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2. Konfrontation mit der unsichtbaren Wirklichkeit

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Man sollte meinen, das »Böse« habe nun mithilfe der Aufklärung seine klare Platzanweisung erhalten, und nicht nur das »Böse«. Die Verneinung der Welt des Unsichtbaren führte ja unmittelbar zur Einsamkeit des Menschen mit seiner Diesseitigkeit. Alles musste nun irgendwie erklärbar werden.

Es waren nicht erst die beiden großen Weltkriege mit ihren entsetzlichen Auswüchsen des Bösen, die massiv an diesem scheinbar intakten aufklärerischen Weltbild rüttelten. Die Konfrontation mit der unsichtbaren Wirklichkeit war durch alle Zeiten gegeben. 200 Jahre nach der Französischen Revolution, einem Höhepunkt der Aufklärung, haben heute Okkultismus und Religionen aller Art wieder Hochkonjunktur. Unsere Zeit ist nicht nur geprägt von einer nicht enden wollenden Technisierung und radikalen Gottlosigkeit, sondern auch von einer intensiven Suche nach dem verlorengegangenen Jenseits. Mit jedem Triumph der Vernunft ist zugleich auch eine Gegenbewegung geboren. Die Ahnung, dass es da noch mehr »zwischen Himmel und Erde« gebe, ist auch den Menschen unserer Zeit nicht abhanden gekommen. Die kirchliche Theologie schaut dieser neuen Religiosität etwas hilflos zu. Einerseits muss sie sich eingestehen, dass mit der Verbannung der Unsichtbarkeit aus der Theologie die Kirche ungeheuer arm geworden ist. Wenn nicht die christliche Kirche etwas sagen kann zu Engeln, zu Geistwesen; zu Dämonen und Teufel – wer denn sonst? Zum anderen scheuen sich die christlichen Theologen, in eine »unvernünftige« Theologie zurückzufallen; nach wie vor lässt man nur rational Einsichtiges und »Beweisbares« als Lehre gelten. Theologie soll eben auch Wissenschaft sein, und zwar eine Wissenschaft für einen aufgeklärten Denker unserer Zeit.

Wo aber sollen dann die Menschen mit ihrer Suche nach dem Jenseits hin, wenn die christliche Kirche sich geradezu verweigert? Es ist schon auffallend, wie selbst in evangelikalen und pietistischen Kreisen die ganze Welt des Unsichtbaren mehr oder weniger als unwichtig angesehen wird. Man glaubt sich mit dem Wort: Visionen, Engel, Dämonen oder selbst der Heilige Geist sind Dinge, die nicht so gut in dieses von der Aufklärung geprägte Denken passen, in der Hand auf sicherem Terrain! Aber immer wieder hat es auch Denker und Philosophen gegeben, die aus diesem angeblich modernen Denkraster ausscherten.

Einer der ersten, der bei Anbruch der aufklärerischen Zeit von sich reden machte, war der schwedische Naturwissenschaftler Emanuel Swedenborg (1688–1772). Er wurde als Bischofssohn in Stockholm geboren. Als Naturwissenschaftler und Erfinder sowie als Politiker genoss er bereits in jungen Jahren hohes Ansehen. Mit 37 Jahren jedoch beendete er seine Tätigkeit als Wissenschaftler. Er begründete diesen sensationellen Schritt mit einer Christus-Vision, die ihm zuteil geworden sei. Durch weitere Offenbarungen erhielt er Einblick in die »Welt der Geister«. Damit machte er die Redeweise von der jenseitigen Geisterwelt auch in Wissenschaft, Philosophie und Theologie wieder zum Thema.10 Das Denken Swedenborgs übte in der Folgezeit enormen Einfluss aus. So sieht Immanuel Kant den Menschen als »Bürger zweier Welten«, wobei für ihn die wahre Welt die Geisterwelt ist. Zahlreiche Kant-Forscher haben darauf hingewiesen, dass die grundlegenden Themen des Philosophen sich an Swedenborgs Thesen entzündeten.11 Auch Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) ließ sich durch Swedenborg inspirieren. Die Magie, der sich seine Figur Faust ergibt, ist eben der Verkehr mit der Geisterwelt, wie auch Swedenborg ihn pflegte. Für Goethe ist der schwedische Forscher zugleich ein »gewürdigter Seher unserer Zeiten«.12 Ansätze für eine neue Orientierung gab es auch bei pietistischen Lehrern wie z. B. dem schwäbischen Prälaten Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) u. a. Auf die Götterdämmerung zur Zeit der Aufklärung folgte zunehmend eine Dämmerung der Vernunft. Die Religion und damit auch die Hoffnung und Orientierung an einem unsichtbaren Jenseits wurde eben nicht durch eine von Vernunft geprägte Wissenschaft abgelöst; die Kirche erwies sich aufgrund ihrer wissenschaftlichen Verhaftung in der Theologie allerdings auch nicht als der geeignete Gesprächspartner für die neue Religiosität. So blieb der Mensch weitestgehend mit seinen religiösen Erfahrungen allein.

