Читать книгу Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12 - Heiko Hentschel - Страница 7
ОглавлениеJede Stadt hat ihr eigenes Gesicht. Die meisten sind schmutzig – sehr schmutzig. Hässlich und wirr, als wären die Häuser ohne Vorwarnung aufgetaucht. Nachts erinnern sie an umgekippte Müllhalden, deren glühende Fensteraugen in Düsternis starren. Andere verzichten auf Spuk oder Romantik, um einfach so vor sich hin zu stinken.
Diese hier war ein Holzschnitt in Schwarz und Weiß. Die sehr engen und gedrängten Linien darauf waren allesamt krumm und schief. Und da es sich um eine sehr alte Stadt handelte, gruben sie sich sehr tief ins Holz. Darüber konnte noch nicht einmal die Sonne hinwegtäuschen, die gerade über dem Meer aufstieg und alles in warmes Licht tauchte.
Ravenbrück, der oberste Zipfel Preußens.
Kleine, schiefe Fachwerkhäuser pressten sich dicht an dicht – so verhutzelt und verwinkelt, dass nicht einmal ein Pferdekarren durch die Gassen passte. Eine jener übel riechenden Fischereistädte, durch deren Straßen man nicht ging, nein, man schob und zwängte sich hindurch, häufig auf Fischabfällen ausrutschend.
Hierhin passte auch der bucklige Schatten, der über allem thronte. Drohend und abweisend. Das Waisenhaus. Der Ort der Vergessenen. Unzählige Schornsteine reckten sich in den Himmel, wie ausgemergelte Finger. Sie griffen nach den Wolken, doch erreichten sie nicht. Noch nicht. Aber das war nur eine Frage der Zeit.
Moritz Brenner verabscheute diesen Ort. Kaum ein Zimmer, das nicht halb auseinanderfiel oder sich aufgrund schiefer Treppen und morscher Dielen in kürzester Zeit in eine Todesfalle verwandelte. Und seine kleine Schwester mittendrin.
»Konstanze, wo bist du?« Er spähte hinunter in den kargen Vorhof. »Wo versteckst du dich?«
Keine Antwort.
Moritz fluchte. Konstanze wollte ihn ärgern, klar. Das tat sie nur, weil sie wusste, dass er die Verantwortung trug. Es war leichter, eine Katze zu baden, als auf sie aufzupassen. Warum konnte sie nur nicht so vernünftig sein wie er?
Stöhnend reckte er sich noch weiter aus dem Fenster, um ganz in die Tiefe blicken zu können; unter seinem Gewicht knackte der Holzrahmen. Weit und breit nichts zu sehen von Konstanze.
Moritz lehnte sich zurück und blickte an sich herab. Er war über und über mit Staub und Holzsplittern bedeckt. Großartig. Er klopfte seine Jacke sauber. Sie war viel zu schade für diese Umgebung. Seine Eltern hatten sie ihm vor über einem Jahr geschenkt, zu seinem zwölften Geburtstag. Danach war nichts mehr so gewesen wie zuvor.
»Konstanze, wo steckst du nur?«
Wie aufs Stichwort schepperte eine lose Schindel die Dachschräge hinunter. Sie prallte von der Regenrinne ab und sauste dann dem Erdboden entgegen. Moritz sah, wie sie auf dem Pflaster zerbarst. Panisch blickte er zum Dachfirst hinauf. Ihm stockte der Atem.
Da war Konstanze. Sie balancierte auf der obersten Dachkante … Nein, sie balancierte nicht, sie ruderte wild mit den Armen! Der Novemberwind peitschte ihr das Kleid um die Beine und zerrte an ihren dunklen Locken. Ihr bloßer Fuß suchte auf den Schindeln Halt. Sie drohte zu fallen.
