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Karl Wilhelm Diefenbach, 1851-1913, Künstler und Lebensreformer, Hadamar

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Der malende Messias

Er war ein charismatischer Mensch, der niemanden kalt ließ, der ihm begegnete. Die einen verehrten ihn als visionären Maler und Messias einer Naturreligion, die anderen verhöhnten ihn als Kohlrabi-Apostel. Das Leben des Künstlers Diefenbach war ein ständiger Kampf mit der erstarrten Bürgerlichkeit der Jahrhundertwende, mit seinen widersprüchlichen Triebkräften und seinen vielen Krankheiten.

In Hadamar, am Rande des südlichen Westerwalds, wird er am 21. Februar 1851 in eine arme, sehr religiöse Familie hineingeboren. Vom Vater, Zeichenlehrer am Gymnasium, erbt er die künstlerische Begabung, aber auch die Anfälligkeit für Krankheiten. Und die fürsorgliche Mutter hinterlässt ihm seine lebenslange Sehnsucht nach einer hingebungsvollen Frau, die »wie Wachs mich umfließt«. Vom Wunsch beseelt, Maler zu werden, bricht er die Schule ab, schlägt sich als Gehilfe eines Fotografen durch, bis er es an die Kunstakademie in München schafft. Als seine Eltern 1875 kurz hintereinander sterben und er in lähmende Trauer verfällt, kritisiert ihn der Herzog von Nassau, der sein begabtes Landeskind mit Aufträgen und Stipendien fördert, er solle sich mehr um seine Entwicklung als Künstler sorgen. Stolz antwortet Diefenbach: »Hoheit, meine Aufgabe ist es in erster Linie, Mensch zu sein.«

An der Akademie werden seine Gemälde, die von der mystisch-symbolischen Kunst Franz von Stucks und den Historienschinken von Piloty beeinflusst sind, durchaus anerkannt. Jedoch wird seine Ausbildung unterbrochen durch eine schwere Typhus-Erkrankung, die wegen eines ärztlichen Fehlers schließlich zum Verlust großer Teile der Muskulatur des rechten Armes führt. Die andauernde Vereiterung heilt er 1878 durch eine wochenlange Traubenkur in Italien. Das ist das Schlüsselerlebnis für seine Lebensreform! Vier Jahre später gründet er in München den Verein »Menschheit«, der das Programm einer neuen natürlichen Lebensweise vertritt: Radikaler Verzicht auf Fleisch, Alkohol, Koffein und Tabak – und das mitten im Eldorado der Schweinshaxen und des Bieres. Gegen die Fischbeinkorsetts für Damen, die ihren Brustkorb verformen, und die steifen Kragen für Herren, sogenannte »Vatermörder«, propagiert er eine leichte wollene Kleidung für beide Geschlechter in der Art einer Mönchskutte. Langhaarig und mit wildwachsendem Bart wandelt er prophetengleich durch München und hält in großen Sälen gut besuchte Vorträge darüber, wie der Mensch leben sollte. Dazu gehört vor allem auch eine Abkehr von den christlichen Religionen mitsamt ihrer rigiden Sexualmoral.

Sein eigenes Verhalten erscheint dabei allerdings ethisch fragwürdig. Zunächst geht er eine Liebesbeziehung mit Maximiliane Schlotthauer ein, die er beim Schlittschuhlaufen kennen lernt, trennt sich aber von ihr, weil sie ihm ein uneheliches Kind aus einer früheren Beziehung verheimlichte. Doch lässt er sie nie ganz los, denn immer wieder ruft er seine »Maja« zu sich, wenn es ihm dreckig geht. Parallel zu dieser Affäre hat sich ihm Margarete Atzinger als Krankenpflegerin so weit genähert, dass sie von ihm schwanger wird und 1880 den Sohn Helios zur Welt bringt. Durch seelische Erpressung gelingt es ihr, ihn in eine – wie sich später erweisen wird – Ehehölle zu drängen. Am Tag nach der Hochzeit flieht Diefenbach auf den Hohenpeißenberg in die Einsamkeit. Beim Anblick der aufgehenden Sonne und der erleuchteten Kette von Alpengipfeln widerfährt ihm dort ein Erweckungserlebnis: »Erkenne, Menschheit, deine Mutter, die NATUR, die rein und frei als höchstes Wesen dich geboren…«

Dass immer mehr junge Männer und Frauen diesem faszinierenden Guru am Kuttenzipfel und, wenn weiblich, an den Lippen hängen, reizt das Münchner Bürgertum und die Obrigkeit ungemein. Auf der Straße wird ihm »Orang-Utan« und »Kohlrabi-Apostel« nachgerufen, seine Vorträge werden verboten, und die Presse feindet ihn an. Vor diesen Angriffen zieht sich Diefenbach mit Familie und Gefolgschaft in einen Steinbruch bei Höllriegelskreuth zurück und gründet in einem verlassenen Arbeiterhaus seine erste Kommune: HUMANITAS, Werkstätte für Religion, Kunst, Wissenschaft.