Die hohe Zeit der Psychologie nahm ihren Lauf. Zugleich entwickelte sich eine Art Kult der Humanität, der die Verehrung des Menschen als dem höchsten Wesen verpflichtet war. Selbst das Denken des einstigen sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow steht noch ganz in dieser Tradition. »Wir sehen den Sozialismus als die Gesellschaftsordnung eines echten realen Humanismus an, in welchem der Mensch tatsächlich als das ›Maß aller Dinge‹ auftritt« – so definierte er auf dem Parteitag der KPdSU laut »Prawda« vom 29. Juni 1988 das Ziel der »Perestroika«. Im selben Jahr erklärte seine Partei, dass der Mensch die Religion durch Erziehung überwinden könne und damit die »Hinwendung zum Übernatürlichen nicht vonnöten« sei.13

Gerade der durch die Perestroika ausgelöste Zerfall der sowjetischen Ideologie führte neben der Götterdämmerung auch zu einer Dämmerung der Ideologien. Meiner Meinung nach führte dieser Zusammenbruch ideologischer Systeme zu einem Boom okkulter Religionen.

Die Kleinanzeigen der Tageszeitungen bringen es an den Tag: Esoterik, Wahrsagerei und jegliche Formen okkulter Praktiken sowie die offenkundige Einladung zu Zauberveranstaltungen, Hexenzusammenkünften oder Einführungskurse in meditative Praktiken sind an der Tagesordnung. Im Jahr 2000 bedienten allein 37 deutsche Zeitschriften mit Auflagenhöhen zwischen 10 000 und 60 000 Exemplaren diesen Markt. Laut einer Befragung des Dortmunder Forsa-Instituts glauben 63 Prozent der Männer und 55 Prozent der Frauen in Deutschland an übersinnliche Kräfte und Erscheinungen, das sind 59 Prozent der Gesamtbevölkerung. Einem Bericht der Zeitung »Die Woche« zufolge gab es 2000 in Deutschland rund 6 000 Astrologen, 10 000 Geistheiler und 90 000 Wahrsager, wohingegen die Kirchen insgesamt nur rund 40 000 hauptamtliche Geistliche und Seelsorger beschäftigten.14

Auf Esoterik-Messen suchen unzählige Menschen unserer Zeit den Rückzug in die Innerlichkeit, die mal mehr und mal weniger auch einen Ausflug ins Jenseits ansteuern. Dabei kommt es gar nicht so sehr darauf an, was sich dort in der Innerlichkeit auftut oder welche Art von Kraft mir im Jenseits begegnet. Allein die Tatsache, dass sich durch derartige Begegnungen irgendein Einfluss oder auch eine Verwandlung im Leben zeigt (Transformationen), allein dieses Faktum zählt. Es gehört zur neuen Religiosität, dass sie vagabundiert und sich auf dem Markt der Möglichkeiten umschaut. Die Wahrheitsfrage ist dabei nicht ausschlaggebend, allein das Erleben zählt. Mal ist die übersinnliche Kraft mehr in der Natur oder im Diesseits aufzuspüren, ein anderes Mal sind weite Wege des Zugangs zu gehen. Auch das Bewusstsein für eine differenzierte Wahrnehmung des Jenseits ist nicht sehr ausgeprägt. Das Böse als aktive Kraft wird in esoterischen Zirkeln eher skeptisch gesehen. Erleuchtung oder auch ein »höheres Bewusstsein« erlangt der Esoteriker durch Rituale und Techniken, die von »Meistern« vermittelt werden – denjenigen, die eine geistige Transformation vollzogen haben und ihr Leben im Einklang mit den kosmischen Kräften und Gesetzen meistern. Immer wieder geht es in der Esoterik um diese »göttliche Energie«, die geweckt werden soll.

