Читать книгу Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12 - Heiko Hentschel - Страница 12

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Es kam völlig unvermittelt und gellte durch die Dunkelheit. Moritz fuhr erschrocken herum. Da wieder! Der helle Schrei eines Mädchens. Es klang wie … Konstanze!

Seine Glieder verkrampften sich. Etwa fünfhundert Meter entfernt von ihm bewegte sich ein massiger Schatten blitz­­­schnell über die Dächer der Stadt.

Das Monstrum!

Moritz’ Herz raste. Darauf hatte er gewartet.

Er rutschte von seinem Posten herunter und rannte über die flachen Dächer. Mit einem Satz übersprang er eine Häuser­schlucht und überschlug sich fast dabei. Die Elster im Tragesitz wurde ordentlich durchgeschüttelt.

Moritz flog förmlich über Balken, Mauern und Torbögen. Plötz­­lich tauchte der Schatten des Untiers direkt vor ihm auf. Es zwängte sich aus einer schmalen Seitengasse hinauf und preschte mit weit geöffneten Flügeln voran über eine Reihe gedrungener Backsteinhäuser. In den Krallen hielt es ein kleines Mädchen. Moritz sah blonde Haare, ein schlichtes Kleid, nackte Füße und einen Ausdruck, den er nie wieder vergessen würde. Ihr Gesicht war erstarrt zu einer Grimasse, die blankes Entsetzen zeigte. Und sie schrie.

Moritz strauchelte, rutschte vom Dach und krachte mehrere Meter in die Tiefe, mitten in einen Hühnerstall. Federn flogen in alle Richtungen.

»Autsch!« Über ihm klaffte ein riesiges Loch im Dach und die Hühner flatterten aufgeregt hindurch.

Moritz tastete nach der Elster in ihrem Tragesitz. »Alles in Ordnung?« Hastig befreite er den Vogel von dem Stroh, das ihn bedeckte, und bekam ein Krächzen als Antwort.

»Gut.« So schnell er konnte, kletterte er aus dem Stall und stemmte sich hoch auf die nächste Mauer. Dort lauschte er in die Nacht.

Rufe drangen aus der Gasse rechts von ihm. Zwei Männer, die offenbar gerade in einen Streit verwickelt waren, hielten inne und starrten nach oben. Über ihnen sprang ein gewaltiger Schatten von Dach zu Dach. Sofort war Moritz wieder in seinem Element. Er sprang von der Mauer und rannte los. Die Häuser flogen an ihm vorbei – ein Ochsenkarren lag auf dem Pflaster. Eine perfekte Rampe. Er rannte an den Männern vorbei, den Karren hinauf und sprang auf der Deichsel ab. Polternd landete er auf einem niedrigen Vordach, dann hastete er weiter, die nächste Dachschräge hinauf. Schon bald war er wieder auf gleicher Höhe mit dem Ungetüm.

Je näher er kam, desto klarer wurden die Konturen des Monsters. Der Greif nahm wieder Gestalt an. Doch war es wirklich einer? Die Umrisse des Wesens verzerrten sich von einer zur nächs­ten Sekunde und versuchten mit seiner Umgebung zu ver­­­schmel­­zen. Es bewegte sich mit der Wendigkeit eines Raub­tiers. Und es war unglaublich groß. Wo es mit seinen massigen Pran­­­ken landete, spritzten zermalmte Dachpfannen in alle Richtungen.

Moritz lief ein Schauer über den Rücken, doch er wurde nicht langsamer. Er legte sogar noch einen Zahn zu.

Hinter Moritz tauchte unterdessen ein zweiter Schatten auf: eine schmale Gestalt, mit einem Käfig auf dem Rücken und einem langen Stab in der Hand. Der Fremde flitzte mit Sieben­meilen­­sprüngen über die Dächer, sprang von Giebel zu Giebel und von Zinne zu Zinne, als ob die Schwerkraft nicht existieren würde. Ein sonderbares Geräusch ging von ihm aus – ein heulendes Alarmsignal.

