Читать книгу Freiheit, Verantwortung, Selbsthilfe - Heiko Kleve - Страница 14
1.4Systemtheorie als komplexer Liberalismus
ОглавлениеSowohl der Marxismus als auch der Neoliberalismus gehen davon aus, dass die Wirtschaft das dominierende gesellschaftliche System sei. Daraus werden dann zwar unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen, aber Einigkeit besteht in dem Primat der Wirtschaft. Hier setzt die Systemtheorie einen anderen Akzent. Sie anerkennt die große Leistung von Marx, der deutlich beschrieben hat, dass sich der Anbruch der modernen Gesellschaft durch die Etablierung einer Speziallogik des Sozialen kennzeichnen lässt, erweitert diese Beobachtung jedoch um weitere gesellschaftliche Systeme mit speziellen Logiken. Zugleich sieht die Systemtheorie, dass es sich dabei um Systeme handelt, die sowohl in autonomer, selbst organisierter, spezieller, sich gegenseitig abgrenzender Weise als auch aufeinander angewiesen, voneinander abhängig agieren. Dies wird als Parallelität von Autopoiesis und struktureller Koppelung beschrieben (siehe grundsätzlich dazu Luhmann 1997).
Das, was in der marxistischen Kritik als defizitär und als Entfremdung von menschlichen Bedürfnissen erklärt und bewertet wird, dass sich gesellschaftliche Systeme etablieren, die vom Menschen geschaffen wurden, aber von ihm nicht mehr kontrollierbar sind, anerkennt die Systemtheorie als das spezifische Merkmal der modernen Gesellschaft. Im Neoliberalismus wird diesbezüglich davon gesprochen, dass Menschen diese Systeme (insbesondere die Marktkräfte der Wirtschaft) durch ihr Handeln zwar schaffen, dass sie die Systeme aber nicht zielgerichtet entwerfen oder planen können – vielmehr entstehen sie unwillkürlich, wenn Menschen zusammenkommen, wenn sich, mit der Systemtheorie gesprochen, Soziales durch Kommunikation generiert. Und dies geschieht ungeplant: Sobald Menschen miteinander interagieren, bilden sich hinter ihrem Rücken Muster, Strukturen, Ordnungen, mit anderen – systemtheoretischen – Worten: reduziert sich die Komplexität aller denkbaren Möglichkeiten auf ein psychisch, physisch und sozial verarbeitungsfähiges Maß. Und genau dies vollzieht sich ungeplant und spontan.
Die Systemtheorie geht davon aus, dass sich nicht nur die Wirtschaft in dieser Weise vollzieht. Sondern auch alle anderen Funktionen, die in einer Gesellschaft realisiert werden müssen, verwirklichen sich eigenständig, eigendynamisch, spontan, mithin unwillkürlich hinter dem Rücken der Akteure: etwa der Umgang mit Macht (Politik), die Regeln des sozialen Zusammenlebens (Recht), die Verbreitung von Informationen (Massenmedien), die Erziehung und Bildung, die Produktion des neuen und anschlussfähigen Wissens (Wissenschaft) oder das organisierte Helfen. So wird von einer funktional differenzierten Gesellschaft gesprochen, die sich angesichts der Ausbreitung der digitalen Medien, der vernetzten Computer zunehmend zu einer beschleunigten Netzwerkgesellschaft transformiert (Baecker 2007). Das bedeutet, dass die genannten Systeme in ihrer jeweiligen Eigendynamik hoch irritierbar geworden sind durch das, was in den jeweils anderen Systemen geschieht. Politik und Wirtschaft, Recht und Wissenschaft, Massenmedien und Bildung – alle diese Systeme ermöglichen und begrenzen sich zugleich. Sie können sich nicht nicht beeinflussen, ohne jedoch in der Lage zu sein, sich gegenseitig zu determinieren.
Weder die Wissenschaft noch die Politik, weder die Bildung/Erziehung noch die Massenmedien können die Wirtschaft steuern, planen oder regeln. Und dies gilt im Verhältnis aller Systeme zueinander entsprechend. Sie agieren eigendynamisch, aber angewiesen auf die Ressourcen (etwa Geld, Macht, Recht, Wissen, Information, individuelle Bildungsabschlüsse/Kompetenzen etc.) der jeweils anderen. Daher dominiert nicht nur die Wirtschaft über Geld die Gesellschaft. Wer kein Geld hat, ist arm dran, aber genauso diejenigen, denen es an Rechtsansprüchen fehlt; die keine Möglichkeiten haben, auf die politische Macht Einfluss zu nehmen; denen es an Wissen und Bildungsabschlüssen sowie an Kompetenzen fehlt; die nicht die notwendigen Informationen haben und/oder verarbeiten können, um sich in der unübersichtlichen Weltgesellschaft zu orientieren. Daher wird in der Systemtheorie davon ausgegangen, dass wir inzwischen in einer polyzentrischen Gesellschaft leben – jedes Funktionssystem kreist um sich selbst, ist sein eigenes Zentrum, beobachtet die Welt aus der jeweils eigenen Perspektive. Und auch dies kann nur als eine perspektivische Aussage daherkommen: als Beobachtung eines wissenschaftlichen Beobachters.
Die Systemtheorie kann mit Nassehi (2015) als Sozialphilosophie eines komplexen Liberalismus verstanden werden, weil sie dreierlei leistet: Erstens beschreibt sie die Freiheiten und Abhängigkeiten der gesellschaftlichen Funktionssysteme. Diese sind grundsätzlich in ihrer Eigendynamik frei, aber zugleich auf die Funktionsweise der anderen Systeme angewiesen, da sie sie als Ressourcenlieferanten benötigen. Zweitens lassen sich die Systeme nicht determinieren, nicht zentral steuern, sie agieren im Rücken der Akteure eigendynamisch und spontan. Und drittens können die Systeme über die Reflexion der eigenen Angewiesenheit hinsichtlich der jeweils anderen Systeme, also in ihren systemischen Kontexten, Selbststeuerungen und Selbstbegrenzungen vollziehen. Nichts anderes könne politische Gesellschaftssteuerung heute sein: die Funktionssysteme zur Selbststeuerung und Selbstbegrenzung anzuregen, sodass ihre jeweils hoch rationalen, hoch effektiven und effizienten Eigenlogiken eben nicht gesamtgesellschaftliche Irrationalitäten, sondern tatsächlich mehr Wohlergehen für alle, mehr Gemeinnutz erzeugen.
Gesellschaftliche Akteure, wo auch immer sie sich verorten, können angesichts des komplexen Liberalismus der Systemtheorie erkennen, welche ungeheure Dynamik die Gesellschaft inzwischen weltweit in jeweils unterschiedlicher funktionssystemischer Weise entfaltet. Beobachtbar ist damit auch, dass wir nicht (mehr) im Kapitalismus, nicht (mehr) in einer wirtschaftlich dominierten Gesellschaft leben, sondern in einer vielgestaltigen, einer komplexen Sozialwelt, die wie von der Wirtschaft ebenso abhängig ist von der Wissenschaft, der Politik, dem Rechtssystem, der Bildung/Erziehung, den Massenmedien oder der Sozialen Arbeit. Diese Gesellschaft lässt sich nicht zentral steuern, sondern ist hinsichtlich der Effekte, die durch die Funktionssysteme permanent sichtbar werden, in einer strukturell ambivalenten Gestalt. Nichts ist mehr eindeutig bewertbar, sondern erscheint aus unterschiedlichen Perspektiven sehr unterschiedlich. Was für die einen als Problem bewertet wird, scheint für die anderen die Lösung zu sein.