Читать книгу Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12 - Heiko Hentschel - Страница 9

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Ein Blitz zerriss die Nacht. Das Unwetter fegte ins Zimmer. Glas zer­splitterte. Wind und Regen peitschten zum Fenster herein. Moritz wälzte sich in seinem Bett hin und her. Etwas Riesiges kroch durch die Öffnung. Jemand schrie. Eine helle, kleine Stimme. Konstanze!

Mit einem Satz sprang Moritz aus dem Bett, plötzlich hellwach. Es war kein Traum! Wieder hörte er den Schrei.

Moritz stand mitten im Zimmer und starrte zum Erkerfenster. Die Läden waren aus den Angeln gerissen – überall lag Glas. Als der nächste Blitz den Fensterrahmen ausfüllte, sah Moritz das, was ihn eben noch in seinen Träumen verfolgt hatte. Den Umriss eines gewaltigen Ungetüms. Klauen, ein langer Schwanz, gewaltige Schwingen, ein gebogenes Maul und rot glühende Augen!

Ein … ein Greif!

Nein, das konnte unmöglich sein! Moritz’ Gedanken rasten. So etwas gab es nur im Märchen! Das Untier bewegte sich. Seine Gestalt, sein ganzes Äußeres, verschwamm vor Moritz’ Augen wie durch einen Zerrspiegel entstellt und setzte sich dann neu zu­­­sam­­men – in all seiner Schrecklichkeit. Das Geschöpf, groß wie ein Löwe, klammerte sich mit einer Pranke am Fensterrah­men fest. In seiner anderen hielt er – Moritz stockte der Atem …

»Konstanze!«

Mit einem grässlich knackenden Geräusch öffnete das Untier sein Maul. Tief in seinem Rachen loderte ein Feuer. Funken sprühten, als ob sie aus der Hölle selbst heraufgeflogen kämen. Sein Schrei vermischte sich mit dem Grollen des Donners und dem Heulen des Sturms. Dann krümmte sich die Kreatur und sprang hinauf zum First. Sie wollte verschwinden – mit Konstanze.

»Moritz!«, schrie seine Schwester.

Er stürzte hinterher, zum Fenster hinaus, hoch aufs Dach. Regen klatschte ihm ins Gesicht. Schnell kletterte er höher, bis er den ersten First erreicht hatte. Oben sah er sich um.

Das Ungetüm raste durch den Irrgarten aus kleineren und größeren Dächern. Es rammte Schornsteine und riss sie mit sich wie eine Geröll­­­lawine. Moritz nahm die Verfolgung auf. Er rannte eine Dachschräge hinauf und schlitterte sie auf der anderen Seite wieder hinunter. Konstanzes Stimme hallte durch den Sturm.

»Moooriiitz!!!«

Er schnellte wie ein Pfeil von der Sehne – bog um Schorn­steine, schlug Haken, das Ungetüm mit seiner Schwester immer im Blick.

»Konstaaanzeee!!!«

Das Monstrum öffnete die Flügel. Moritz’ Augen wurden groß. Oh nein, bitte nicht.

Ein letztes Mal mähte das rasende Ding einen Schornstein um. Etwas löste sich, flatterte vom Sturm getragen direkt auf Moritz zu. Er fing es auf. Konstanzes Haarband.

Das Ungetüm hatte das Ende des Daches erreicht und sprang. Ein Blitz zerfetzte den Himmel.

Die Flügel spannten sich. Das Monstrum segelte vom Dach des Waisenhauses durch den Regen davon, Konstanze in seinen Fängen.

Moritz stolperte, stürzte zu Boden. Er schlug hart auf und schlitterte unkontrolliert das Dach hinunter. Auf der linken Seite sah er einen Schornstein, dahinter ging es in die Tiefe. In letzter Sekunde verlagerte er sein Gewicht. Der Schlag gegen die Brust nahm ihm den Atem, doch der Schornstein stoppte ihn gerade noch rechtzeitig.

In der Ferne konnte er die Umrisse des Ungetüms sehen, dunkel und verschwommen.

»Konstanze«, murmelte er, seine Finger krampfhaft um das nasse Haarband geschlossen. Das war sein einziger Gedanke, bevor er das Bewusstsein verlor.

Konstanze.

Er konnte sie sehen.

Sie trat aus der Dunkelheit.

Stumm in ihr Nachtgewand gehüllt.

Weißes Licht fiel auf ihr Gesicht.

Ein Schatten näherte sich.

Kroch wie Pech über ihre starren Züge.

Verschluckte sie.

Ganz.

Konstanze erwacht. Sie ist nicht mehr als ein kleiner Funken, der in der Dunkelheit schwebt. Ein Geist ohne Körper, Gesicht oder Erinnerung. Alles, was noch an ihr haftet, ist ein Gedanke, ein Name: Moritz. Sie kennt weder seine Bedeutung noch seine Herkunft. Doch er ist tief in ihr eingebrannt, wie ein Mal. Langsam treibt der zitternde Hauch, der einmal Konstanze gewesen ist, durch die Finsternis, die endlos und kalt ist. Die Kälte eines dunklen Sees, ohne Grund, ohne Leben. Doch, da ist Leben. Kümmerlich und fein bewegt es sich überall. Es müssen Hunderte sein, vielleicht Tausende. Genauso winzig und geisterhaft wie sie, aber ebenso lebendig und atmend. Im nächsten Moment erstarrt alles. Etwas hat sich verändert. Etwas ist anwesend und bemächtigt sich ihrer Stimme. Es regt sich in der Dunkelheit und alle müssen ihm gehorchen. Direkt vor ihr schlägt das Etwas seine Augen auf. Gleißendes Licht durchzuckt die Finsternis. Ein grausamer Mund öffnet sich.

Behutsam setzte die Komtesse ihre Maske wieder auf und begann zu sprechen. Unzählige Mädchenstimmen erklangen im Chor. Und Konstanze war nun eine von ihnen.

Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12

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