Читать книгу Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12 - Heiko Hentschel - Страница 14
ОглавлениеDer Hunger war gestillt.
Nach dem Ritual war Nathaniel unverzüglich in sein Refugium an Bord des Schiffes zurückgekehrt, seine Kammer aus Glaskolben und Getier. Wie lange würde es dauern, bis seine Herrin nach einem neuen Mädchen verlangte? Einen Tag? Zwei Tage? Und wie lange würde es dauern, bis ihre Verfolger sie aufspüren würden? Seine Bewegungen wurden fahriger. Sein Geist floh panisch in alle Richtungen und drohte ihn zu zerreißen.
Er sollte für Sicherheit sorgen, doch wie sollte er das anstellen? In der Tiefe seines Herzens ahnte er, dass die Worte der Komtesse nur eine Provokation gewesen waren. Sie wusste, wie schwach und hilflos er war … wie sehr er auf die Hilfe seiner Kreatur angewiesen war. Er war das schwächste Glied in einer langen Kette von Männern, die ihr Leben einzig und allein dem Geleit und dem Fortbestehen der Komtesse gewidmet hatten. Nathaniel kannte die Geschichte auswendig. Sie wurde weitergegeben vom Vater zum Sohn, auf dass niemals in Vergessenheit geraten würde, welche Schuld einer seiner Vorfahren vor fast 300 Jahren auf sich und alle Nachkommen geladen hatte.
Damals stand Nathaniels Familie in den Diensten einer der einflussreichsten Adelshäuser ganz Europas, der Familie Flavée. Ein Haus, dem man nachsagte, es könne Könige stürzen und Päpste stellen. Diesem Geschlecht zu dienen, kam einem Ritterschlag gleich.
Doch Macht und Einfluss schaffen Feinde – und Feinden tritt man nicht ohne Schutz gegenüber. Eben diesen Schutz garantierte der Clan, dem auch Nathaniel entstammte. Sämtliche Mitglieder dieser Familie, ob Mann oder Frau, waren geübt im Kampf und in der Kriegskunst.
Oberster Hauptmann der Leibwache war ein Mann namens Ruprecht gewesen. Ein Hüne, mit einem Gesicht, das mehr Nadelstiche gesehen hatte als eine Flickendecke. Ihm folgten die Seinen treu ergeben und schützten das Haus Flavée vor den feindlichen Schatten, die immer wieder am Horizont auftauchten. Doch es gab Bedrohungen, denen man nicht mit Schwertern oder einer List beikommen konnte. Kräfte, die sich weder vertreiben noch bestechen ließen.
Man schrieb das Jahr 1513, als zum sechsten Geburtstag der einzigen Tochter des Hauses alle nahen Angehörigen und Verwandten auf dem Kastell der Flavées versammelt waren. Es sollte ein rauschendes Frühlingsfest werden, das drei Tage und drei Nächte dauern und ein unheimliches Leiden vergessen machen sollte, das wie eine düstere Wolke über der Familie schwebte.
Das Geburtstagskind, Komtesse Emilia Flavée, war der ganze Stolz der Familie. Sie war das einzige Kind, das nach über zwei Jahrzehnten der Unfruchtbarkeit empfangen worden war. Von Geburt an wurde sie wie ein Schatz behütet. Sie war das Schmuckstück der Familie, das Juwel, das man gerne zu öffentlichen Anlässen anlegt, um sich bestaunen und bewundern zu lassen – nur um es anschließend in seine Schatulle zurückzusperren, bis es wieder gebraucht wird. So geschah es auch der kleinen Emilia.
Nach offiziellen Auftritten wurde sie stets in ihre Kemenate zurückgeschickt. Ihre Tage waren gefüllt mit Unterrichtsstunden, in denen sie Poesie und Melodien beigebracht bekam, um sie wenig später in geselliger Runde vorzutragen. Stets lächelnd, perfekt frisiert und in prächtige Gewänder gehüllt, die ihr auf den Leib geschneidert waren. Anschließend verschwand sie wieder, als ob sie einem flüchtigen Traum entsprungen wäre.
Die wenigsten Hausdiener hatten die kleine Emilia jemals zu sehen bekommen. Aus Angst vor ansteckenden Krankheiten war nur einigen ausgewählten Kammerdienern und Zofen der Zutritt zu ihren Räumlichkeiten gestattet. Ruprecht gehörte zu denjenigen, die dieses Privileg genossen. Die niedere Dienerschaft kannte nur ihr Abbild, das die Wände des Kastells zierte. Wunderschöne Portraits, die versuchten, die engelsgleichen Züge des Mädchens auf Leinwand zu bannen, ihre Anmut einzufangen und sie zu verewigen.
