Читать книгу Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12 - Heiko Hentschel - Страница 8
ОглавлениеDonner grollte. Der Abendhimmel bereitete sich auf einen gewaltigen Sturm vor. Die ersten Böen jagten bereits über die Häuser. Sie lockerten Schindeln und zerrten das letzte Laub von den schon herbstkahlen Bäumen.
Im Waisenhaus hatte man begonnen, die Fenster und Türen zu sichern. Fräulein Bimmel, die Leiterin des Hauses, schritt mit griesgrämiger Miene von Zimmer zu Zimmer, um höchstpersönlich die Barrikaden zu begutachten.
Wenn man überhaupt etwas Gutes über Fräulein Bimmel sagen konnte, dann, dass sie groß war. Und das in jeder Beziehung. Ihre Gestalt war so riesenhaft, dass so manch gestandener Mann vor Angst die Flucht ergriffen hatte. Sie hatte große Hände, große Schultern, große Beine und große Hüften, die sie jeden Morgen in eine kornblumenblaue Scheußlichkeit von Kleid zwängte. Selbst ihr Busen wirkte überdimensional. Nun wäre es sicher naheliegend anzunehmen, dass in so einer übergroßen Brust auch ein ebenso großes Herz schlägt – doch weit gefehlt. Ihr Herz war noch kleiner als ihr Mund und dieser kannte zusammen mit dem Rest ihres Gesichtes nur einen Ausdruck: beleidigt!
Grob rüttelte Fräulein Bimmel an den vernagelten Fensterläden in der Küche, wo zu dieser Stunde eine Handvoll französischer Soldaten schweigend ihr Abendessen einnahm; sie waren permanent hier einquartiert, ein Umstand, der per Erlass von den Besatzern durchgesetzt worden war. Die Männer taten gut daran, das Fräulein nicht anzusprechen. Einer hatte es einmal gewagt und war nur mit einem Nachttopf bekleidet auf dem Dach aufgewacht. Seitdem ging das Gerücht, dass die Geheimwaffe des Preußischen Reiches Fräulein Auguste Bimmel hieße.
Das Fräulein grunzte, als die Inspektion beendet war. Das bedeutete gemeinhin, dass sie leidlich zufrieden mit der geleisteten Arbeit war. Die Köchin und die Magd, deren Fenster die Prüfung bestanden hatten, tauschten besorgte Blicke aus, bis das Fräulein endlich wieder den Raum verließ. Sie war heute in besonders grässlicher Stimmung.
Direkt unter dem Dach, auf einem kleinen Nachtisch, brannte eine Kerze. Ihr Schein fiel auf ein blank geputztes Medaillon aus feinem Silber, das die Silhouetten einer Frau und eines Mannes zeigte: Luise und Lutz Brenner, die Eltern von Moritz und Konstanze.
Dieses Schmuckstück war das Einzige, was den beiden Geschwistern von ihren Eltern geblieben war. Alles andere war nach ihrem Tod verbrannt worden. Aus Angst, wie Moritz wusste. Denn wenn in einem Haushalt Influenza ausgebrochen war, wussten sich die Leute nicht anders zu helfen. Die letzte große Epidemie steckte allen noch tief in den Knochen. Auch sämtliche Kleidungsstücke wurden ins Feuer geworfen – und doch war es Moritz gelungen ein paar Sachen vor dem Ofen im Keller des Waisenhauses zu retten.
»So, jetzt bist du fertig.«
Moritz blinzelte. Die Stimme seiner Schwester drang in sein Bewusstsein. Sie saß mit dem Rücken zu ihm im Schneidersitz auf den Dielen, wo er gerade dabei war, ihr graues Nachtgewand am Rücken zuzuknöpfen.
Die Elster hopste von ihrem Schoß herunter und inspizierte den Verband, der ihren Körper stützte. Seltsamerweise versuchte sie nicht ihn loszuwerden, sondern keckerte nur leise, als sie die winzige Schleife an ihrer Brust entdeckte. Moritz kannte Elstern. Sie waren weder zu übersehen noch zu überhören, wenn sie sich in den Gassen mit den Möwen um die Abfälle stritten. Aber diese hier war anders. Sie reagierte ruhig und friedlich, fast wie ein Mensch.
»Du brauchst unbedingt einen Namen«, sagte Konstanze.
Moritz, der gerade den letzten Knopf an ihrem Gewand geschlossen hatte, schnappte sich zum vermutlich hundertsten Mal am heutigen Tag das rosa Haarband seiner Schwester. »Jetzt halt bitte still, sonst kann ich deine Schleife nicht richtig zubinden.«
»Wie wär’s mit Theo?«, fragte Konstanze und legte den Kopf schief. Die Elster ahmte sie nach.
»Scha-rack!« Es klang unzufrieden.
