Читать книгу Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12 - Heiko Hentschel - Страница 13

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»Konstanze … nein … Konstanze!«

Moritz schlug die Augen auf. Goldenes Licht hüllte ihn ein, warm und weich. Er blinzelte. Allmählich kam er zur Besinnung und die Welt nahm wieder Gestalt an. Er befand sich in einem fremden Raum, umringt von Kerzen, wie in einem Traum. Von irgendwoher kam ein gedämpftes Klicken.

Moritz richtete sich langsam auf. Er fühlte sich wie im Bauch eines kleinen goldenen Wals. Schwere rostrote Brokatvorhänge und goldgewebte Tücher hingen kreuz und quer an den Wänden. Türme aus Büchern, Kissen und Einmachgläsern bildeten eine bizarre Landschaft, die bis unter die gewölbte Decke reichte. Auf schiefen Regalen wucherten die kuriosesten Gegenstände über- und untereinander: seltsam geformte Zangen und Spieße, gewundene Apparaturen aus Metall, kunstvolle Zeichnungen von furchterregenden Fabelwesen und allerlei aberwitziges Getier in gläsernen Döschen, Kästchen und Käfigen.

Immer noch benommen wandte Moritz seinen Kopf zur Seite und starrte in ein Vergrößerungsglas. Das absurd verzerrte Wesen dahinter mit seinen geschlossenen Augen war faszinierend und abstoßend zugleich. Es saß in einem hohen Käfig und hatte einen rötlich glänzenden, schuppigen Körper mit kleinen, drei­­­fingrigen Händen und Füßen. Die transparenten Ohren lagen eng am Kopf an. Es ähnelte dem Wesen, das er im Käfig dieses merkwürdigen Mannes gesehen hatte. Wie hieß diese Kreatur noch gleich?

Moritz beugte sich nach vorn und presste seine Nase gegen das Glas. Im selben Moment riss das Wesen die Augen auf. Groß und kugelrund starrten sie ihn an.

Ein Schrei löste sich aus Moritz’ Kehle und er wich zurück. Das Wesen musterte ihn von Kopf bis Fuß. Dann wupperte es und igelte sich ein.

»Keine Angst«, sagte eine fremde Stimme hinter Moritz. »Boogelbies sind absolut harmlos.«

Erschrocken wandte er sich um.

Auf den golddurchwirkten Kissen am Kopfende seines Bett­lagers saß ein Mädchen. Sie beobachtete ihn mit großen violetten Augen.

»Was ist passiert? W-wo bin ich?«

»Du bist in Sicherheit«, antwortete das Mädchen. Ihre Stimme hatte einen beruhigenden Klang. Sie musste etwa in Moritz’ Alter sein und ihr Haar war genauso schwarz wie seines. Lang und glatt floss es ihr rotes Kleid hinunter.

Moritz sah sie verlegen an. Seine Hände suchten etwas an seiner Brust, doch fanden sie es nicht. »Wo? Wo ist mein …«

»Keine Sorge, deine Hüterin hat es nicht aus den Augen gelassen«, sagte das Mädchen.

»Scha-rack!«

Moritz sah nach oben.

Auf einem vollgestellten Regal, eingeklemmt zwischen der Miniatur eines geschnitzten Lindwurms und einer Familie ernst dreinblickender Schrumpfköpfe, saß die Elster – unter sich das silberne Medaillon.

»Sie hat die ganze Zeit auf deinen Schatz aufgepasst. Und sie lässt niemanden an sich heran«, sagte das Mädchen. Zum Beweis rutschte sie näher und versuchte, nach dem Schmuck­stück zu greifen. Die Elster stellte ihr Gefieder auf und begann gefährlich zu fauchen.

»Siehst du.«

Moritz lächelte und streckte die Hand nach dem Medaillon aus.

»Scha-rack!« Die Elster ließ ihn gewähren.

»Wie heißt sie?«, erkundigte sich das Mädchen.

»Die Elster? Äh, sie hat keinen Namen. Außerdem weiß ich nicht, ob sie überhaupt eine sie ist.«

»Es ist ein Männchen.«

Moritz seufzte. »Dann hatte Konstanze recht.«

»Konstanze?«

»Meine Schwester«, sagte Moritz und legte das Medaillon wieder an. »Sie hat behauptet, die Elster wäre ein Männchen.«

»Kluges Kind«, sagte das Mädchen und sah zu, wie Moritz die Elster auf dem Regal kraulte. »Elstern sind faszinierende Tiere. In ihnen steckt viel mehr, als man denkt.« Sie zwinkerte Moritz zu, als ob sie ihm gerade ein Geheimnis anvertraut hätte.

