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Der Westerwald und seine Menschen (II)
ОглавлениеCarl Gneist
Wir kamen, blieben und sind noch da …
Der eine im Herzen des Ruhrpotts aufgewachsen. Der andere, in Berlin geboren, verbrachte seine Kindheit und Jugend in der Lüneburger Heide – wie konnten gerade die beiden Autoren Feldhoff und Gneist es wagen, die Geschichten bekannter Westerwälder Persönlichkeiten zu erzählen? Die einfache und auf der Hand liegende Antwort: Oft braucht es den unbestechlichen Blick von außen, um die Binnenwelt in ihrer Eigenart zu erkennen. Die hintergründige Antwort: Wir beide sind hierher gekommen und nicht mehr fortgegangen. Damit haben wir uns ganz unspektakulär zu dieser Landschaft und ihren Menschen bekannt. Mag sein, dass es woanders schöner und aufregender ist. Aber hier lässt sich auch leben, ohne zu verkümmern. Im Gegenteil: Der Westerwald ist eine Welt für sich, in der Menschen zu sich selbst kommen können – auch durch seine Ruhe.
Dableiben
Jede Kultur, besonders eine regionale, braucht einen abgegrenzten Raum und Menschen, die ihn bevölkern und dort bleiben für lange Zeit. Nur dann können sie in der langwierigen Auseinandersetzung mit den landschaftlichen Gegebenheiten besondere Techniken des überlebens, des Anbauens und Bauens und ihre besondere Sprache, den Dialekt, entwickeln, die alle Errungenschaften und Traditionen spiegelt und weitergibt.
Das Wort »Kultur« kommt von dem vieldeutigen lateinischen Verb »colere« = bebauen, pflegen, verehren. Die Römer bezeichneten mit dem Wort also die Bearbeitung des Bodens, das Errichten von Bauten aller Art, das Bewahren der Kenntnisse, Fähigkeiten, Sitten und schließlich den Dank an übergeordnete, hilfreiche Mächte, unter deren Schutz sie sich stellten. Das alles zusammengenommen ergab in den verschiedenen Regionen z. B. unseres Kontinents über die Jahrhunderte das Italienische, das Französische, das Deutsche usw. Und innerhalb der nationalen Kulturgruppierungen entwickelten sich regionale Lebenswelten, in die heute Touristen für eine Zeitlang eintauchen möchten: in die Provence, die Toskana, die Masuren, in den Schwarzwald.
Der Westerwald wurde allerdings lange nicht als Kulturlandschaft und Reiseziel wahrgenommen, als ab dem 19. Jh. mit der Eisenbahn der Massentourismus begann. Er blieb abgelegen. Schon zu Beginn des 20. Jh. versuchte deshalb Leo Sternberg – einer der von uns Porträtierten –, auf die landschaftliche Schönheit und die kulturelle Besonderheit der Gegend aufmerksam zu machen mit dem weithin beachteten Buch »Der Westerwald«. Später bekam diese Region eine zweifelhafte Berühmtheit, als deutsche Soldaten mit »O du schöhöhöner Wehehesterwald« durch Europa marschierten.
Gibt es in diesem Archiv von Lebensläufen bedeutsamer Menschen, die dem Westerwald entsprangen oder hierher kamen, etwas spezifisch Westerwäldisches zu entdecken?
Einst war es August Sander gelungen, in seinen Fotografien der Bauern und Arbeiter die besondere Physiognomie dieser Landschaft sichtbar zu machen. Ihre Gesichter und ihre Körper sind gezeichnet vom Ringen mit harten Existenzbedingungen. Jeder dieser Charaktere hätte eine eigene Biografie verdient. Es sind ja immer die Dagebliebenen als die ersten, die die Grundlagen für alles Spätere schaffen. In ihren eindrucksvollen »Westerwälder Köpfen« mit den tief eingekerbten Zügen ist aber auch schon die Gefahr der Versteinerung zu erahnen, wenn Menschen sich notgedrungen an ihrer engen Welt festklammern oder sich allzu sehr abgrenzen. Genau das aber kann man den Westerwäldern insgesamt nicht vorwerfen, dieser Gefahr der Verhärtung entkamen sie immer wieder.