Moritz griff nach seiner Bola. Er sprang zum nächsten Haus­dach und begann, sie über dem Kopf zu schwingen. Er kam dem Monstrum immer näher. Als ihn nur noch wenige Meter von dem Ungetüm trennten, sprang es plötzlich vom Dach hinunter und verschwand. Moritz verriss die Bola. Sie segelte knapp an den Hinterläufen des Monstrums vorbei und knallte gegen die nächste Hauswand.

Sofort bremste Moritz ab. Stolpernd erreichte er den Rand des Daches, als das Ungetüm steil vor ihm nach oben in die Luft stieg. Für einen kurzen Moment starrte er in die schreckgeweiteten Augen des blonden Mädchens, dann wurde es in Höhe gerissen. Ihr Schrei war markerschütternd. Moritz strauchelte, sah die aufgespannten Flügel und im selben Moment war ihm klar, dass das Untier davonfliegen würde. Ohne zu überlegen, stieß er sich vom Dach ab, streckte die Arme aus und packte das Wesen am Schweif.

Moritz fühlte die Haut des Ungetüms – kalt, starr und rau. Das Monstrum ruckte herum und sein Blick traf den des Jungen. Für Moritz blieb die Zeit stehen. Er sah die glutroten Augen des Wesens, das schartige, klaffende Maul und die kurzen, gebogenen Ohren. Es stieß einen unwirklichen Laut aus: eine Mischung aus Peitschenknall und dem Angstschrei eines Pferdes. Sein Herz setzte aus.

Mit einem Mal sauste ein Netz auf Moritz zu und riss ihn fort vom Schweif des Ungetüms. Das Netz umschloss ihn und gleich darauf bohrte sich ein Eisenbolzen über ihm in eine Hauswand. Moritz baumelte kopfüber in der Falle!

Das Monstrum verschwand im Dunkel der Nacht, das Mädchen in seinen Fängen.

»Nein!«, schrie Moritz, aber es war zu spät.

Wie ein Fisch zappelte er im Netz und knallte mit dem Kopf gegen die Wand, als er plötzlich eine Stimme auf dem Dach neben sich hörte: »Ich könnte schwören, dass ich …«

Moritz wandte sich um. Leichtfüßig tauchte eine lange, dünne Gestalt auf der Dachschräge auf. Vom Schatten des gegenüberliegenden Hauses verhüllt, starrte sie nach oben, dem Ungetüm hinterher. »Höchst ungewöhnlich.« Eine kurze Pause entstand. »Es sei denn …«

Moritz beobachtete die seltsame Szene. Offenbar unterhielt sich die eigenartige Gestalt mit sich selbst und wälzte diverse Theorien im Kopf. Scheinbar ohne nennenswertes Ergebnis. »Ich muss mich irren.« Achselzuckend machte er einen weiten Hüpfer den First entlang, sprang senkrecht hinunter auf die Straße und verschwand.

»Halt, warten Sie!«, rief Moritz. »Haben Sie nicht etwas vergessen?«

Nach wenigen Sekunden tauchte die dünne Gestalt beinahe schwerelos wieder neben ihm auf dem Dach auf. »Habe ich?«

»Ja, mich zu befreien!« Moritz konnte die Silhouette eines sehr schlaksigen und hochgewachsenen Mannes erkennen, aber nicht viel mehr, denn noch immer hielt er sich in den Schatten verborgen.

»Warum sollte ich? Ich kenne dich nicht, Junge. Wer weiß, vielleicht ist es besser, wenn du da drin bleibst.«

»Sie können mich doch nicht einfach hier hängen lassen!«

»Nicht? Na, dann pass mal auf!« Mit einem gewaltigen Satz sprang der Fremde von dannen.

»Das glaube ich nicht!« Abermals kämpfte Moritz mit dem Netz. Ohne Erfolg. Die Maschen gaben keinen Millimeter nach.

»So klappt das nie, mein Junge.«

Moritz sah sich um. Der Mann stand diesmal auf der anderen Seite im Schatten.