Moritz schüttelte verwirrt den Kopf. Dieses Mädchen war ihm unheimlich. Sie hatte ein Lächeln, das samtig, weise und auf unbeschreibliche Art bezaubernd war. Aber irgendetwas fehlte.

Jetzt, da er sie aus der Nähe sehen konnte, bemerkte er, wie ungewöhnlich blass sie war. Selbst im warmen Schein der Kerzen sah ihre Haut fahl und zerbrechlich aus.

»Ich bin Helene van Lichtholm«, sagte sie und streckte Moritz die Hand entgegen.

»Ähm, freut mich.« Er reichte ihr zögernd die seine, wobei er sich in dem vollgestopften Raum umsah. »Was ist das alles hier? Und wo bin ich?«

»Bei meinem Bruder Edgar und mir, in unserem Wagen«, sagte Helene. »Das sind alles Edgars Forschungsobjekte. Mein Bruder sammelt alles über Monster und Dämonen, um mehr über ihre Natur in Erfahrung zu bringen.«

Moritz’ Blick glitt über die Regale, auf denen sich bizarre Krea­­­­­turen in Einmachgläsern stapelten. So viel unheimliches Ge­­­tier.

»Und, möchtest du mir auch verraten, wie du heißt?«, fragte Helene. »Oder soll ich dich Großwildjäger nennen?«

»Oh! Ich heiße Moritz Brenner.«

»Sei gegrüßt, Moritz. Mein Bruder Edgar hat mir schon von dir erzählt. Hast du wirklich versucht, ein Monster mit einem Strick und ein paar Steinen zu fangen?«

Moritz blinzelte. »Also … das ist eine sehr vereinfachte Be­­schreibung der Situation, aber –«

»Schon gut«, sagte Helene. »Mein Bruder fand sich wohl sehr witzig. Er ist so in seiner Welt, dass er jede andere Vorgehens­weise als stümperhaft empfindet. Er ist ein echter Meister seines Fachs, verstehst du.«

»Ist er wirklich Monsterjäger?« Moritz tippte gegen eines der Einmachgläser. Das Wesen darin sah aus wie eine Kreuzung aus Ringelwurm und Fledermaus.

Helene erhob einen Zeigefinger. »Monster- und Dä–«

»Dämonenjäger«, korrigierte sich Moritz. »Ich weiß, ich weiß. Es ist nur …« Er seufzte. »Dein Bruder muss mir unbedingt helfen. Ich muss meine Schwester finden. Ich sollte auf sie aufpassen – ich hab’s versprochen. Ich …«

»Ich glaube, du brauchst erst mal einen Schluck hiervon.« Helene griff nach einem dampfenden Becher, der auf einem Beistelltisch stand.

»Was ist das?«, fragte Moritz.

»Koste.«

Unsicher führte er den Becher zum Mund und nippte daran. Augenblicklich schüttelte sich sein ganzer Körper. Es schmeckte, als hätte man faulige Früchte mit Käsefüßen zerstampft.

»Das ist ja widerlich!«

»Aha«, sagte Helene und nahm ihm den Becher wieder ab. »Ich hatte mich schon gefragt, wie das wohl schmeckt.«

Ein Vorhang wurde beiseite geschoben. »Helene, sag mir bitte Bescheid, wenn der Junge …« Edgar stand mitten im Raum. »Oh, du bist schon wach.«

»Ja«, sagte Moritz. »Danke … danke, dass Sie mich mitgenommen haben.«

»Gern geschehen.« Edgar setzte zögernd seinen Kneifer ab. »Helene, kommst du bitte mit? Ich brauche deine Hilfe.« Er verschwand genauso schnell, wie er gekommen war.

»Entschuldige mich.« Helene erhob sich. »Ich habe dir übrigens eine Tinktur aus Rattenfett und Ringelblumen auf dein blaues Auge geträufelt, als du geschlafen hast. Falls dein Ge­sicht in den nächsten Minuten taub werden sollte und du den Ge­­schmacks­­sinn verlierst, dann ist das vollkommen normal.«

Als Helene zu Edgar trat, lief dieser zwischen den unzähligen Boogelbie-Käfigen auf und ab. Ausnahmslos alle Kreaturen wupperten vor sich hin und zergelten neugierig an den Gitterstäben.

»Er kann nicht hierbleiben«, platzte es aus ihm heraus.

