Читать книгу Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12 - Heiko Hentschel - Страница 10
ОглавлениеAm Morgen nach dem Sturm erschien die Welt grell und laut. Die Straßen waren voll von alldem, was das Unwetter mit sich gerissen hatte. Zäune und Karren lagen in den Seitengassen und machten ein Durchkommen unmöglich. Wagenladungen verdreckter Wäsche klebten an Häuserwänden und Fensterläden. Eine einsame Unterhose zierte das Eingangsschild der Stadtwache.
Drinnen tobte das blanke Chaos. Ein Dutzend Menschen hatten sich vor dem breiten Tresen versammelt und diskutierten aufs Heftigste miteinander. Mittendrin, eingequetscht zwischen Rücken, Ellenbogen und dem bis zum Platzen geschnürten Mieder einer drallen Dame, stand Moritz. Er war bleich, hatte tiefe Augenringe und seine Lippen waren leichenblau.
Bereits den ganzen Morgen über hatte er nach Hilfe gesucht. Im Waisenhaus war er weggeschickt worden, denn alle waren viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Sturmschäden zu beseitigen. Aber die Wachmänner würden ihm helfen. Sie mussten einfach!
Er hatte sich schon bis nach vorne zum Tresen durchgekämpft, als ihn zum zweiten Mal der Ellenbogen des Mannes traf, der ihm die Sicht blockierte. Er schrie nicht nur am lautesten, sondern schleuderte eine übel riechende Bierfahne in die Gesichter aller Anwesenden.
»Der Wagen kam aus der Seitengasse und hat meinen Karren gerammt. Und nun frage ich Sie, mein Herr, wo waren die Wachleute da?«, rief er, während sich ein stattlicher Rülpser seinen Weg die Kehle hinauf suchte.
Sofort zwängte sich die dralle Dame nach vorne und schob Moritz beiseite: »Zuerst der Sturm und heute Morgen klaut mir jemand meinen Apfelwagen. Das darf doch nicht wahr sein!«
Der zuständige Wachtmeister kratzte sich seinen gewaltigen Backenbart. Er tauschte einen Blick mit seinem jüngeren Kollegen, der hinter ihm den Bretterwall vor den Fenstern entfernte. Dies war alles andere als ein gewöhnlicher Morgen.
»Jetzt mal ganz ruhig. Jeder kommt ja an die Reihe.«
»Mein Apfelkarren ist weg!«, hob die dicke Dame wieder an. »Der Dieb ist sicher schon über alle Berge, nur weil Sie hier unsere wertvolle Zeit verplempern!«
Sie erdrückte Moritz fast. Glücklicherweise entdeckte er eine Lücke zwischen zwei Bierbäuchen. Er konnte zwar kaum über den Tresen hinwegsehen, doch er war entschlossen, gehört zu werden: »Bitte helfen Sie mir! Meine Schwester wurde entführt! Ich habe die Verantwortung für sie und –« Weiter kam er nicht, denn eine fleischige Hand packte seinen Kopf und schob ihn aus dem Weg.
»Jetzt drängel dich hier nicht vor, Lümmel«, schimpfte eine andere Frau und nahm die Hand wieder von Moritz’ Kopf. »Ich bin eine respektable Dame und werde nicht zulassen, dass du dich hier so frech …«
Moritz beachtete die Frau gar nicht. Er nutzte die nächste Lücke und quetschte sich nach vorne: »Bitte helfen Sie mir! Meine Schwester wurde entführt! Ich –«
Ein Ellenbogen landete mitten in seinem Gesicht. Seine Nase vibrierte vor Schmerz. Moritz schrie auf und schlug gegen den Tresen. Der Knall ließ für Sekunden das Durcheinander verstummen.
»Verdammt, jetzt hören Sie doch zu! Meine Schwester wurde entführt!«
Alle Augen ruhten nun auf Moritz.
Der bärtige Wachtmeister beugte sich tief über den Tresen: »Was schreist du so, Bursche?«
Moritz betastete seine Nase. Wenigstens blutete sie nicht. »Meine Schwester, Konstanze Brenner«, sagte er hastig, »sie ist sechs Jahre. Sie wurde entführt von einem Ding! Einem … einem Etwas! Einem … einem … Monstrum!«
Einen Herzschlag lang geschah nichts. Dann ertönte schallendes Gelächter. Ausnahmslos alle Anwesenden schütteten sich aus vor Lachen.
Moritz sank in sich zusammen. Er starrte auf das feuchte rosa Haarband in seiner Hand. Dann hörte er wieder die Stimme des Wachtmeisters: »Geh nach Hause zu deinen Eltern, Junge. Wir haben hier Wichtigeres zu tun, als uns deine Märchen anzuhören.«
»Sie sind tot. Meine Eltern sind tot!« Die Worte schossen förmlich aus Moritz’ Mund.
Wieder Stille. Diesmal länger.