»Dann helfen Sie mir!«, rief er und begann, die Seile mit den Zähnen zu bearbeiten.

»Erst erzählst du mir, was du eigentlich vorhattest«, sagte der Fremde. Etwas glitzerte in seinem Gesicht, eine Brille mit kreis­runden Gläsern.

»Ich will dieses Monster fangen!«

Ein Lachen. »Etwa damit?« Sein Gegenüber hielt die selbstgebaute Bola ins Mondlicht.

»Ja, und es hätte fast geklappt, wenn Sie nicht dazwischen­gekommen wären, mein Herr!«

»Tut mir leid, dass ich den Großwildjäger bei seiner Arbeit gestört habe«, sagte der Fremde und reckte einen länglichen Zylinder aus Messing ins Licht. »Kommt bestimmt nicht wieder vor.«

Der Zylinder teilte sich der Länge nach und ein Schwert schnellte aus der Spitze hervor. Die Klinge surrte durch die Luft und schnitt das Netz entzwei.

Moritz schlug hart auf dem Schrägdach auf. Sein Schädel dröhnte, als er aufsah. Vor ihm trat der seltsamste Mann ins Licht, den er je gesehen hatte: Er war so lang wie ein Reisig­­­besen und hatte eine ebensolche Frisur. Wild und ungebändigt standen seine rostroten Locken vom Kopf ab, auch wenn er versucht hatte, sie mit einem Band am Hinterkopf zurückzubinden. Doch das Aufsehenerregendste waren die Farben. Wo Moritz ein Bild in schwarz und weiß abgab, war der Samtrock dieses Mannes eine Farbexplosion von weinrot bis violett. Darüber trug er eine silbrig schimmernde Fellweste. Auf seiner Nase saß ein Kneifer, hinter dessen Gläsern zwei smaragdgrüne Iriden funkelten.

»Lichtholm ist der werte Name. Edgar van Lichtholm. Mons­ter- und Dämonenjäger«, sagte er und streckte Moritz eine Hand entgegen. »Schön, dich fast kennengelernt zu haben.«

Moritz rieb sich den Brummschädel. »Was heißt hier fast?«

Edgar zwinkerte. »Es heißt, dass ich weiter muss.«

»Aber Sie sind Monsterjäger!«

»Monster- und Dämonenjäger«, korrigierte Edgar mit erhobenem Zeigefinger.

»Richtig! Dann können Sie mir helfen!«

Zuerst lachte Edgar herzhaft, dann schlug seine Stimmung um. »Nein. Ich kann nicht.« Er wandte sich ab.

»Aber Sie müssen!« Moritz rappelte sich auf. »Dieses Ding, dieses Monstrum, hat meine Schwester entführt!«

Edgar sah ihn an. Sein Ausdruck war eine Mischung aus Mit­leid und Zweifel. »Nun, das ist sicherlich überaus …«, er suchte nach den richtigen Worten, »… tragisch.«

»Ja!«, rief Moritz. So einen begriffsstutzigen Menschen hatte er noch nie erlebt. »Genau deswegen brauche ich einen Monster­jäger!«

»Monster- und Dämonenjäger«, sagte Edgar und rückte seinen Kneifer zurecht. »Ich kann dir nicht helfen, mein Junge.«

»Warum nicht?!« Moritz’ Stimme wurde schriller. »Sie sind Mons­terjäger, bitteschön, da war gerade ein riesiges Monster, es hat ein Mädchen entführt und meine Schwester auch! Warum tun Sie nichts?!«

»Keine Zeit.« Edgar wandte sich ab und ging zum Rand des Daches hinüber.

Jetzt konnte Moritz den langen Käfig sehen, der auf seinen Rücken geschnallt war. Darin befand sich ein schuppiges Etwas von der Größe einer Katze. Es spitzte seine Ohren und bleckte die kleinen Raffzähne, während es Moritz mit handtellergroßen Glupschaugen anstarrte. Das seltsame Geschöpf öffnete sein Maul und produzierte ein Geräusch, wie es Moritz noch nie zuvor gehört hatte. Es klang wie eine Mischung aus Hecheln und Glucksen, doch irgendwie war es auch keins von beidem.