Grundlegend für diese Praktiken ist die Auffassung, dass es zwischen »Geist« und »Stoff« keine grundsätzliche Differenzierung gibt, sondern lediglich Abstufungen. Geist und Materie sind verschiedene Erscheinungsformen; die Wirklichkeit wird als einziges geistig-energetisches Kraftfeld verstanden, in dem »Entwicklung« möglich ist. Vor allem das Zauberwort »Energie«, die Vorstellung von einer den ganzen Kosmos durchdringenden »Lebensenergie« fasziniert viele Menschen.

Eine derartige Vorstellung liegt auch dem Yoga zugrunde. Durch bestimmte unsichtbare »Energie-Zentren« (Chakren) kann der Mensch Lebenskraft aus dem Kosmos aufnehmen und auch einsetzen. Der Einfluss des Yoga auf nahezu alle esoterischen Zirkel der Gegenwart sowie auf die Mitte der 1960er Jahre entstandenen New-Age-Bewegung ist unübersehbar.

Während in vielen esoterischen Kreisen das Interesse näher am Zugang zu dieser Energie und an ihren Auswirkungen liegt, ist im Okkultismus ein größeres Interesse an der Quelle der Energie zu entdecken. Dennoch sind die Grenzen zwischen Esoterik und Okkultismus nur schwer zu ziehen. Hans-Jürgen Ruppert spricht von einem »esoterischen Okkultismus«:

»Schon von der Wortbedeutung her ist ›Okkultismus‹ eng mit dem Begriff ›Esoterik‹ verwandt. Das griechische Wort esoteros (= ›innerlich‹, ›verborgen‹) entspricht dem lateinischen occultus. Dieser Begriff bezieht sich vor allem auf die Geheimhaltung des okkulten Wissens und auf dementsprechende Praktiken und Rituale, wie sie seit jeher in Geheimbünden gepflegt werden. In der Antike bezeichnete man als occulta die Geheimnisse, die in den Mysterien überliefert wurden.«15

Die weltanschauliche Grundauffassung ist in der Esoterik und im Okkultismus gleich: Es geht um eine monistische Auffassung der Wirklichkeit; sichtbare und unsichtbare Welt korrespondieren miteinander. Die transzendente Wirklichkeit wird entweder als eine Art »kosmische Energie« verstanden oder sie wird wiederum unterteilt in anrufbare Mächte, die auch personhaft sein können. Das gesamte Spektrum ist geradezu unübersichtbar. Kurt Hutten, der frühere Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, unterschied vier Kategorien von Okkultismus, die er als »Okkultkonfessionen« bezeichnete:16 den Spiritismus, die Astrologie, die esoterisch-gnostischen Weltdeutungen (Theosophie, Anthroposophie, moderne Rosenkreuzer) und die Ufologie. Als fünfte Okkultbewegung sieht Hans-Jürgen Ruppert die seit den 1960er Jahren in den USA entstandenen New-Age-Bewegungen an. In all diesen Bewegungen geht es immer mehr oder weniger um die Frage, wie man an Wissen und Informationen oder auch Kraft, Energie und Macht aus der unsichtbaren Welt gelangt. Diese Wissens- und Kraftenergien können dann in unterschiedlicher Weise gesteuert oder auch eingesetzt werden.

Der gegenwärtige Boom des Übersinnlichen ist schwer zu erfassen, da es so gut wie keine klaren Definitionen und Zuordnungen gibt. Geister, Mächte und Energien stehen nebeneinander; religiöse Sprache macht sich breit; Religionsstifter und »große Geister« stehen nebeneinander. Die spezifischen okkulten Praktiken, mit denen der Zugang zum Übersinnlichen geschafft werden soll, können vielfach noch klar definiert werden. Geradezu verbreitet sind die populären Formen wie Handlesen, Tisch- und Gläserrücken oder auch das Auspendeln von Botschaften. Immer beliebter werden auch die unterschiedlichen Formen des Spiritismus. Der Versuch, mit verstorbenen Menschen Kontakt aufzunehmen, um so »Botschaften« aus dem Jenseits zu erhalten, hat sich bis in hohe Bildungsschichten und Regierungskreise einiger westlicher Nationen verbreitet. Für einige ist der Einfluss gewisser Popgruppen, die mit ihrer Musik bewusst Satan verherrlichen wollen (z. B. Black Sabbath, Black Widow, Tyrannosaurus Rex oder andere Gruppen des Black Metal) nicht zu unterschätzen. Für immer mehr Menschen werden diese Praktiken zu einem Einstieg in das ganze Feld des Satanismus. Die Anhänger des Satanskultes heutiger Prägung mischen in ihren Riten religiöse Satanszeremonien mit sexuellen und okkulten Praktiken, die ausdrücklich im Namen Satans ausgeübt werden. Wieviele solcher organisierter Satanskulte es im deutschsprachigen Raum inzwischen gibt, ist nicht erfasst; die Zahl und Aktivität scheint jedoch zu steigen.