Moritz blickte auf seine Schuhe. Die ersten Geräusche, die er hörte, kamen von Stiefeln. Jemand ging um den Tresen herum. Moritz spürte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er sah auf.
Es war der junge Schutzmann, der gerade noch an den Fenstern gearbeitet hatte. Sein Gesicht war freundlich, seine Stimme ruhig. »Komm mit mir, Junge«, sagte er. Vor ihnen bildete sich eine kleine Gasse.
Es klopfte zweimal, dann öffnete sich die Tür.
Den ganzen Weg zurück zum Waisenhaus hatte Moritz geschwiegen. Immer wieder hatte der Schutzmann versucht, ein Gespräch anzufangen, hatte ihn nach seinem Namen gefragt. Moritz war stumm geblieben. Es war sinnlos. Er hatte um Hilfe gebettelt, wollte allen erzählen, was passiert war – doch sie hatten nur gelacht.
Jetzt erwartete ihn der Flur des Waisenhauses und der finstere Blick von Fräulein Bimmel.
Wenig später saß er auf einem Stuhl in ihrem Büro. Wie hypnotisiert sah er auf das Haarband in seinen Händen. Sein Zeigefinger fuhr sanft über den weichen Stoff. Die Unterhaltung zwischen dem jungen Beamten und Fräulein Bimmel lähmte seine Sinne.
Wie immer saß das Fräulein mit vor der Brust verschränkten Armen hinter ihrem Schreibtisch. Der säuerliche Zug um ihren Mund konnte nur eines bedeuten: Sie hielt den Schutzmann in seiner viel zu großen Uniform für einen Schwächling.
»Die Brenners hat die Grippe geholt, letzte Weihnachten.« Ihre Worte waren ein Fausthieb in Moritz’ Magengrube.
»Der Junge sagt, dass seine Schwester entführt wurde.«
Fräulein Bimmel grunzte. »Ach, ich bitte Sie, wer sollte so ein mageres Gör schon entführen?! Das sind Hirngespinste.«
»Das heißt, Sie wissen, wo das Mädchen ist?«
»Mitnichten! Es muss letzte Nacht während des Sturms fortgelaufen sein.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Wäre nicht das erste Mal.«
Schweigen.
»Und Sie haben noch nicht nach dem Kind gesucht?«
Es knarrte bedrohlich, als sich das Fräulein sehr, sehr langsam über den Tisch beugte und dabei die Hände faltete. »Vielleicht haben Sie es noch nicht bemerkt, aber wir hatten letzte Nacht einen Jahrhundertsturm. Sämtliche Fenster auf der Nordseite wurden zerstört und wir sind gerade damit beschäftigt die Schäden zu beseitigen – die Franzosen rühren natürlich keinen Finger. Glauben Sie wirklich, ich hätte schon Zeit gehabt, mich um ein missratenes Balg zu kümmern?« Mit jedem Wort hatte sie sich mehr von ihrem Stuhl erhoben, bis sie schließlich wie ein Berg über dem mageren Beamten aufragte.
»Nun, ich, ähm …«, begann dieser und fand plötzlich die Falten seiner Uniform ungemein interessant. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass Fräulein Bimmel bereits gewonnen hatte.
Ihre Bratpfannenhand wies zur Tür. »Ich versichere Ihnen, das Mädchen wird wieder auftauchen, wenn es Hunger hat. Das tun sie alle.«
Moritz stand allein in seinem Zimmer. Hier sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Das Fenster war zerborsten, der Nachttisch umgefallen und die Kerze entzwei. Die Holzdielen hatten sich mit Regenwasser vollgesogen und überall klebten Laub, Dreck und Zweige.
Bei jedem Schritt, den Moritz auf Konstanzes Bett zumachte, knackte Glas unter seinen Schuhen.
Ihr Bett war zerwühlt, nass und schmutzig, als hätte ein Kampf stattgefunden. Moritz begann zu zittern. Angst kroch in ihm hoch. Konstanze – er war so gemein zu ihr gewesen. Und jetzt war sie irgendwo, ganz allein. Vielleicht tat man ihr weh oder sie war bereits …
Er hörte ein Geräusch. Etwas keckerte unter dem Bett. Die Elster zeigte ihr Köpfchen und sah sich im Zimmer um. Ihr Verband war verrutscht.
Moritz kniete nieder. Die Schnitte der Glasscherben in seinen Knien spürte er kaum. Vorsichtig nahm er Konstanzes Haarband und umwickelte den verletzten Flügel neu. Zum Dank erhielt er ein Krächzen.
Behutsam hob Moritz den Vogel vom Boden auf und steckte ihn schützend unter seine Jacke. Dort hatte er es warm und weich. Sein Blick glitt zum Fenster hinaus. Hier gab es nichts mehr für ihn zu tun. Es gab keinen Grund, noch länger zu bleiben.
