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Paul Deussen, 1845-1919, Philosoph und Indologe, Oberdreis

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Nietzsches Freund

für mich ist Deussen neben August Sander und Friedrich Wilhelm Raiffeisen der Dritte im Bunde Westerwälder Kulturgrößen, deren Namen Weltgeltung haben. Lange Zeit, obwohl ich selbst in seinem Geburtsort lebe, hatte ich seinem Leben und Werk keine Beachtung geschenkt.

Es sei daher hier kurz erzählt, wie ich schließlich doch zu Paul Deussen kam. Schuld daran ist Nietzsche, der als junger Student einmal in Köln in ein Bordell geraten ist. Dort klimperte er freilich nur nervös ein paar Takte auf einem Klavier und nahm vor den verführerischen Schönen Reißaus, was er am nächsten Tag seinem Freund Paul erzählt. Der hat’s dann später aufgeschrieben, auf eine Weise, dass kein Geringerer als Thomas Mann davon beeindruckt war und die Szene in seinen Roman Doktor Faustus übernommen und ausgeschmückt hat.

Als ich vor einigen Jahren für einen »Literarischen Reiseführer Rheinland-Pfalz« den Westerwald als literarische Landschaft untersuchte, war ich heilfroh über diese Entdeckungen, denn markante Kulturspuren im Westerwald schienen mir durchaus überschaubar. Deussens eigenes Werk interessierte mich freilich am Anfang herzlich wenig. Ich war zwar schon viele Jahre Mitglied der Schopenhauer-Gesellschaft, wusste also, dass unser Oberdreiser Kopf Paul Deussen ihr Begründer war und die erste historischkritische Gesamtausgabe Schopenhauers herausgegeben hatte, doch was sollte ich beispielsweise anfangen mit einem Werk, das den Titel trägt Die Sutras des Vedanta oder die Shariraka-Mimansa des Badarayana?


Ehemaliges Pfarrhaus in Oberdreis, Deussens Elternhaus

In Oberdreis am 7. Januar 1845 als Pfarrerssohn geboren, wuchs Paul Deussen mit sieben Geschwistern in einer landwirtschaftlich geschäftigen Pfarrei auf; seine Mutter unterhielt ein angesehenes Mädchenpensionat. Paul ging zunächst wie alle Oberdreiser Kinder zur Elementarschule und wechselte später auf ein Gymnasium in Elberfeld. Ab 1859 besuchte er die fürstenschule Pforta bei Naumburg.


Deussenstraße in Oberdreis

Dort lernte er Friedrich Nietzsche kennen. Nach dem Abitur nahmen die beiden ihr Studium in Bonn auf. Auf dem Weg dorthin im Herbst 1864 und dann noch einmal 1865 über Karneval war Nietzsche für einige Tage bei den Deussens in Oberdreis zu Gast. In einem Brief an seine Schwester Elisabeth wird er später dem Westerwald nachsagen, er sei »grua-, grua-, gruselich kalt«. Ein andermal spricht Nietzsche von dem »glücklichen Oberdreis « – unschwer ist da die Ironie herauszuhören, wenn nicht gar der Seufzer der Erleichterung, dass ihm das Glück einer Oberdreis-Existenz erspart geblieben ist – wie auch ein »Schwager Paul«: als ihm die eigene Schwester eine Schwester Deussens als Lebensgefährtin ans Herz legte, wies er das Angebot höhnisch-höflich zurück. Nach den ersten Semestern in Bonn studierte Deussen in Tübingen und Berlin, spezialisierte sich nebenher auf Sanskrit und las, von Nietzsche angeregt, intensiv Schopenhauer. Seine Doktorarbeit schrieb er, 1868 zu Hause in Oberdreis, über den Plato-Dialog Sophistes; lange Zeit blieb ihm der Sinn dieser Schrift verborgen, bis er sich ihm endlich bei einem Gang auf den Oberdreiser Kopf erschlossen habe, so Deussen in seinen Lebenserinnerungen.


