieder wurden lange Zeit nur am Rande behandelt, d.h., die Forschungsdiskussion verlief für die vier Werkteile asynchron und mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten. Der „Willehalm“ wurde wegen seiner „spröderen Eigenart“ (ebd., 313) in seiner literaturhistorischen Bedeutung erst in den 1970er-Jahren wirklich entdeckt und durch neue Editionen und Studien erschlossen. Der folgende Überblick ist daher notgedrungen nicht mehr als ein Aufriss, der nur die wichtigsten Phasen der Wolfram-Forschung skizzieren und exemplarisch repräsentative Forschungsarbeiten nennen kann, die der weiteren Diskussion den Weg gewiesen haben (und auch heute noch philologisch relevant und zitierwürdig sind).
Biographie und Quellen
Nachdem Karl Lachmann 1833 seine „Parzival“-Ausgabe veröffentlicht hatte, bemühte sich die Forschung zum einen zunächst vor allem um die Lösung editionsphilologischer und linguistischer Detailprobleme, zum anderen um die Erhellung der Biographie Wolframs. Im Zentrum standen u.a. die Klärung von Quelle und Bedeutung der vielen in die Epen eingegangenen Personen- und Ortsnamen (vgl. San-Marte 1857; Bartsch 1875; Fourquet 1949). Die frühe Germanistik interessierte sich besonders auch für die Herkunft des Dichters, seinen Stand und die Hintergründe seiner Bildung (bzw. seiner angeblichen Unbildung), und es waren anfangs vor allem passionierte Lokalforscher, die Licht ins Dunkel der Biographie Wolframs brachten (vgl. San Marte 1836; Schreiber 1922; Kurz 1930).
„Parzival“-Kommentare
In die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts fällt auch das Erscheinen des bis zu Eberhard Nellmanns Kommentar (vgl. Nellmann 1994) maßgeblichen Stellenkommentars zum „Parzival“ im zweiten Band der „Parzival“-Edition Ernst Martins (vgl. Martin 1903), der heute zwar veraltet, aber wegen seiner Quellenbelege und sprachlich-grammatikalischen Erläuterungen noch immer wertvoll ist. Dasselbe lässt sich von dem – allerdings erheblich knapperen – Kommentar von Martha Marti in der vierten Auflage der „Parzival“- und „Titurel“-Edition des Rostocker Germanisten Karl Bartsch sagen (vgl. Bartsch/Marti 1927), der sich vor allem auf lexikalische Hinweise und die Nennung von Vergleichsstellen konzentriert.
Es waren dann vor allem drei weitere große Themenkreise, die die ältere Forschung beschäftigten: Zum einen die Frage nach Wolframs (u.a. orientalischen) Quellen und dem Realitätsgehalt seiner Berufung auf einen (bis heute unbekannten) Kyot als Verfasser seiner Vorlage (vgl. Panzer 1940; Mergell 1943; Kolb 1963), zum anderen das Problem der außergewöhnlichen Konzeption des Grals im „Parzival“ und ihrer Lokalisierung in der europäischen Tradition (vgl. Golther 1925; Weber 1928; Singer 1939; Ranke 1946; Mergell 1951).