Manchmal ertappten sich der Graf und die Gräfin Flavée dabei, wie sie sich wünschten, das zarte, feine Gesicht für immer konservieren zu können, um ihr zauberhaftes Lächeln, ihr putziges Näschen, ihre strahlenden Äuglein für immer zu erhalten. Denn mit jedem Lebensjahr – in dem sie ein Stück erwachsener wurde – verlor sie einen Teil ihrer Unschuld.
Der Glanz des Diamanten begann zu verblassen, im Alter von nicht einmal sechs Jahren.
Und eine seltsame Veränderung vollzog sich: Emilia lächelte nicht mehr – was man mühelos an den jüngsten Gemälden ablesen konnte. Mit fortschreitender Zeit fiel es immer schwerer, ihr einen freudigen Ausdruck zu entlocken.
Dem folgte alsbald die Stimme. Hinter vorgehaltener Hand wurde gemunkelt, das Mädchen sei von einem seltenen Leiden befallen worden. Einige behaupteten gar, sie hätte ihre Stimme ganz verloren. Die Spekulationen überschlugen sich und wurden durch häufige Hausbesuche diverser Mediziner angefacht.
Sämtliche Freude schien aus der Seele des Mädchens gewichen zu sein. Schwermut bemächtigte sich ihrer und verdunkelte ihr Gemüt, bis von dem ehemals so fröhlichen Antlitz nur noch ein Schatten übrig war.
In dem Monat vor Emilias sechstem Geburtstag verschwanden urplötzlich die Heilkundler aus dem Haus. Kurzzeitig glaubte man, das Mädchen hätte sein Leiden überwunden, denn der Graf höchstselbst hatte einen jungen, aufstrebenden Künstler in sein Heim bestellt, um anlässlich des bevorstehenden Wiegenfestes ein neues Portrait seiner Tochter anfertigen zu lassen.
Als der Maler der Familie seine Aufwartung machte, führte man ihn in die Kemenate der kleinen Emilia. Kurz darauf beobachteten die Diener, wie dieser mit gequältem Ausdruck zur Tür hinauslief.
Was auch immer der junge Mann gesehen hatte, es hatte ihm einen Schock versetzt.
Als der große Tag gekommen war, trafen von nah und fern die kostbarsten Geschenke auf dem Familiensitz ein. Selbst die umliegenden Städte und Grafschaften überbrachten aufwendige Gaben, einerseits, um ehrfurchtsvoll ihre Aufwartung zu machen, andererseits, um einen kurzen Blick auf das Geburtstagskind zu erhaschen, dessen mysteriöser Zustand die Gerüchteküche brodeln ließ.
Ihrer Pflicht folgend, oblag es Ruprecht und seinen Vasallen, die Geschenke nach fragwürdigen Objekten, giftigen Substanzen oder gefährlichen Tieren zu durchsuchen. Im angespannten Klima, das seinerzeit in der Provinz herrschte, musste man auf böse Überraschungen gefasst sein.
So durchlief jedes Präsent die Hände der Leibwache vor dem großen Festsaal. Auch die mit Pfauenaugen verzierte schwarze Schatulle, die ein Page in letzter Minute am Hoftor abgegeben hatte. Sie wurde sogleich zu Ruprecht gebracht, da keine schriftliche Botschaft beigefügt war.
Gerade als der Hauptmann die Schatulle mit einem Messer öffnen wollte, schwangen die Türen des Festsaales auf. Ruprecht hob seinen Blick und erstarrte …
In den letzten Wochen vor dem Fest hatte selbst er das Mädchen kaum noch zu Gesicht bekommen. Einzig und allein ihrer Kammerzofe war der Zutritt zu ihren Gemächern erlaubt gewesen. Doch der Hauptmann erinnerte sich noch gut an all die Gelegenheiten, bei denen er das Kind durch die Anlagen des Kastells eskortiert hatte. Wie lebhaft und strahlend ihr Blick gewesen war. Vergangenheit angesichts dessen, was er nun erblickt hatte.
Dort, wo das Geburtstagskind Emilia Flavée saß, erstarb jegliches Leben. Um sie herum war der ganze Festsaal in Bewegung. Schnatternde Gäste, die aßen und tranken, geschäftiges Treiben, laute Stimmen überall. Aber das Kind war allein und vergessen.
Sie saß abseits, umringt von Geschenken, und niemand nahm Notiz von ihr. All die Menschen, die wegen ihr hierhergekommen waren – und doch war nicht ein Einziger bei ihr. Sie war nur schmückendes Beiwerk. Das Juwel, das ganz oben auf einem Haufen Gold thronte. Eine Gefangene in einem unsichtbaren Käfig.