»Mein Gott, was ist das?«

»Was meinst du?« Edgar sah über seine Schulter. »Ach das? Das ist ein Boogelbie.«

Moritz hatte Mühe gleichzeitig zu begreifen, was er sah und hörte. »Was tut es da?«

»Es roottelt«, sagte Edgar knapp.

»Es roo-ttelt?«

»Ja, nein, jetzt nicht mehr. Jetzt wuppert es.«

Moritz blinzelte. Das merkwürdige Geräusch hatte sich tatsächlich in etwas verändert, das man als zufriedenes Wuppern bezeichnen konnte. Der Boogelbie starrte ihn an und leckte sich hingebungsvoll über beide Augäpfel. Moritz wurde schwindelig.

»Hör mal, mein Junge«, sagte Edgar, »es tut mir aufrichtig leid. Ich wollte nicht dich einfangen, ich wollte das Wesen.«

»Dann fangen Sie es ein!«, rief Moritz. »Ich kann Ihnen helfen, ich –«

»Nein.« Edgar hatte kurz die Stimme erhoben, aber dann ließ er den Kopf hängen und murmelte etwas, das wie Es ist nicht das Richtige klang.

Irgendwo in der Ferne wurden Stimmen laut. Was genau gerufen wurde, konnte Moritz nicht verstehen, denn die Worte verloren sich in den verwinkelten Gassen. Doch eine Frau weinte und schrie. Schrie aus Angst um ihre Tochter.

Moritz’ Knie zitterten.

»Ich wünsche dir viel Glück«, sagte Edgar leise.

Er straffte die silbrige Weste und streckte sein rechtes Bein aus, bereit zum Sprung. Moritz wurde übel. Die Welt rückte von ihm fort und seine Beine knickten ein. Er drohte vom Schräg­dach zu rutschen.

Plötzlich packte ihn jemand am Arm. Edgar. »Was hast du? Bist du verletzt?«

Moritz keuchte. »Nein, ich habe nur seit ein paar Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Es geht … gleich … wieder …«, murmelte er und versuchte sich hochzustemmen. Seine Knie protestierten und ihm wurde schwarz vor Augen.

»Teufel auch«, hörte er Edgar murmeln.

Was dann geschah, bekam Moritz nur noch bruchstückhaft mit. Er spürte, wie Edgar nach ihm griff und ihn sich über die Schulter warf. Dann sprangen sie vom Dach.

Es fühlte sich an, als ob er fliegen würde. Seine Gedanken tauchten in einen schwarzen Tunnel ein, an dessen Ende seine Schwester wartete.

Konstanze.

*****

Hauptmann Nathaniel stand vor dem Podest der Komtesse. Hinter ihm, in den Schatten der Schiffsmesse, zuckte das Un­­getüm vor Unruhe. Gehetzt blickte es sich um.

»Ich kann es mir nicht erklären, Durchlaucht!« Nathaniel rang die Hände. »Aber wir wurden verfolgt.«

Stille. Die Komtesse blieb reglos.

Es war unerträglich.

»Ich schlage vor, wir ziehen weiter in die nächste Stadt. Wir sind hier nicht sicher.«

»Dann ist es Eure Aufgabe, für Sicherheit zu sorgen, Haupt­mann!«, donnerten ihm die Stimmen entgegen. Unwill­kür­lich öffnete Nathaniel den Mund, doch die Komtesse kam ihm zuvor: »Bringt sie zu mir.«

Nichts geschah.

»Worauf wartet Ihr?«

Zögernd verneigte sich Nathaniel und trat beiseite. Er gab den Blick frei auf das rastlose Ungetüm in der Finsternis.

Nach einer Berührung seines Amuletts öffnete das Untier eine Pranke und mit einem Schubs wurde ein kleines blondes Mädchen ins Licht gestoßen. Wie im Traum stand es da, schwankend im Takt eines stummen Wiegenliedes.

»Komm zu mir.«

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