»Konstanze, nicht!«, rief Moritz. »Komm auf der Stelle da runter!«
Langsam gewann Konstanze ihr Gleichgewicht zurück – aber nur für wenige Sekunden – im nächsten Moment fegte eine Windböe über die Dächer und erwischte sie mit voller Wucht. Das Mädchen taumelte und umklammerte das Rohr eines nahen Schornsteins. Es knackte. Der obere Teil des von Ruß und Rost zerfressenen Metalls brach ab und polterte die Dachschräge hinunter. Mit einem Aufschrei fand Konstanze Halt am First.
»Rühr dich nicht vom Fleck! Ich komme zu dir!«
Hastig kletterte Moritz auf den Sims. Von dort aus sprang er auf das erste Schrägdach, dann krabbelte er hoch zum First und balancierte hinüber zum Schornstein. Er musste sich selbst an den Überresten des Rohrs festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, als er seine kleine Schwester zu sich zog.
»Konstanze, was ist in dich gefahren? Bist du verrückt?« Ängstlich besah er sich Konstanzes Knie. »Hast du dir wehgetan? Bist du irgendwo verletzt?«
»Nein, Moritz. Es geht mir gut.«
»Bist du sicher?« Er untersuchte ihre schmutzigen Füße. »Manchmal merkt man das nicht sofort und hat trotzdem was gebrochen.«
»Ja-ha.« Es klang genervt.
Moritz verdrehte die Augen. Konstanze verstand einfach nicht, wie wichtig es war, dass ihr nichts passierte. Für sie war er nur ein Angsthase und Spielverderber.
»Ich wollte wissen, was das für ein seltsames Geräusch ist«, sagte sie.
»Was für ein Geräusch?«
SCHA-RACK. Ein blechernes Krächzen meldete sich aus dem abgeknickten Rohr. Moritz zuckte zusammen.
»Das da! Ich hab’s durch den Kamin gehört.« Mit einer geschickten Bewegung befreite sie sich aus Moritz’ Umarmung, um sich die Sache näher anzusehen.
»Warte, das ist viel zu gefährlich! Ich sehe nach und du hältst dich hier am Sockel fest, damit du nicht runterfällst. Verstanden?«
Er bekam ein Murren als Antwort. Zögernd erhob er sich und starrte in den düsteren Schlot. Innen steckte ein dürrer Schemen kopfüber in der Dunkelheit und krächzte um sein Leben. Moritz griff in das Rohr und förderte ein Bündel aus schwarz-weißen Federn zutage.
»Eine Elster!« Konstanze schlug die Hände vor den Mund.
Das Tier sah wirklich mitleiderregend aus. Mit weit geöffnetem Schnabel starrte die Elster ins Nirgendwo und atmete dabei so heftig, dass ihr gesamter Körper bebte. Ihr Gefieder war rußverschmiert und einer ihrer Flügel stand seltsam verdreht vom Körper ab.
»Sie ist verletzt«, sagte Moritz und ließ sich zu seiner Schwester auf den First hinunter.
»Wir pflegen sie wieder gesund, dann können wir sie behalten!«, rief Konstanze.
»Auf keinen Fall! Der Vogel kann dir in den Finger beißen. Außerdem kriegen wir Ärger, wenn Fräulein Bimmel das merkt. Du weißt doch, wie die ist.«
Konstanze wandte sich ab und schlang die Arme um die Knie. »Wenn Mama und Papa noch da wären, würden sie es erlauben.«
Moritz seufzte. Seitdem ihre Eltern gestorben waren, musste er für Konstanze alles sein: Vater, Mutter und Bruder zugleich. Er verspürte ein flaues Gefühl im Magen. Genau da, wo sein Herz hätte sein müssen, war seit fast einem Jahr ein Loch. Es war über Tage und Wochen langsam gewachsen. Da war eine Leere, die nicht mehr gefüllt werden konnte. Von niemandem.
Nachdenklich sah Moritz auf die zitternde Elster und fuhr sich durch die schwarzen Haare. Konstanze schniefte.