Aus: Paul Deussen, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, Leipzig 1901

In den Ferien vertrat er nicht selten seinen alten Vater im Gottesdienst. Er verstand sich durchaus als Christ, wenn auch eher in dem Sinne, dass der Kern aller Religionen identisch sei, »mit einer anderen Schale, mag sie nun etwas mehr oder weniger vollkommen sein – unvollkommen sind sie alle.«

Zunächst tätig als Lehrer in Minden und Marburg, übernahm er bald eine gutbezahlte Hauslehrerstelle bei einer russischen Adelsfamilie, um deren Sohn er sich in Genf und Aachen kümmerte – mit dem absurden Abschluss, dass sich sein Schüler bei einem Ehrenhandel erschießt. Er hielt erste Vorlesungen an den dortigen Universitäten, vertiefte sich in die heiligen Schriften Indiens und korrespondierte mit Nietzsche, der, sensationell früh in Basel zum Professor ernannt, ihn immer wieder provozierte, ihm etwa »Bauernstolz« vorwarf und ihn einen gelehrten »Kleinkrämer« nannte.


»Ekam sad vipra bahudha vadanti« (Rigveda I, 146, 46) »Die Wahrheit ist eine einzige, die Gelehrten erklären sie auf vielfältige Weise«. Deussen übersetzt: »Vielfach benennen, was nur eins, die Dichter.«

Wenige Jahre später sprach Nietzsche von dem »ersten wirklichen Kenner der indischen Philosophie in Europa, meinem Freunde Paul Deussen.« Der hatte sich 1881 in Berlin mit dem Werk Das System des Vedanta habilitiert, die 19 Jahre jüngere Marie Volkmar geheiratet und war schließlich Professor für Philosophie in Kiel geworden, wo er, zuletzt halberblindet, bis zu seinem Tode am 6. Juli 1919 als international geschätzter Denker wirkte, der erste Universitätsphilosoph überhaupt, der in Wort und Schrift die altindische Gelehrtensprache, das Sanskrit, beherrschte, und dies in einer brahmanischen Priestern ebenbürtigen Kompetenz. Der Hindu-Heilige Vivekananda, ein Schüler Ramakrishnas, hat ihn in Kiel besucht.


Ornament von Ernst Schneidler. Aus: Die altindische Philosophie nach den Grundworten der Upanishads. übersetzt von Paul Deussen. Jena 1914

Von hier aus machte er immer wieder weite Reisen, anfangs auch mit seiner Frau. So suchten sie Friedrich Nietzsche in seinem Schweizer Bergnest Sils-Maria auf; der Freund war von der jüdisch-melancholischen Schönheit Mariechens beeindruckt. 1891/92 unternahmen sie eine halbjährige Indienreise, wo ihm die hohe Ehrung der Umgürtung mit der heiligen Opferschnur der Brahmanen zuteil wurde und die sanskritische Form seines Namens: Devasena. Am liebsten aber fuhr Deussen nach Rom zu seiner Freundin Henriette Hertz, einer Kunstmäzenin – wie seine Frau deutsch-jüdischer Herkunft –, die 1912 an der Via Gregorina ein bedeutendes kunsthistorisches Institut gründete, die »Bibliotheca Hertziana«. Mehrfach kam er auch zurück in sein Heimatdorf. Hatte schon Nietzsche in einem Brief an seine Schwester Elisabeth gefragt: »Willst Du nicht einmal Oberdreis ansehn?«, so ist diese Frage heute um so berechtigter, zumal sich hier, gleich neben der evangelischen Kirche, Deussens Elternhaus und Grabstätte befinden.