Primat des Religiösen
Bis weit in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts hinein dominierte allerdings ein drittes Thema: die Analyse von Wolframs Ethik, seiner Frömmigkeit und der Konformität der im „Parzival“ vermittelten Glaubensinhalte mit dem kirchlichen Dogma (vgl. Sattler 1895; Mockenhaupt 1942; Schwietering 1944; Wapnewski 1955; Koppitz 1959). Joachim Bumke stellt in seinem Forschungsbericht fest: „Die Wolframforschung der ersten Jahre nach 1945 ist durch eine erstaunliche Geschlossenheit gekennzeichnet. In ebenso imponierender wie monomaner Einseitigkeit rang man ein Jahrzehnt lang um die Beantwortung einer einzigen Frage – der von Schwietering formulierten Frage nach Parzivals Schuld – und vernachlässigte darüber nicht nur die anderen Parzivalprobleme, die noch der Lösung harrten, sondern auch die anderen Werke Wolframs“, und dies auf der Basis der Annahme, „dass der Parzival eine zutiefst religiöse Dichtung ist, deren Geheimnisse sich mit Hilfe der mittelalterlichen Theologie entschlüsseln lassen“ (Bumke 1970, 11). Ritterliche Laiendichtung wurde dadurch für lange Zeit allzu einseitig „durch die Brille theologischer Gelehrsamkeit“ (ebd.) betrachtet, nicht zuletzt motiviert durch die heute nicht mehr aufrechtzuerhaltende Prämisse, das Mittelalter sei eine ideell homogene, in allen Lebensbereichen vom christlichen Glauben und seinen Geboten vollständig durchdrungene Epoche gewesen. Es dauerte bis in die frühen 1980er-Jahre, bis sich der theologische „Pulverdampf“ (Nellmann 1994, 421) auf dem Feld der Wolfram-Philologie verzogen hatte und wieder eine weniger fromme Würdigung des „Parzival“ als Artus- und Gralroman und der religiösen Bildungsvoraussetzungen seines Verfassers möglich wurde. Dadurch kamen auch die vorher zu Unrecht ausgeklammerten Gahmuret- und Gawan-Partien wieder in den Blick (vgl. Mohr 1958), und der Aspekt der ethischen Mehrdeutigkeit und Relativität in Wolframs Epen geriet neu in den Fokus der Forschung und trug nachhaltig zum modernen Wolfram-Bild bei (vgl. Bumke 2004, 125f.).
W.J. Schröder
Die eingleisige Lesart der theologischen Periode (vgl. Bumke 1970, 150–176) sei exemplarisch an dem Buch „Der Ritter zwischen Welt und Gott“ von Walter Johannes Schröder illustriert (vgl. Schröder 1952). Schröder versucht, „den Gehalt des Ganzen“ des „Parzival“ zu erfassen und „zum Kerne der Dichtung zu gelangen“ (S. 9). Diesen findet er im „Gralsmysterium“ (S. 10), das er mit der kirchlichen Liturgie und Sakramentenlehre vergleicht. Parzival spiele darin zugleich die Rolle des Gläubigen und Priesters (S. 56). Wolfram entwerfe eine unkirchliche „Gralsreligion“ (S. 77), die gleichwohl Anleihen beim „Mysterium der Eucharistie“ (S. 81), der Lebensweise mittelalterlicher Mönchsorden und der Mystik und Kreuzzugsideologie Bernhards von Clairvaux mache. Wie Bernhard sei auch Parzival „Priester und Mönch“, er durchlaufe auf seinem dem Stufengang „altchristlicher Passionsmystik“ (S. 127) nachempfundenen Entwicklungsweg eine „priesterliche Schule“ (S. 101), spende mit der Mitleidsfrage auf der Gralsburg das erlösende Sakrament und erweise sich im Frauendienst als „Priester am Sakrament der Minne“ (S. 170). Um in Parzival das Ideal der harmonischen Vereinigung von Frömmigkeit und Ritterideal inszenieren zu können, reduziere Wolfram einerseits das Christentum „auf die Verwirklichung der ethischen Liebesidee“ (S. 142) und postuliere andererseits ein „Weltleben […] stufenweise wachsender Heiligkeit“ (S. 145) mit dem eucharistischen Gral als Mittelpunkt. Dadurch vergeistige Wolfram das Rittertum (vgl. S. 146) und entwerfe ein freireligiöses „mittelalterlich-mönchisches Christentum augustinisch-anselmischer Prägung“ (S. 148). Der „Parzival“ gehöre daher in die Tradition der „Bekehrungsliteratur“ (S. 260).