»Stillhalten habe ich gesagt.«
»Also, es ist auf jeden Fall ein Männchen. Das sieht man an der Form seines Schnabels!«
Moritz seufzte. »Wenn du meinst.« Er war immer noch vertieft in seine Arbeit mit dem Zopf. Irgendwann musste er es doch schaffen, die Haare so zu binden, dass alles an seinem Platz blieb. »Fertig!«
Konstanze entspannte sich und sprang auf. Sie hüpfte wild über die Betten und steuerte dann schnurstracks auf das Medaillon zu.
»Heute bin ich dran«, verkündete sie und griff danach.
»Nein, gib es wieder her!«, rief Moritz. »Du hast es gestern Abend schon gehabt.«
»Hab ich nicht!«
Ein Moment der Unachtsamkeit und Moritz hatte ihr das Medaillon wieder abgenommen. Er hielt es hoch über ihren Kopf. »Mama und Papa haben mir die Verantwortung übertragen. Ich bin der Erwachsene, also sage ich, wer es bekommt.«
»Mama und Papa haben gesagt, wir sollen es uns teilen!« Sie hüpfte hoch, um es zu erreichen.
Moritz verfluchte sich. Da war sie wieder, die Lüge. Er hatte seiner Schwester nie erzählt, wie er wirklich an das Medaillon gekommen war. Die Wahrheit war zu schrecklich. Warum hatte er ihr überhaupt davon erzählt?
Abermals sprang Konstanze nach oben. Sie bekam den Anhänger zu fassen und riss daran.
»Lass das! Du machst es kaputt«, rief Moritz.
Konstanze schrie hell auf. Sie zog noch fester an der Kette. Die Elster krächzte erschrocken und brachte sich unter dem Bett in Sicherheit.
Moritz dämpfte seine Stimme. »Hör auf zu schreien! Wir kriegen noch Ärger!« Aber Konstanze schrie weiter, den Anhänger so fest im Griff, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden.
»Sei leise! Bitte!«
Doch es war zu spät. Die Tür flog auf und eine bekannte Stimme donnerte ins Zimmer. »Was ist denn hier los?«
Moritz wurde kalkweiß. Fräulein Bimmel stand mitten in der Tür, mit einem Gesicht, das Milch hätte sauer werden lassen können.
»Er hat das Bild von Mama und Papa«, rief Konstanze, »und ich bin heute dran, es zum Einschlafen zu haben.«
Das Fräulein hob eine Augenbraue. »Stimmt das, junger Brenner?«
Moritz schluckte. Fräulein Bimmel hatte ihn mit seinem Nachnamen angesprochen – kein gutes Zeichen. »Sie hatte es schon gestern. Sie erinnert sich nur wieder nicht.«
»Gar nicht wahr!«, blökte Konstanze.
»Wohl wahr!«, schnaubte Moritz. Warum musste sie immer alles noch schlimmer machen?
Fräulein Bimmel reckte sich und der Raum schien zu schrumpfen. Ihre Mundwinkel erklommen einen Teil ihres Gesichts, der nur sehr selten Besuch bekam. Sie lächelte, die Parodie eines Lächelns. »Nun, da gibt es wohl nur eine Lösung.«
Ihre Hand senkte sich vor Moritz herab, der ängstlich die Augen zusammenkniff. Und als sie wieder verschwand, hatte das Medaillon den Besitzer gewechselt.
»Nein, bitte nicht!«
»Ich behalte es heute Nacht«, sagte das Fräulein und lächelte. Bereits das zweite Mal an diesem Abend – ein unheimlicher Rekord. »Wenn ihr euch wieder vertragen habt, könnt ihr morgen zu mir kommen.«
»Aber …« Unwillkürlich macht Moritz eine Bewegung auf sie zu.
»Ihr Brenners solltet auch schon längst schlafen.« Ihr Lächeln gefror. »Ich komme gleich und kontrolliere das. Wenn ich dann noch Licht sehe, dann …« Sie schwenkte das Medaillon wie ein Pendel und ließ es in ihre Tasche gleiten. Mit einem RUMS! schloss sie die Tür hinter sich.
Moritz war wie erstarrt. Sein Mund staubtrocken. Er hörte die Stimme seiner Schwester. »Tut mir leid, Moritz.«
Aber Moritz rührte sich nicht. Er starrte auf die Tür. Dann irgendwann, sank sein Kopf nach unten: »Warum verschwindest du nicht einfach …«
Ohne Konstanze noch einmal anzusehen, ging er zu seinem Bett, löschte die Kerze und zog sich die Decke über den Kopf.
»Es tut mir leid!«
Moritz hörte seine Schwester in der Dunkelheit schniefen. Aber es war ihm egal. Kurz darauf krabbelte sie in ihr Bett, wo sie leise weiter wimmerte. Er schloss die Augen und glitt hinüber in einen unruhigen Traum, während draußen vor dem Fenster der Sturm begann.