Doch, eine Sache noch …
Im Erdgeschoss war alles ruhig. Moritz stand auf der Treppe und spähte um die Ecke einen langen Gang hinunter. Er sah sich nach allen Seiten um, dann rannte er los.
Vorsichtig legte er ein Ohr an die Tür und wartete. Kein Geräusch war zu hören. Mit pochendem Herzen drückte er die Messingklinke herunter. Ein Glück, die Tür war nicht verschlossen. Schnell trat er in Fräulein Bimmels Büro.
Der Raum war karg möbliert und eiskalt. Moritz starrte auf den großen Schreibtisch. An den Wänden waren hohe Schränke mit Schubfächern angebracht. Nur an der linken Seite nicht, da stand ein schiefer Sekretär und direkt daneben ein wuchtiger, alter Kleiderschrank.
Moritz schlich zum Schreibtisch, auf dem sich allerlei Krimskrams häufte: Briefe, Einkaufslisten, ein Rechenschieber, ein aufgeschlagenes Kassenbuch, ein Tintenfass mit Schreibfedern und ein kümmerliches Talglicht.
Unter seiner Jacke strampelte die Elster. Scheinbar spürte sie seine Anspannung. Als er versuchte sie zu beruhigen, zwickte sie ihm in den Finger. Moritz gab auf. Vorsichtig setzte er den Vogel auf den Tisch, um seine Suche zu beginnen.
Er öffnete sämtliche Schubkästen und drehte alle Schriftstücke und Akten um. Er kramte in Zetteln und Büchern, aber was er suchte, fand er nicht.
Schnell wechselte er zum Sekretär an der Wand. Das Blut rauschte in seinen Ohren, als er all die Sortierfächer, Schubfächer und Aussparungen für Tinte und Papier durchging. Plötzlich stockte ihm der Atem. Ein kleines Schmuckkästchen. Das musste es sein! Eilig öffnete er es – aber außer ein paar Münzen, einer Porzellanbrosche und einem zerkratzten Silberring fand er nichts. Verdammt!
Ein Geräusch ließ ihm das Herz fast in die Hose rutschen. Er starrte auf den Schreibtisch.
Da saß die Elster auf einem umgekippten Tintenfass. Sie keckerte und wackelte mit den Schwanzfedern, während sich die schwarze Flüssigkeit über sämtliche Dokumente ergoss.
»Oh nein!« Moritz schnappte den Vogel vom Tisch. Augenblicklich waren seine Hände pechschwarz und die Dokumente segelten zu Boden. Eilig sammelte er sie auf und verteilte seine schwarzen Fingerabdrücke mit gnadenloser Präzision auf jedem einzelnen.
Plötzlich hörte er Schritte.
Moritz wurde kreidebleich. Hastig sah er sich um und entdeckte einen Abfalleimer. Sofort wollte er alles hineinstopfen, aber er hielt inne – zwischen dem Müll, ganz unten am Boden, glitzerte etwas.
Halb verdeckt von einem braunen abgenagten Apfel lag das, wonach er die ganze Zeit gesucht hatte: das Medaillon. Fräulein Bimmel hatte es in den Müll geworfen.
»Alte Hexe!« Moritz griff nach dem Anhänger und stopfte die verschmierten Dokumente aufs Geratewohl in den Eimer.
Die Schritte stoppten vor der Tür. Moritz blickte sich um. Was sollte er tun? Sein Blick fiel auf den Schrank.
Die Türklinke wurde heruntergedrückt. Fräulein Bimmel betrat ihr Büro und stapfte zum Schreibtisch hinüber.
Versteckt zwischen miefigen Kleidern und Wollmänteln verfolgte Moritz atemlos jeden ihrer Schritte. Mit einer Hand hielt er die Schranktür von innen zu, mit der anderen umklammerte er das Medaillon und drückte die verschmierte Elster an sich.
»Scha-rack!«
Moritz’ Herz setzte einen Schlag aus. Im Raum war es auf einmal ganz still. Kein Laut war mehr zu hören.
»Verteufelt noch mal!«
Moritz schluckte.
»Was ist das für eine Sauerei!«, rief Fräulein Bimmel und polterte aus dem Büro. »Zeig dich, du Schmutzfink! Na warte, wenn ich dich erwische!«, schrie sie den Gang hinunter.
Blitzschnell verließ Moritz sein Versteck und lief zur Tür. Er sah gerade noch, wie ein riesiges kornblumenblaues Hinterteil um die Ecke bog.
Schnell legte er sich das Medaillon um den Hals und sah die Elster an. »Nichts wie weg hier!«
Mit dem Vogel unter dem Arm rannte er hinaus aus der großen Eingangstür, überquerte den Vorhof und ließ das rostige Eisentor des Waisenhauses hinter sich. Er rannte, so schnell er konnte, und wusste in diesem Moment, dass er niemals wieder an diesen Ort zurückkehren würde. Nie im Leben! Er hatte nur ein Ziel: Er musste seine Schwester wiederfinden.
Koste es, was es wolle.