»Na gut. Wir verstecken sie unter dem Bett, da entdeckt sie niemand. Aber du musst mir versprechen, auf deine Finger aufzupassen.«
Konstanze wischte eine Träne fort und lächelte ihren Bruder an. »Ehrenwort, versprochen!«
»Das ist kein Scherz«, sagte Moritz und verstaute die Elster unter seiner Jacke. »Du machst dir keine Vorstellungen, was so eine Elster anrichten kann. Vielleicht wird dein Gesicht ganz grün und deine Haare wie Stroh! Und dann bekommst du überall braune Flecken – und am Ende siehst du aus wie, ähm, wie …«
»Eine Kartoffel?« Konstanze gluckste und ergriff die Hand ihres Bruders, um mit ihm zurück in ihr Zimmer zu klettern.
*****
Am anderen Ende von Ravenbrück kräuselten sich Wellen. Lautlos näherte sich etwas auf dem Wasser, schmal, schlank und schwarz wie Pech. Wie aus dem Nichts tauchte das Schiff auf und hielt auf den Uferdamm zu.
An Deck ließ der Hauptmann seinen Blick über das Getümmel im Hafen schweifen. Sein neues Revier. Ein Ort, innezuhalten, sich zu laben. Ein Ort voller Leben. Laut, gedrängt und vor allem … besetzt. Der Hauptmann erkannte die französischen Uniformen schon von Weitem. Auf Anweisungen eines Zollbeamten durchsuchten sie Waren, brachen Kisten auf und klopften Fässer ab. Mit unwirschen Gesten deuteten sie mal hierhin und mal dorthin, um ihren Kontrollen die nötige Autorität zu verleihen. Alles, was im Entferntesten an englische Güter erinnerte oder nicht ausreichend ausgewiesen war, wurde konfisziert. Die Handelssperre war intakt und betraf jeden. Auf Schmuggel stand vielerorts die Todesstrafe.
Der Hauptmann lächelte. Solange er sich erinnern konnte, segelten seine Herrin und er im Windschatten irgendeines Krieges. Schipperten von Hafen zu Hafen, nicht mehr als ein Gespenst auf hoher See. Ihm war nicht ganz klar, welchen Zauber die Komtesse bewirkte, doch ihr Schiff befand sich stets im Augenwinkel des Betrachters. Sichtbar und doch unsichtbar – geschützt vor neugierigen Blicken.
Sophie.
Der Name war haften geblieben. Er verteilte sich wie Gift in seinem Körper. Denk nicht daran, dass sie Menschen sind, hatte sein Vater immer gepredigt. Frag nicht nach ihren Namen.
Er war unvorsichtig gewesen, hatte seinen Posten verlassen. Die Gerüche an Bord machten ihn verrückt.
Sophie.
Namen hatten Macht. Waren sie nicht das, was die Menschen mit der Vergangenheit verband? Machten sie Menschen nicht sichtbar? Aber es war seine Pflicht, unsichtbar zu sein.
Er erinnerte sich noch gut an seinen Namen. Er war sein Geheimnis. Seine Mutter hatte ihn Nathaniel gerufen. Nathaniel Rien. Das schien eine Ewigkeit her zu sein.
Einmal hatte er seinen Namen in die Bordwand über seiner Schlafstätte geritzt. Dafür waren ihm die Hände mit kochendem Wasser verbrüht worden. Danach hatte er den Namen so lange mit dem Messer bearbeiten müssen, bis er kaum noch zu erkennen gewesen war.
Hier an Bord war er ein Niemand, ein Mann ohne Namen, ohne Identität. Ein Diener, sonst nichts.
Seine Hand suchte nach dem Amulett an seiner Brust und der Stein erwachte. Eine Erschütterung ließ die Planken unter seinen Füßen leise erzittern. Die Kreatur im Bauch des Schiffes rührte sich. Durch das Amulett sah er, wie sich ihre wilden Augen in der Dunkelheit der Messe öffneten und sich ihr Körper im Takt seines Herzens unruhig hin und her bewegte.
»Heute Nacht werden wir wieder jagen«, murmelte Nathaniel. Nur würde er diesmal vorsichtiger sein.