Hier stößt als Malschüler der junge Hugo Höppener zu ihm, den Diefenbach »Fidus«, der Getreue, nennt, ein Künstlername, mit dem Höppener später als Jugendstil-Maler bekannt wird. Fidus hilft seinem oft bettlägerigen »Meister«, das große Gemälde »Kindermusik« zu vollenden, später unter dem Titel »Per aspera ad astra« berühmt geworden, ein Fries von 68 Metern Länge, der heute im Schlossmuseum Hadamar zu bestaunen ist.


»Per aspera ad astra« (Eine Tafel des Frieses, aufgenommen im Schlossmuseum Hadamar)

Doch Diefenbachs Gegner belauern ihn. Ein Gendarm beobachtet die nackt in der Wildnis von Höllriegelskreuth herumtollenden Kinder Helios und Stella und sieht auch Fidus, der »im adamitischen Kostüm seinen Allerwertesten unehrerbietig zum Himmel gerichtet« habe, so die Zeitung »Münchner Post« im August 1888. Diefenbach und sein Schüler werden im ersten Nudisten-Prozess Deutschlands wegen unsittlichen Gebarens angeklagt und verurteilt.

Von der Sensationspresse gejagt und von Schulden gedrückt nimmt Diefenbach 1892 den Vorschlag des Direktors des Österreichischen Kunstvereins an, seine Werke in Wien auszustellen. Die Ausstellung, für die er großformatige Bilder in kurzer Zeit malt, wird ein riesiger Erfolg. Angelockt von dem Ruf des Künstlers als skandalöser Bürgerschreck eilen die Neugierigen zu Zehntausenden herbei. Die beträchtliche Summe der Eintrittsgelder unterschlägt Direktor Terke und treibt Diefenbach durch ein betrügerisches Darlehen auch noch in den Ruin und die Obdachlosigkeit.

Mit seiner Familie und einer kleinen Schar seiner Getreuen verlässt er Österreich und wandert zu Fuß über die Alpen nach Italien. Schließlich landet er am Gardasee, wo er Unterkunft auf einem Besitztum der Herzogin von Ferrari findet. Angetan von seiner Kunst finanziert sie ihm eine Reise nach Ägypten, wo er sich mit seinem Gefolge in einer kleinen Villa bei Kairo niederlässt. Die Besichtigung der Sphinx in Gizeh beflügelt ihn zu dem monumentalen Entwurf eines 250 Meter langen und 40 Meter hohen Tempels »HUMANITAS« – Zeugnis des Größenwahns, der ihn so manches Mal packt.

Zurückgekehrt aus Ägypten versucht Diefenbach, noch einmal in Österreich Fuß zu fassen. In Himmelhof bei Wien gründet er 1897 eine Landkommune, die Vorbild für viele der folgenden ökologischen und spirituellen Experimente des Zwanzigsten Jahrhunderts wird. Bis zu 20 Jünger und Jüngerinnen sammeln sich um ihn und seine Lehre, darunter der junge Gusto Gräser, der später die legendäre Gemeinschaft auf dem Monte Verità bei Ascona gründet, von der sich Hermann Hesse und viele andere Geistesgrößen inspirieren lassen. Doch das Zusammenleben in Himmelhof ist konfliktreich. Diefenbach tritt sehr patriarchalisch auf, verlangt von allen Jüngern Tagebuchaufzeichnungen, die er kontrolliert, und fordert Keuschheit innerhalb der Gemeinschaft, ein Gebot, das für ihn nicht gilt. Nach und nach verlassen ihn deshalb die besten Köpfe der Kommune, an der Spitze sein Lieblingsjünger Gräser.


Du sollst nicht töten, 1903


Diefenbach in der Kommune »Himmelhof« bei Wien

Ein letztes Mal macht sich Diefenbach auf, um endlich an einem paradiesischen Ort zur Ruhe zu kommen. über die Zwischenstation Triest erreichen er und die Seinen Capri, wo er schließlich in der »Casa Grande « auf einer Klippe über dem Mittelmeer seine Lebensflucht enden lässt. Obwohl von allen möglichen Gebrechen geplagt, zieht Diefenbach auf Capri eine Reihe von jüngeren Frauen in seinen Bann, die ihn umsorgen, ab und zu auch sexuell. Noch einmal gerät er in einen Schaffensrausch, malt die Fels- und Meerlandschaft, wird mit seinen Bildern wohlhabend. Doch wird er als Künstler nur auf der Insel wahrgenommen, in Österreich und Deutschland ist er vergessen.


»Der Rettung entgegen«, Öl auf Leinwand, Capri 1913

Bis in seine letzten Tage arbeitend, stirbt am 15. Dezember 1913 der Verkünder eines befreiten Lebens, der oft Bewunderte und oft Verlachte – unter Qualen an einer Krebserkrankung.

CG

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