Falls Sie auf Deussen neugierig geworden sind: Fangen Sie mit dem ersten Band seiner Philosophiegeschichte an, der Sie behutsam, vom bekannten Denken des Westens ausgehend, ins Indische führt. Lesen Sie in Ergänzung meiner Biographie Deussens eigene Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, beschaffen Sie sich seine Elemente der Metaphysik, deren wunderbare Schluss-Sätze an Kant gemahnen, an dessen Aussage vom bestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir. Und falls Sie ein Faible haben für das fernöstlich Meditative, vielleicht angeregt durch eigene Yoga-Übungen, so nehmen Sie seine weltberühmte Upanishaden-übersetzung zur Hand. Paul Deussen, durchaus klischeehaft sich vorzustellen als wilhelminischer Professor mit Schlapphut und Gehrock, weißem Bart und Goldbrille: ein Geistessouverän, alle Barbarei und Gewalttätigkeit verabscheuend, also auch den Ersten Weltkrieg: ein Pionier als übersetzer heiliger Hindu-Schriften, ein global philosopher, dessen Stimme im heutigen interreligiösen Diskurs weiterhin Gehör verdient. Sein Werk war z. B. für Hesse, Gandhi, Max Beckmann, Jorge Luis Borges oder Erwin Schrödinger Quelle und Anregung. Ja, es ist ungemein lohnenswert, sich mit dem Denk- und Lebensweg dieses Westerwälders zu beschäftigen, der, vom Dorfe kommend, auszog, im Weltdorf die metaphysische Vielfalt zu studieren, beseelt von der Ahnung ihrer geheimen Einheit, bestrebt, nationale und religiöse Enge zu überwinden.

HF

E i n e n Nutzen wird das allgemeinere Bekanntwerden der indischen Weltanschauung doch haben, diesen nämlich: uns zum Bewußtsein zu bringen, daß wir mit unserm gesamten religiösen und philosophischen Denken in einer kolossalen Einseitigkeit stecken, und daß es noch eine ganz andere Art, die Dinge anzufassen, geben kann.

Paul Deussen

Denken mit Deussen

Die schöne Ruhe in den Deussen-Schriften, der seine Gedanken am liebsten laut vortrug, vor großem Publikum. Bei Nietzsche hat man in aller Lesestille den Eindruck, angeschrien zu werden.

Der Tod schien ergeben gewartet zu haben, bis Deussen mit seiner Philosophiegeschichte von den Ursprüngen übers Mittelalter in der Neuzeit, vom Orient wieder im heimischen Okzident angelangt war.

Die verblüffende Ähnlichkeit des Steinblocks bei Surlej im Engadin, wo Nietzsche 1881 sein mystisches Erlebnis der Ewigen Wiederkunft hatte, mit dem Beilstein bei Oberdreis im Westerwald, in dessen Nähe dem jungen Deussen 1868 urplötzlich das unwandelbare Eine im Schein der Vielheit aufleuchtete. Deussens Basaltbrocken, Nietzsches Granitfels – »große, leise sprechende Natur«.

Neben dem Beilstein gibt es in Oberdreis ein zweites Naturdenkmal: eine uralte Eibe. Auch Nietzsche wird sie bei seinem Aufenthalt in Oberdreis gesehen haben. Seither ist im Ort die Redewendung geläufig: Wenn du zur Eibe gehst, vergiß den Nietzsche nicht.

Nietzsche, der Un-Freund, der fortwährend Bedingungen stellte. Deussen war im Grunde mit allen Menschen gut Freund, nur mit einem nicht, mit Nietzsche. Nietzsche gekannt, erduldet, überstanden zu haben – eine Lebensleistung an sich.

Deussens Fahrt in Eilzügen durch Indiens Nächte, als trüge es ihn beinahe schon außerhalb von Raum und Zeit an das Ziel der immerwährenden Wahrheit; die moderne Beschleunigung als metaphysische Hilfe, und keine Pferde-, Kuh-, Elefantenstärke.

Immer wieder lugt aus den Schriften Deussens der lustige Paul hervor, so wenn er im Index die Heiligen Wahrheiten zwischen Hasenhorn und Heuhund plaziert, Frauen, mehrere erlaubt, die Tänzerin weit, weit vor dem Tod auftreten läßt, dann aber festhält: Weiber ausgeschlossen.

… »etwas so völlig Sinnloses und daher gerade besonders Geeignetes wie die Silbe Om …«

Aus: Heiner Feldhoff, Paul Deussen und ich, Nachträge aus Oberdreis. 2011

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