»Habe ich irgendetwas gesagt?«

»Ich kenne dich und meine Entscheidung steht fest.«

»Aber er braucht unsere Hilfe.«

»Ich weiß«, sagte Edgar, »aber wir müssen weiterziehen. Das Monster heute Nacht war …« Er rang nach Worten. »Es war nicht das richtige. Also ziehen wir weiter. Noch heute Nacht.«

Helene sah Edgar forschend an. Sie erkannte ihren Bruder nicht wieder, er hatte sich verändert in letzter Zeit – stark verändert.

»Verheimlichst du mir etwas?«

»Wie könnte ich«, murmelte er.

»Lass mich deine Augen sehen, Edgar.« Ihre Hand griff nach seinem Arm, doch er drehte sich fort.

»Jetzt nicht, Helene.«

»Wie du willst. Was schlägst du vor? Er hat seine Schwester verloren. Willst du ihn gleich aus dem Wagen werfen oder ihn vorher noch etwas betteln lassen?«

Edgar seufzte. »Es tut mir leid, aber wir können nichts für ihn tun.«

Schweigen. Helene warf einen Blick durch den Vorhang.

Moritz saß auf den Kissen und befühlte sein Auge. Er war erschöpft. Die Elster hüpfte vom Regal hinunter auf seine Schulter und keckerte leise in sein Ohr. Moritz lächelte gequält.

»Du überraschst mich, Bruderherz«, flüsterte Helene. »Gerade du solltest doch wissen, wie es ist, wenn man die Hoff­nung nicht aufgeben will.«

Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, ging sie an Edgar vorbei und verschwand durch einen Vorhang an der Hin­ter­­seite des Raumes.

Edgar seufzte. Ein Moment verstrich. Dann ging er zu einer kleinen Werkbank, auf der drei Boogelbie-Käfige standen. Die Wesen darin beobachteten aufmerksam jede seiner Bewegun­gen.

Edgar zog eine Schublade auf und drückte auf eine Platte am Boden. Mit einem hölzernen KLICK öffnete sich ein kleines Versteck, das eine lange, schmale Schatulle enthielt. Er öffnete den Deckel und sah hinein. Sanftes smaragdgrünes Licht leuchtete ihm entgegen.

Die Boogelbies tauschten summselnd Blicke aus.

In der Schatulle befanden sich Dutzende kleiner Fläschchen und Phiolen. Sie waren alle unterschiedlich groß, standen aufrecht in ihren Fächern und waren sämtlich leer bis auf zwei in der untersten Reihe.

Edgars Hand zitterte – ein untrügliches Zeichen dafür, dass die letzte Dosis viel zu lange zurücklag. Die Flüssigkeit im Innern der Flaschen leuchtete wie seine Augen. Er öffnete die vorletzte Phiole und atmete tief durch. Dann trank er den Inhalt in einem Zug aus.

Endlich ließ das Zittern nach. Edgar spähte durch den Vorhang und beobachtete Moritz, der gerade die Elster auf dem Kissen neben sich behutsam streichelte. Das Tier hatte sich zu­sammengekauert und das Köpfchen unter seinen unver­­­letzten Flügel geschoben.

Der Junge griff nach dem Medaillon an seinem Hals und presste es fest an die Brust.

»Du solltest jetzt schlafen.«

Überrascht sah Moritz auf.

Edgar ging zu ihm und reichte ihm eine Wolldecke. »Wenn ich dir helfen soll, deine Schwester wiederzufinden, haben wir morgen einen ziemlich anstrengenden Tag vor uns.«

Moritz’ Gesicht hellte sich auf, seine Augen strahlten. »Danke.«

»Lösch die Kerzen, bevor du einschläfst«, sagte Edgar und schlüpfte zurück hinter den Vorhang.

Eine kleine Ewigkeit stand Edgar reglos im Halbdunkel und betrachtete die leuchtenden Augen der Boogelbies. Das Zittern war nun vollends verschwunden. Wie lange noch?

Er lächelte bitter. Helene hatte recht: Edgar wusste, was es hieß, die Hoffnung nicht aufgeben zu wollen. Ein Grund mehr, keine Zeit zu verlieren.

Er würde dem Jungen helfen – würde ihn unterweisen und einen Stundenplan entwerfen, der selbst den talentiertesten Schüler auf eine harte Probe stellte. Wofür er, Edgar, Jahre des Forschens und der Übung gebraucht hatte, würde der Junge in wenigen Tagen lernen müssen.

Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12

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