Einsamkeit zieht Einsamkeit an, so wie sich Schatten zu Schatten gesellen. Dunkle Gedanken, die ihresgleichen suchen.
Dieses traurige Mädchen war wie ein Magnet für das, was kommen sollte. Ein Geschenk, ein reisendes Etwas, auf der Suche nach seinem Gegenstück – und das schon seit Jahrhunderten.
Für einen Moment brannte die Schatulle wie Feuer. Ein Schmerz durchzuckte Ruprechts Arm. Das Kästchen entglitt ihm und verschwand in dem Korb zu seinen Füßen. Ein Schauer erfasste ihn, als sich die Türen wieder schlossen.
Er erinnerte sich an den Tag, an dem der junge Künstler davongelaufen war. Das war es also, was den Mann so verstört hatte. Ein leeres Kind.
Ruprechts Arm kribbelte, als würden Ameisen darüberlaufen. Nur ein Krampf, sagte er sich und griff nach dem Korb. Er war fort. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Wo war er? Wo war der Korb? Jemand hatte ihn mitgenommen … hatte ihn hineingetragen in den Festsaal. Und als der Schrei des kleinen Mädchens ihn wenig später erreichte, begriff er, welche Gefahr er hereingelassen hatte.
Es war die Maske. Glatt und schwarz und vollkommen aus Glas, lag sie auf blauem Samt, als die kleine Emilia die Schatulle geöffnet hatte. Der Korb mit den Präsenten war zu ihr gestellt worden und die Schatulle, ganz obenauf, hatte sofort ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie war nicht aus Gold oder Silber; sie funkelte nicht im Schein der Sonne. Stattdessen war sie dunkel und geheimnisvoll. Und sie flüsterte.
Ich weiß, wonach du dich sehnst.
Das Mädchen blieb stumm.
Du musst nie wieder allein sein.
Das Mädchen seufzte.
Willst du meine Freundin sein?
Das Mädchen nickte.
Lass uns spielen.
Ein Kreischen, das nicht von dieser Welt zu sein schien, riss Nathaniel aus seinen fernen Gedanken. Fast glaubte er, die Stimme seiner Herrin zu hören.
Gehetzt blickte er sich um. Kerzenflammen spiegelten sich auf den unzähligen Glasgefäßen, die den schmalen Gang zu seiner Koje auf beiden Seiten säumten. Diese Behältnisse – mal schlank, mal hoch, mal breit, mal bauchig – waren sein Totengarten. In jedem von ihnen schwamm der Leib einer uralten Kreatur. Wesen der Tiefe und der Schatten – angeschwemmt, gefunden und haltbar gemacht. Sie alle waren in massive Regale eingezwängt, die auch bei schwerem Seegang dafür sorgten, dass die Präparate nicht aus ihren Halterungen rutschten.
Wieder das Kreischen. Nathaniel beobachtete seinen Garten und entdeckte eine fette Ratte, die zwischen zwei riesenhaften Glaskolben feststeckte. Als er näherkam, sah er ihre wilden Augen, ihr wundes Maul und ihr von Fäulnis zerfressenes Fell. Er packte ein Messer und wollte ihr sogleich den Kopf abschneiden, als er zwischen den Gefäßen, ganz hinten in der finsteren Enge des Regals, eine Vielzahl von Augen aufleuchten sah. Noch mehr Nager. Sie drängten sich dicht aneinander und schienen miteinander verwachsen, ja verklebt zu sein. Ein Rattenkönig, durchzuckte es Nathaniel. Das Ungeziefer war durch seine Schwänze aneinandergeknotet wie ein einziger wuselnder Organismus.
Ein Schreien und Schaben hob an, als Nathaniel das blitzende Messer in seiner Hand wog. Dann, ohne weiter darüber nachzudenken, steckte er das Messer durch den Spalt zwischen den Gefäßen und vollführte eine schnelle Bewegung. Wieder erklang das Kreischen, doch diesmal flitzte die vormals eingeklemmte Ratte an ihm vorbei und suchte mit blutendem Schwanzende das Weite.
Seine Rattenkameraden in den Schatten rumorten weiter, trampelten die Schwächeren und Toten unter ihnen nieder, in absoluter Hilflosigkeit. Sie würden vermutlich nie einen Weg aus der Beengtheit der Regale herausfinden und schließlich dort verrotten.
Nathaniel betrachtete die Blutspritzer auf der Messerklinge. Vielleicht war es klüger einen Körperteil zu verlieren, als in der Dunkelheit zu verenden.
Ein Gedanke formte sich in seinem Kopf: ein Schutzmantel, ja, das brauchte er für das Schiff und seine Kreatur. Etwas Undurchdringliches, das den Blick ihrer Verfolger verschleierte. Er brauchte Wachs. Sehr viel Wachs.