Grenzen der religiösen Interpretation
Es liegt auf der Hand, dass eine solche vom „Vorrang des Religiösen“ (Schwietering 1969, 371) ausgehende Deutung, die nicht davor zurückschreckt, den Roten Ritter zum Priester (!) zu stilisieren, dem vielschichtigen Roman nicht gerecht werden kann. Sie ebnet alle Widersprüche und Mehrdeutigkeiten unzulässig ein und macht die bewusst polyphone Erzählung zu etwas, was sie nicht ist: zu einem philosophisch-theologischen Traktat. Schröders in der Nachkriegszeit entstandenes Buch demonstriert eindrucksvoll, dass auch philologische Forschung nicht zeitenthoben ist und ihre Paradigmen und Methoden stets abhängig sind von den Werten und Interessen, die das gerade aktuelle (Fach-)Publikum prägen. Zum endgültigen Abschluss kam diese Art der „Parzival“-Deutung erst in den 1980er-Jahren mit dem (bereits in den 50er-Jahren konzipierten) Buch „Wolframs Parzival. Studien zur Religiosität und Form“ von Peter Wapnewski (vgl. Wapnewski 1982), das ein letztes Mal den Versuch unternahm zu beweisen, „dass das religiöse Ethos, von dem Wolfram getragen wird, das der religiösen Laienbewegung des 11. und 13. Jahrhunderts ist; dass andererseits aber der Verlauf des Epos erst verständlich wird, wenn man in ihm die Rolle des Dogmas erkennt, wie Augustin es konstituierte und der Scholastik weitergab“ (ebd., 10). Wolfram als Mystiker augustinischer Prägung und Parzivals ritterlicher Bewährungsweg als bibelanaloge Heilsgeschichte, – von diesem allzu engen Interpretationsrahmen hat sich die neuere Forschung inzwischen verabschiedet. „Wolframs Schillern zwischen Ernst und Ironie, die Art, wie er den Gralskomplex geradezu bewusst in die alte literarische Zwischenwelt zwischen Heilsgeschichte und Zauberspruch, zwischen Gotteslehre und Astronomie ansiedelt – all das spricht eindeutig gegen jede direkt christliche Deutung der Gralswelt“ (Kuhn 1959, 174).
Poetik und Erzähltechnik
In den letzten Jahren standen stattdessen Fragen der Poetik und Erzähltechnik (vgl. Wehrli 1969, 195–222; Curschmann 1971; Nellmann 1973; Schirok 1990 u. 2002; Kiening 1991; Haug 1992), der Intertextualität (vgl. Draesner 1993) und der Beziehungen zur europäischen Tradition (vgl. Ridder 2014) im Vordergrund. Zudem hat die Forschung intensiv versucht, die mannigfaltigen Bildungs- und Wissenswelten, die Wolfram auf so produktive Weise in seine Epen einarbeitet, zu rekonstruieren, u.a. im Bereich der Medizin (vgl. Haage 1992) und der arabischen Kultur und Geschichte (vgl. Kunitzsch 1974 u. 1985). Ein Dauerthema der Wolfram-Forschung ist zweifellos die Struktur und Funktion des ungewöhnlich ausdifferenzierten Verwandtschaftsnetzes, mit dem Wolfram besonders das Figureninventar des „Parzival“-Romans bedeutungsvoll organisiert (vgl. Schmid 1986).
Moderne Ausgaben und Kommentare
Daneben hat die philologische Grundlagenforschung nie nachgelassen, das textliche Fundament zu sichern und zu erschließen: Während die modernen Ausgaben des „Parzival“ (Nellmann 1994; Schirok 2003) im Wesentlichen nur modifizierte Lachmann-Fassungen darstellen, erschienen der „Willehalm“ (Schröder 1978; Heinzle 1991) und der „Titurel“ in echten Neueditionen (Brackert/Fuchs-Jolie 2002 u. 2003; Bumke/Heinzle 2006) mit Kommentar, Übersetzung und – im Falle von Bumke/Heinzle – mit der gesamten Parallelüberlieferung des „Jüngeren Titurel“. In den letzten Jahren wurden zu allen Werken Wolframs außerdem detaillierte Stellenkommentare erarbeitet, so dass jetzt neben den großen Gesamtkommentaren zu den Epen (vgl. Heinzle 1972; Heinzle 1991; Nellmann 1994; Brackert/Fuchs-Jolie 2002; Bumke/Heinzle 2006) und zu den Liedern (vgl. Wapnewski 1972) zu fast jedem Buch des „Parzival“ ein Spezialkommentar vorliegt, viele davon angeregt und betreut von dem Bochumer Mediävisten Eberhard Nellmann (vgl. die Übersicht bei Heinzle 2011, 1022–1025). Schließlich beweisen neben dem neuen zweibändigen Wolfram-Handbuch von Joachim Heinzle (Heinzle 2011) sowohl zahlreiche neuere Einführungen zum „Parzival“ (vgl. Reichert 2007; Dallapiazza 2009) und zum „Willehalm“ (vgl. Greenfield/Miklautsch 1998) als auch die vom Stuttgarter Reclam-Verlag vorbereitete vollständige Neuübersetzung des „Parzival“ (vgl. dazu Brüggen/Lindemann 2002) die ungebrochene Intensität der Wolfram-Forschung.