Wenn schon die Beschreibung der ganzen Szene des Okkulten schwierig ist, so ist die Deutung der unterschiedlichsten Praktiken und Aktivitäten um so schwieriger.

Obwohl der moderne Okkultismus in seinen unterschiedlichen Formen geradezu als Ersatzreligion der Postmoderne anzusehen ist, ist immer noch der Versuch verbreitet, diese okkulte Religiosität als Humbug oder Schwindel beiseite zu schieben. Die stärkste Ablehnung in diesem Sinn ist jedoch weniger bei Natur- und Geisteswissenschaftlern zu finden, sondern bei den Pädagogen der Nachkriegszeit, die ihr Weltbild weitestgehend noch in aufklärerischer Naivität besiegelt sehen wollen. Auch Kriminologen oder Zauberkünstler wehren sich gegen die Feststellung, dass es zwischen Himmel und Erde auch Phänomene gibt, die aufgrund von okkulter Kraft zustande kommen. Menschen, die so etwas für real halten, werden dann schnell als krank oder religiös verdreht eingestuft.17

Für den einen mag jegliche übersinnliche Erfahrung schon in den Bereich des Okkulten gehören; für den anderen ist eine Differenzierung hilfreich: Nicht alles, was übersinnlich ist, ist zugleich auch dämonisch und satanischen Ursprungs. So geht man in der Parapsychologie davon aus, dass viele übersinnlichen Erfahrungen zunächst auch völlig wertfrei erfassbar und erfahrbar sind. Reinhard König differenziert zwischen dem eigentlich Okkulten (Verborgenen) und dem Dämonischen und warnt vor einer Gleichsetzung.18 Wo aber liegen die Grenzen? Ab wann wird Okkultes zum Dämonischen? Unbestritten mag es eine ganze Reihe übersinnlicher Erfahrungen geben, die weder gut noch böse sind, die – anders ausgedrückt – nicht ideologisch besetzt und gedeutet werden müssen. Dennoch sind die Grenzen sehr schwer zu ziehen.

In dieser Popularisierung und Verharmlosung des Okkulten liegt eine große Gefahr. Das Feld der Parapsychologie erstreckt sich ja durchaus bis in die Bereiche der Magie und des Spiritismus. Wer meint, auf diesem Terrain als neutraler wissenschaftlicher Beobachter zu fungieren, täuscht sich in den meisten Fällen. Das Okkulte erweist sich eben in vielen Fällen als »der Okkulte«, als Satan mit einer attraktiven Maske.

Jeder, der heutzutage wachen Auges die geistesgeschichtliche Entwicklung in Europa verfolgt, wird eingestehen müssen, dass die Konfrontation mit den verschiedensten Formen und Ausprägungen der Esoterik sowie die zunehmende Verbreitung des modernen Okkultismus die Frage nach einem zukunftsfähigen Weltbild neu aufgeworfen hat.

Zudem wird von einer ganz anderen Seite die Auseinandersetzung mit der so genannten unsichtbaren Welt gefordert: Seit etwa fünf Jahrzehnten berichten Christen unterschiedlichster Konfessionen verstärkt von übersinnlichen Erfahrungen. Da es hierbei auch vielfach um Erlebnisse im Zusammenhang mit den Geistesgaben geht, sprechen wir auch von der »charismatischen Bewegung«. Gegenwärtig zählen sich etwa 600 Millionen Christen weltweit zu dieser Frömmigkeitsrichtung. Sie umspannt sowohl Christen in den bekannten großen Denominationen als auch in einer Vielzahl unabhängiger Gemeinden und Hauskirchen.

Es ist Aufgabe der Kirche und der Theologie, diese Erfahrungen zu deuten und zu einem biblisch fundierten Umgang damit zu verhelfen. Auf keinen Fall dürfen übersinnliche Erfahrungen einfach als ein Relikt mittelalterlichen Aberglaubens abgetan oder ignoriert werden. Die Welt, in der sich der heutige Mensch befindet, ist auch eine Welt mit übersinnlichen Erfahrungen.

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