Fortgehen
Die Menschen dieser Landschaft krallten sich nicht auf Teufel komm raus an ihre Scholle. Immer wenn die Not es verlangte oder die Abenteuerlust sie überkam, sind sie fortgezogen in die weite Welt – wie es so manche der Biografien in diesem Buch beweist.
»Jetzt ist die Zeit und Stunde da,
wir fahren nach Amerika.
Die Wagen stehn schon vor der Tür,
mit Weib und Kind marschieren wir!«
Dieses Auswandererlied des 19. Jahrhunderts haben viele Wäller gesungen. Manchmal ging sogar ein ganzes Dorf nach Amerika, ließ seine Häuser, seine Äcker und seine Geschichte hinter sich.
Nein, die Westerwälder sind keine Hinterwäld(l)er. Sie waren nie bedroht von sprachlicher, kultureller, genetischer Inzucht wie abgeschlossene Alpentäler. Dafür ist ihre Region zu offen und wird durchzogen von vielerlei Fließgewässern und Einflüssen und grenzt an den europäischen Strom, den Rhein. Ihr eigentümlicher, schwer nachzuahmender Dialekt ist eine besondere Melange aus den benachbarten Sprachgebieten, denn die Menschen überschritten oft genug nach allen Seiten den Rhein, die Lahn, die Sieg und die Dill.
Die von uns Ausgewählten sind von diesem Austausch mit der Welt unterschiedlich geprägt: Der Boxer Hussing zum Beispiel wurde geboren, lebte und starb in seinem Dorf Brachbach, kämpfte aber in vielen Ländern; der Bildhauer Wortelkamp kehrte nach Jahren in der Fremde in seine Heimat zurück, um hier sich und sein Werk zur Reife zu bringen; der Regisseur Piscator schleppte sein altes Westerwälder Autokennzeichen bis nach New York mit …
Menschen in ihrer Zeit
über das besondere Individuelle hinaus repräsentieren die ausgesuchten Lebensläufe auch – oft zu unserer eigenen überraschung – geradezu exemplarisch ihre historische Zeit, die gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen. Prinz Maximilian zu Wied zum Beispiel untersuchte fremde Völker mit dem vorurteilsfreien, aufklärerischen Geist des Forschungsreisenden à la Humboldt und trauerte gleichzeitig über den Niedergang der traditionellen Adelsherrschaft in seiner deutschen Heimat nach 1848. Édouard Baldus flüchtete aus dem Dorf Grünebach nach Paris und ließ sich von der Welle der industriellen Revolution und der Erfindung der Photographie mitreißen. Willy Korf aus Hamm an der Sieg, der Star der Stahlindustrie in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, personifizierte einen global orientierten Unternehmungsgeist und musste schließlich erleben, wie gerade sein Typus des ideenreichen Unternehmers mit Privathaftung durch die Global Players verdrängt wurde. Der Gewerkschaftler und Pazifist Hermann Kempf saß in allen vier deutschen Staaten des 20. Jahrhunderts im Gefängnis …
Die Unbekannten
Vor Jahren hatte der Dramatiker Heiner Müller die Idee, ein deutsches Museum zu gründen, in dem das Leben von Unbekannten ausgestellt wird. Per Losverfahren ausgewählte Deutsche sollten in je einer Box ihre Existenz dokumentieren mit Fotografien, überbleibseln wie Strampelanzug, alten Turnschuhen, Autokennzeichen, Briefen und Tagebüchern, Schulzeugnissen usw. Die Museumsbesucher sollten einen tiefen Einblick haben in das besondere Leben aller Einzelnen.
Dieser schöne Gedanke steht hinter unserer Sammlung von Biografien bedeutsamer Westerwälder. Die von uns ausgewählten, namhaften Menschen stehen für all jene anderen nicht prominenten aus diesem Erdenwinkel, die hier gelebt, geliebt und gelitten, gearbeitet und Feste gefeiert haben – für alle Unbekannten also, deren Leben genauso unwiederholbar ist wie das der Berühmten, und für ihre Angehörigen und Freunde ebenso kostbar und einzigartig.
CG